Bügelfalten
Ich öffnete die Haustür und starrte auf eine ausgestreckte Hand, die eine Visitenkarte hielt.
„Guten Morgen, Herr Gaupp, Phillip Fischer von der Morgenpost. Wir waren für 10 Uhr verabredet."
„Gewiss, kommen Sie herein.“ Wir setzten uns an den Kamin. „Was ist das für eine sonderbare Serie, die Sie da veröffentlichen? Und wie heißt sie nochmal?“
„Sie erscheint im Feuilleton-Teil einmal im Monat, und ihr Titel ist: ‚Prominente blicken zurück´. Dazu befragen wir angesehene Bürger im Landkreis und bitten Sie, eine möglichst ungewöhnliche Erfahrung, eine spannende Begebenheit … oder etwas total Verrücktes preiszugeben, wenn ich das mal so sagen darf.“
„Etwas total Verrücktes?“ Ich überlegte, und mein Gegenüber wartete geduldig. „Ja, das können Sie haben. Es gibt da wirklich etwas in meinem Leben.“
Fischer stellte ein kleines Micro auf und sah mich an. „Das erspart mir das Schreiben. Sie bekommen einen Korrekturabzug vor Drucklegung.“ Er schaltete ein, ein rotes Lämpchen leuchtete auf.
*
Ich erinnere mich noch ganz genau: Das Elend meines besten Freundes begann mit seiner Geburt. Seine Eltern nannten ihn Thaddäus. Im 19. Jahrhundert kein ungewöhnlicher Name, aber heute für jeden Jungen eine Herausforderung. In der Schule, beim Spielen, in Gesellschaft mit Mädchen. Er wohnte in dem Haus gegenüber, und als wir soweit waren, dass uns unsere Eltern zum Spielen allein aus dem Haus ließen – es war Anfang der sechziger Jahre, wir waren noch nicht einmal sechs Jahre alt -, wurden wir schnell Freunde. Wenig später nannte ich ihn Teddy, was nicht korrekt war, aber phonetisch mit der Verniedlichung von Thaddäus fast übereinstimmte. Er war mir unendlich dankbar, dass ich ihn von seinem schrecklichen Vornamen befreit hatte. Dennoch war Teddy häufig Opfer von Schmähungen und Verhöhnungen, vor allem, wenn es zum Streit kam oder seine Mitschüler ihn einfach nur hänseln wollten.
Mit dem neuen Rufnamen habe ich seine Mutter aufgebracht. Sie war nicht bereit, irgendetwas, was mit den USA zu tun hatte, zu akzeptieren, und verbot mir, ihren Sohn mit diesem destruktiven Yankeenamen, wie sie ihn nannte, anzusprechen.
Überhaupt die Mutter: Sie dominierte den Sohn, den Vater, die Nachbarn, den Bäcker und wahrscheinlich noch einige andere. Und das in allen Lebenslagen. Dabei wandte sie sich, erzkonservativ wie sie war, grundsätzlich gegen alles Moderne: Kleidung, Verhaltensweisen, Tischmanieren, Musik, Speisen und die Abkehr von der Religion.
Meinem Freund Teddy war die Haltung seiner Mutter extrem peinlich, ja, er schämte sich für sie. „Wenn sie es nur nicht immer so übertreiben würde“, beklagte er sich des öfteren. Was ihn am meisten belastete, waren ihre altmodischen Ansichten, was seine Kleidung betraf. Seine Mutter steckte ihn in die Mode von vorvorgestern, und um diese ein wenig aufzupeppen, griff sie auf eine Art und Weise ein, die Teddy schon in jüngsten Jahren, etwa mit zehn, in den Wahnsinn trieb: Sie versah seine längst aus der Mode gekommenen Hemden und Hosen mit einer unübersehbaren, besonders ausgeprägten Bügelfalte. Eine Einmaligkeit an der Schule. Ja, das tat ihm weh, und er konnte sich nicht dagegen wehren.
Während alle Jungs von der Sexta bis zur Prima mit Jeans und ähnlichen Hosen, damals Röhrenhosen genannt, und in T- und Sweatshirts herumliefen, wurde Teddy in ein Hemd mit eingebügelten Falten in den Armen und - natürlich – Bügelfalten in den extra weiten Jeans in die Schule geschickt.
Der Psyche meines Freundes Teddy tat das auf Dauer überhaupt nicht gut, und er schämte sich über die ganze Schulzeit hinweg, immerhin anderthalb Jahrzehnte. Am meisten hatten es ihm die Bügelfalten in den Hosen angetan, und als es in der letzten Klasse vor dem Abitur zu Kontakten mit den Mädchen vom Lyceum kam und seine Bügelfalten immer mal wieder Stoff für die eine oder andere lustige Bemerkung lieferten, brach für ihn endgültig eine Welt zusammen. In dieser Vor-Hippieperiode der Endsechziger und der 68er war der Kontakt zum anderen Geschlecht so leicht wie nie zuvor, und so gut wie jeder Mitschüler hatte seine Flamme, mit der er über Wochen, manchmal monatelang ging. Diese lockeren Beziehungen funktionierten sogar bei den weniger attraktiven Schülern, nur bei Teddy nicht. Das Resultat war, dass er der Einzige war, der es nicht schaffte, eine längere und vor allem intime Freundschaft mit einem Mädchen einzugehen. Wir näherten uns dem Abitur, und Teddy kämpfte nicht nur mit den Prüfungsvorbereitungen, sondern auch mit einer Psychose. Sie hieß Bügelfalten und versetzte ihn in einen unkontrollierbaren, depressiven Zustand.
Einen qualvollen Höhepunkt der Scham erlebte er auf der letzten Klassenfahrt. Wir schliefen gemeinsam in der Jugendherberge in einem riesigen Schlafsaal. Kurz vor zehn -wir lagen schon alle im Bett – trommelte uns unser Klassenlehrer noch einmal zusammen, um uns über die Hausregeln aufzuklären, weil im gegenüberliegenden Trakt der Herberge eine Mädchengruppe untergebracht war. Da standen wir in Reih‘ und Glied: manche in Unterhosen, andere in Sporthosen, damals Turnhosen genannt, und Teddy im Schlafanzug mit Bügelfalte. Als einer der Mitschüler ihn fragte, ob er heute noch ausgehen wolle, brach die ganze Klasse in ein Kichern aus. Meinem Freund Teddy standen die Tränen in den Augen.
*
Nach der Abi-Feier setzten wir uns zusammen, um Pläne für die Zukunft zu schmieden. „Beibt’s dabei, was wir uns vorgenommen haben? Sechs Semester Uni Kiel, weit weg von unseren Eltern. Vielleicht sogar die Olympiade miterleben, Strandleben an der Ostsee, ein bisschen segeln, Abstecher nach Dänemark …“ Ich versuchte, ihm die Sache schmackhaft zu machen. „Du bist weit genug von deinen Alten weg, und niemand pfuscht dir in irgendetwas hinein. Da kannst du doch gar nicht nein sagen.“
„Ich würde ja gern, aber ich muss trotzdem meine Eltern fragen. Die müssen’s ja finanzieren“, gab er zu bedenken.
„Und wenn sie nein sagen, gehst du trotzdem. Da wird in den Ferien halt gejobbt. Außerdem bin ich auch noch da.“
„Okay, ich frag sie.“
Wir haben uns zwei Tage nicht gesehen, weil ich mit meiner Freundin unterwegs war. Am dritten trafen wir uns auf ein Weizen im Biergarten der Promenade am Fluss, das in den letzten Wochen Treffpunkt der ganzen Klasse war. Als Teddy über den kiesigen Boden an meinen Tisch schlurfte, hing ihm die Kinnlade bis aufs Brustbein.
„Was ist los, Mann?“ Ich schaute ihn erwartungsvoll an und sah, dass er wieder diese gebügelte Leinenhose trug. Ich fragte mich gleich, wie seine Mutter diese Bügelfalten hinbekommt. Meine Klamotten aus Leinen sehen alle aus, als kämen sie frisch aus dem Wäschepuff.
„Ist doch alles Scheiße!“, jammerte er. „Was meinst du, was die mit mir vorhaben?“
„Sie planen dein Leben?“, tat ich erstaunt.
„Genau so ist es. Mein Vater will mich in seiner beschissenen Schuhfabrik zum Juniorchef machen. Ich kann es ihm nicht einmal verdenken. Seit er bei dem Unfall damals den Arm verloren hat, quält er sich mit Phantomschmerzen herum. Kann gut verstehen, dass er mich einarbeiten will, dass er bald in den Ruhestand …“
„Schade Teddy, hätte dich gern bei mir gehabt. Sechzehn Jahre beste Freunde … hätte nicht gedacht, dass wir uns einmal so trennen.“
„Is aber so.“
Wir tranken unser Bier aus und gingen nach Hause. Am übernächsten Tag bin ich von Reutlingen nach Kiel gefahren, um mich um ein möbliertes Zimmer zu kümmern. Auf der Suche lernte ich eine Frau kennen, mit der ich bis auf den heutigen Tag zusammen bin. Nach Hause fuhr ich nur noch einmal, um meine alternden Eltern zu besuchen. Das war eine Gelegenheit, mit Teddy zu sprechen.
Ich besuchte ihn in der Schuhfabrik seines Vaters. Als Juniorchef hatte er ein passabel eingerichtetes Büro und ein Vorzimmer mit Sekretärin. Auf den ersten Blick nicht schlecht, dachte ich in echter Anerkennung, aber als ich dann mit ihm auf einen Kaffee in den Besprechungsraum ging und sah, wie er versuchte, hinter mir zu gehen, um seine Hose „zu verstecken“, wurde mir aufs Neue klar, dass er die Sache mit den Bügelfalten immer noch nicht überwunden hatte. Im Gegenteil: Jetzt kam auch noch eine Krawatte hinzu. Warum nur stellt er sich nicht auf eigene Füße, fragte ich mich. Für mich war klar, die Mutter quälte ihn mit ihrem Bügelfimmel wie eh und je.
*
Viele Jahre später, ich hatte längst mein Studium abgeschlossen und arbeitete auf der Führungsebene einer Maschinenbaufirma, hat mir mein Chef nach sehr hektischen Wochen einen Zwangsurlaub aufgebrummt. Zur Kontemplation, sagte er und nahm mir mein Firmenhandy ab. „Ich habe für dich zehn Tage in einem Kloster gebucht. Die Mönche sind verpflichtet, jeglichen Stress von dir fernzuhalten. Ruh dich aus und komm mit einem klaren Kopf und frischer Energie wieder. Widersprich mir nicht.“ Er griff in eine Schublade seines Schreibtisches und holte ein Bahnticket hervor. „Sag jetzt nichts, deine Frau weiß Bescheid. Sie befürwortet meinen Vorschlag.“
Ein Klosterurlaub war eigentlich das Letzte, was ich mir gewünscht hatte, aber als ich die ehrwürdigen Mauern betrat, fühlte ich mich ein bisschen wie in eine andere, eine friedlichere Welt versetzt: die karg eingerichtete Stube mit einem Bett, einem Tisch mit Stuhl und ein Kleiderschrank, dazu eine Nasszelle mit Waschbecken, Dusche und Spiegel, vergleichbar mit einem Zimmer im Hospital. All das war eindeutig etwas zu wenig für meine Ansprüche, aber ein bisschen Zurückhaltung war wohl Teil des Programms.
Auf dem Tisch lag ein Folder, in dem die Regeln und die Angebote des Hauses aufgelistet waren. Yoga, Meditation, Einführung in die Welt der Heilkräuter, Wein- und Schnapsherstellung, Flechten, Schnitzen, Malen etc. Das Programm rettete meine Stimmung.
Nach einer Stunde wurde zum Abendessen gerufen. Fünf weitere Gäste und ich setzten uns an den langen Tisch, neben uns und gegenüber Mönche in ihren braunen Kutten. Sie beachteten uns kaum und redeten mit uns nur, wenn sie angesprochen wurden.
Das Essen war gut, die Ruhe erholsam und das unaufdringliche Miteinander mit den Mönchen eine Wohltat. Ich nutzte das gemeinsame Essen und die Veranstaltungen, um die Menschen um mich herum zu studieren, versetzte mich in die Position eines neutralen Beobachters und verglich das Verhalten der Mönche mit dem der Mitreisenden Dabei gewann ich wichtige Erkenntnisse über mich selbst. Aber darüber möchte ich hier nicht berichten. Dafür über etwas anderes: Am vorletzten Tag traf ich im Hof einen Mönch, der Teddy zum Verwechseln ähnlich sah. Ich war regelrecht erschrocken und so ergriffen, dass ich die ganze Nacht kein Auge zubekommen habe. War das eine Sinnestäuschung? Eine Halluzination? Das Ergebnis von einer Woche asketischen Lebens? Die Sache ließ mich einfach nicht los, und deshalb beschloss ich, einen der älteren Mönche zu fragen.
„Thaddäus, sagen Sie? Nein, einen Bruder Thaddäus haben wir hier nicht. Haben wir auch früher nicht gehabt. Bin ja nun schon über fünfzig Jahre hier.“ Der alte Mann klang glaubwürdig. Seine Antwort beruhigte mich, aber nur für einen Moment. Dann entschied ich, den besagten Bruder selbst anzusprechen.
Am Abend vor meiner Abreise sah ich ihn den Gewölbegang entlanggehen. Ich ging mit hastigen Schritten auf ihn zu. Als ich fünf Meter hinter ihm war, wollte ich ihn auf mich aufmerksam machen und rief in geringer Lautstärke „Teddy?“. Er blieb sofort für eine Sekunde stehen, lief dann aber weiter, als hätte er nichts gehört. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihn zu überholen und mich vor ihn aufzustellen.
„Entschuldige, Bruder, ich … Teddy!? Das bist du doch!“
Er wollte an mir vorbeigehen.
„Bitte bleib stehen.“
Er blieb stehen, und ich sah, dass er es ungern tat.
„Ich wusste nicht, dass du dich den Franziskanern angeschlossen hast. Deine Mutter wollte mir nicht sagen, wo du abgeblieben bist. Wie geht es dir?“
„Mir geht es gut, Rainer. Ich habe hier meine Erfüllung gefunden. Du hast dich hier bei uns hoffentlich gut erholt?“
„Warum hast du dich für ein Leben hinter Klostermauern entschieden?“, fragte ich etwas provozierend. „Was ist passiert?“
Er schaute mich mit stoischem Gesichtsausdruck an. „Darüber möchte ich nicht sprechen. Ich bin sehr glücklich hier. Es gibt nichts, was ich bereue.“
„Hast du dich so sehr mit deiner Mut …“
„Darüber möchte ich nicht sprechen. Reist du morgen ab?“
„Ja, mein Zug geht sehr früh.“
„Dann – alles Gute. Ach, eine Bitte habe ich: Bitte sag niemandem, dass du mich hier angetroffen hast. Ich möchte nicht, dass mein Seelenfrieden gestört wird.“ Er gab mir die Hand, drehte sich um und ging weiter.
Ich schaute ihm nach und begriff die Welt nicht mehr. Da ging er nun, die braune Kutte verdeckte seinen spindeldürren Körper mit den schmalen Schultern. Die Füße steckten barfuß in Sandalen, und sein schwerfälliger Gang ließ vermuten, dass er eine zentnerschwere Last auf seinen Schultern trug.
Am anderen Morgen begleitete mich im Zug die Begegnung vom Marienkloster im Bayerischen Wald bis nach Frankfurt. Ich kam einfach nicht darauf, warum er sein altes Leben aufgegeben hatte. Dann fand ich endlich die Erklärung.
„Haben Sie sie auch gefunden, Herr Fischer?“