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Badeschaum
Der Wasserhahn tropft.
Dort, wo er in die spiegelglatte Oberfläche eindringt, verdrängt er den Spiegel in konzentrischen Kreisen. Die Glätte des Spiegels weicht einer sanften Turbulenz. Dampf steigt auf. Der Dampf zeigt die gleiche Turbulenz. Nichts steht still. Alles bewegt sich.
Früher mochtest Du die schlängelnden, sich windenden Bewegungen des Wasserdampfes. Hast Deine Beine aus dem Wasser gehoben, um so sehen, wie der Dampf von der Haut aufsteigt. Erinnerst Du Dich?
Du versuchtest, den Schaum von der Oberfläche unter Wasser zu ziehen und zu ersäufen. Und manchmal, wenn Du Deine kleinen Fäustchen ganz fest geschlossen hattest, gelang es Dir sogar.
"Kaltblütig: 7-Jährige ertränkt Badeschaum" – eine wirklich dramatische Schlagzeile. Vermutlich hätten die Leute die Zeitungen massenhaft gekauft, wenn sie es gebracht hätten. Ertrinkender Badeschaum.
Jetzt liegst Du nur da und beobachtest den Schaum.
Sieh nur die Fantastilliarden kleiner Oberflächen, in denen es ölig glänzt. Genau wie die Pfützen an den Tankstellen. Oder das Seifenblasenzeug, mit dem Du als Kind gespielt hast. Die anderen Kinder haben sich gefreut, wenn Tausende von Seifenblasen durch die Luft segelten. Hast Du nicht damals schon gedacht, dass sie Trottel sind? Sie lachten über farblose, durchsichtige Kugeln in der Luft, dabei lag es doch auf der Hand, dass die Schönheit einer Seifenblase in ihrer Oberfläche steckt. Sie dachten: eine Seifenblase ist eine Seifenblase ist eine Seifenblase. Aber das war so falsch.
Die Kinder sahen die bunten Schlieren nicht.
Du dagegen hast die kleine Seifenhaut gar nicht erst aufgepustet. Du hast sie in der Plastiköse gelassen und Dir die flirrenden Muster in ihr angeschaut. Dabei bemerktest Du, dass die bunten Wirbel sich sehr langsam bewegten, wenn die Seifenhaut noch frisch war. Je dünner die Haut wurde, desto schneller flogen die Wirbel in der Öse hin und her – gerade so, als würden sie versuchen, dem Unausweichlichen, nämlich dem Platzen der Seifenhaut in der Öse, zu entkommen. Man merkte, dass die Seifenhaut schlecht wurde, wenn sich plötzlich farblose Flecken unter die bunten Schlieren mischten und sie zu verdrängen versuchten. Die bunten Wirbel wurden schneller, immer schneller.
Du fandest schon damals, dass sie hysterische kleine Tröpfe waren. Schließlich wurden sie von den farblosen Flecken geschluckt und die Haut platzte. Und so hatte sich ihre Hysterie letzten Endes immer gelohnt, nicht wahr?
Manchmal hast Du aber auch nur in die Seifenhaut geschaut und Dich gefragt, was hinter den Wirbeln war. Du hattest Dir nämlich folgendes überlegt: Was nun, wenn die jeweilige Schliere etwas anderes verbarg? Was nun, wenn diese Farben Fenster waren? Ins Universum, zum Beispiel. Wie kleine Gucklöcher. Du erinnerst Dich doch?
Fragst Du Dich das immer noch? Ach, was frag ich – natürlich fragst Du es Dich nicht mehr. Heute sind andere Dinge wichtig für Dich. Das Bezahlen der Miete. Im Beruf nicht zu versagen. Form wahren. Heute findest Du die Schlieren beängstigend. Genau wie den Dampf. Warum? Weil er Dich an das erinnert, was in Deinem Kopf ist? Weil dieses unkontrollierbare Chaos aussieht wie Dein Inneres? Weil Du Angst davor hast, von den farblosen Flecken gefressen zu werden? Lauf nur, lauf. Versuch', den Flecken zu entgehen. Aber Du bist wie einer von den Wirbeln. Du weißt, dass Du nicht entkommen kannst. Du weißt, dass sie Dich eines Tages bei lebendigem Leib fressen werden. Die ersten sind schon bei Dir angelangt. Du kannst ihnen den Triumph lassen und farblos gehen. Oder Du nimmst Deine ganze Kraft und springst aus der Seifenhaut.
Zugegeben: was dann mit Dir wird, weiß keiner. Vielleicht wirst Du unsichtbar für die anderen. Vielleicht sieht keiner Dich je wieder. Die farblosen Flecken auch nicht. Du musst zugeben, dass das ein Vorteil wäre.
Es ist heiß. Dein Gesicht ist ganz rot. Deine Wangen glänzen. Vom Schweiß.
Sieh die kleinen Seifenblasen in Deinem Badeschaum. Der Schaum wird immer weniger. Das sind die farblosen Flecken und Du weißt es.
Spring, kleiner Liebling, spring jetzt.