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- 07.07.2007
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Bützow
Die Bäume bogen sich im eiskalten Nordwind. Die Fensterscheiben zitterten. Der Ofen in der Ecke pumpte dicke, heiße Luft ins Zimmer. In der ganzen Wohnung duftete es nach Kartoffeln und Rotkohl, nach Ei und russischen Zigaretten.
Der kleine Robert hockte auf einem Stuhl am Fenster der Wohnstube. Die Ellbogen auf dem Fensterbrett, das Kinn auf die Hände gestützt beobachtete er die Straße vor dem Haus und wartete. Wartete seit etwa einer Stunde. Wie er jeden Tag auf den Vater wartete. Auf dessen blauen Wartburg, der in die Straße vor dem Haus einbog und dann die Einfahrt hinaufkam. Auf das Lächeln des Vaters und das kurze Winken, wenn er ausgestiegen war und den Sohn am Fenster warten sah. Darauf, dass der Vater sich die Uniform zurechtrückte und, mit der immer gleichen Akribie, die weiße Mütze mit dem kurzen, schwarzen Schirm auf den Kopf setzte.
Für gewöhnlich sprang Robert dann von seinem Stuhl, peste durchs Wohnzimmer und den Flur, während er immer wieder rief: „Papa is da! Papa is da!“ und die Bitten seiner Mutter, die den Kopf aus Küchentür gesteckt hatte und sagte: „Nicht so schnell!“, die überhörte er in der Regel. Dann riss er die Tür auf, hüpfte auf das Geländer und rutschte dem Vater entgegen, der ihn eine Treppe weiter unten mit offenen Armen erwartete, ihn auffing und an sich presste, seinen Lockenkopf tätschelte und Dinge sagte wie: „Na, Großer, warst auch hübsch artig?“ Worauf Robert, vor freudiger Erwartung plötzlich stumm geworden, nur noch ein heftiges Nicken zustande brachte, was seinem Vater ein Lachen entlockte, das so rau und herzlich klang wie ein Herbsttag auf Hiddensee. „Na denn“, sagte der Vater, „wolln wir doch ma sehn, was ich hier in der Tasche hab. Glupschaugen zu und Hände ausgestreckt!“ Tja, und nur Augenblicke später lag irgendeine Kleinigkeit in Roberts Händen. Eine Münze. Ein Kugelschreiber. Eine Zinnfigur. Oder eine Tafel Bambina-Schokolade. Und mit diesem neuen Schatz rannte er die Treppe wieder hinauf, in die Wohnung, durch den Flur, hin zu seiner Mutter, der er atemlos und mit strahlenden Augen präsentierte, was der Vater ihm mitgebracht hatte. „Schön“, pflegte die Mutter zu sagen. „Und jetzt geh und wasch dir die Hände.“ Was Robert, nicht ohne seinem Unmut durch ein kurzes Verdrehen der Augen Ausdruck zu verleihen, auch tat.
Dieses Mal jedoch wartete er vergeblich. Unerbittlich rückte die Zeit des Abendessens näher. Zusehends hielt die Dunkelheit Einzug. Lichter wurden angeschaltet. In einem Fenster auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah Robert seinen besten Freund Markus, der mit seiner Mutter ‚Mensch ärgere dich nicht’ spielte. Gleich darüber erkannte er Frau Platow, die allein vor dem Fernseher saß und eine Stulle aß. Zwei Fenster weiter rechts drohte Tante Magda, eine Freundin seiner Mutter, ihrem Mann mit einem Besen. Doch von seinem Vater war weit und breit nichts zu sehen.
„Warum sitzt du denn hier im Dunkeln?“ fragte seine Mutter und betätigte den Lichtschalter.
Robert kniff die Augen zusammen, antwortete aber nicht. Vielmehr betrachtete er sein zitterndes Spiegelbild im Fenster.
„Kommst du? Das Essen ist fertig.“
„Nein!“ erwiderte er lauthals und fügte, leiser und wie zu sich selbst, an: „Wir müssen auf Papa warten.“
Die Mutter seufzte. Sie durchquerte das Zimmer und blieb neben Robert stehen. Dann strich sie dem Sohn übers Haar.
„Ich hab’s dir doch erklärt“, sagte sie. „Na, komm schon. Es gibt Stampfkartoffeln mit Ei, das magst du doch so gerne.“
„Nein, nein, nein!“ schrie Robert und schlug die Hand der Mutter fort. „Wir müssen warten! Wir müssen! Wir ...“ Tränen erstickten ihm die Stimme.
„Nun wein doch nicht“, flehte die Mutter, selbst den Tränen nah, und versuchte den Sohn in ihre Arme zu schließen. Doch der schlug mit seinen kleinen Fäusten um sich und schrie und zeterte, als ginge es um sein Leben. Ihr blieb nichts anderes übrig, als einen Schritt zurück zu machen und hilflos, starr mit anzusehen, wie Robert vom Stuhl rutschte und ins Schlafzimmer rannte, die Tür hinter sich zuschlagend. Sie zuckte zusammen. Die Starre löste sich.
Sie schlich hinüber zur Schlafzimmertür und lauschte. Die Kehle schnürte sich ihr zusammen und das Herz wurde ihr schwer. In einer ohnmächtigen Geste legte sie eine Hand an die Tür. Sie schloss die Augen. Und nichts hielt sie mehr. Kraftlos sank sie in sich zusammen und begann zu weinen. Schluchzte und schniefte und murmelte immer wieder, beinahe lautlos:
„Ich werde warten.“