Bahnhof
Bahnhof
Seine zitternde Faust umschloss den Fetzen Thermotransferpapier, der soeben sein Schicksal besiegelt hatte.
Verdammt! Ein todsicherer Tipp! Ha! Und diese Idioten lassen sich in der Nachspielzeit noch den Sieg nehmen. Ein beklemmendes Gefühl stieg in Max auf. Er hatte es ihr versprochen. Nie mehr Wetten. Nicht noch mehr Schulden. Und jetzt hatte er das Geld für die Schulbücher seiner Tochter verspielt.
Du Idiot! Du herzloser Mistkerl!
Seine Frau hatte fast ihren gesamten Schmuck, auch den ihrer Eltern, versetzt, um seine Schulden zu bezahlen. Den letzten Rest Bargeld hatte sie ihm gegeben, zusammen mit ihrem ganzen Vertrauen. Beides hatte er nicht verdient. Diese Erkenntnis stach brutal in sein Herz.
Tu einmal etwas Gutes für die beiden!
Er hatte schon den perfekten Plan. Sie würden ihn los sein und hätten wieder Geld. Es musste nur wie ein Unfall aussehen. Mit grimmiger Entschlossenheit stapfte er seinem letzten Sonnenuntergang entgegen. Vor dem glutroten Ball zeichnete sich die Silhouette des Hauptbahnhofs ab. Wie zum Hohn fing es nun auch noch zu nieseln an.
Oh Mann. In diesem scheiss Kaff kam man ja vor Langeweile um. Es war grade mal kurz nach sechs Uhr abends. Marvin trat mit den Füssen in den schmutzigen Sand und stiess sich etwas ab. Dann liess er sich hin und her schaukeln. Auf der Kinderschaukel neben ihm hockte sein Kumpel Fatil, der gerade mit Wucht seine leere Bierflasche auf die Rutsche vor ihnen donnerte. Zufrieden hörte er das Splittern.
„Hey, es fängt zu pissen an. Gehen wir in den Bahnhof und treten ein paar von den blöden Pennern.“
Er sprang von der Schaukel und ging zu den Scherben seiner Flasche. Sorgfältig schob er Sand und Scherben mit den Schuhen zusammen, bis kein Splitter mehr zu sehen war.
„Mit etwas Glück tut sich so ein blödes Balg richtig weh!“
Lachend verliessen die beiden den ansonsten menschenleeren Kinderspielplatz.
Ken beobachtete seine Wohnungstür, die sich gerade leise wieder schloss. Endlich waren diese Fanatiker weg. Fast zwanzig Minuten hatten sie ihm irgendeinen idealistischen Blödsinn von Ehre, Glauben, Reinheit und Blutrache erzählt. In seinen Augen waren das alles nur Idioten. Lächelnd wandte er sich um und dachte an den einzigen Grund, warum er diesen Auftrag angenommen hatte. Geld. Auf dem Wohnzimmertisch lag der Schlüssel zu einem Schliessfach am Bahnhof. Nur zwei Dinge lagen darin. Eine Tasche mit zwei Millionen Euro und eine Tasche mit genug C4 für ein weltweites Medieninteresse. Ken hatte keine Ahnung, wie die ganzen Verrückten auf dieser Welt immer zu so viel Geld und Sprengstoff kamen, und es war ihm auch egal. Da er jedem radikalem Auftraggeber freundlich zustimmte war er gut beschäftigt und er selbst hatte ausser Geld sowieso keine Ideale. Er machte sich auf den Weg zum Bahnhof.
Das geschäftige Stimmengewirr in der Haupthalle bekam Max nur gedämpft mit. Auch von dem Rempler nahm er kaum Notiz. In seinem Kopf zogen noch mal die letzten Jahre vorbei. Seine beiden ‚Mädels’ hatten immer zu ihm gestanden. Beim Konkurs seiner Firma, dem Autounfall mit 1,6 Promille und sogar trotz seiner Wettsucht.
Tu es für sie! Tu es für sie!
Mit diesem stummen Mantra ging er langsam zum vorderen Rand der Haltestelle, wo die Züge noch etwas schneller waren. Unauffällig kontrollierte er, ob er auch im Blickwinkel der Kamera stand. Er wollte sichergehen, dass sein vorgetäuschter Herzinfarkt zu erkennen war, wenn er vor dem Zug auf die Gleise torkelte. Max sah zur Anzeige. Noch achtundzwanzig Minuten.
Wütend schmiss Ken den halbleeren Pappbecher in die Mülltonne der Herrentoilette.
Mist!
Irgend so ein Träumer hatte ihn angerempelt und er hatte seine Wildlederjacke mit Kaffee versaut. Ken betrat die Bahnhofstoilette und stellte die beiden Taschen ab. Im Nachhinein ärgerte er sich doppelt, den Kaffee gekauft zu haben. Erstens war nun seine Jacke ruiniert, und zweitens hatte er sein letztes Kleingeld in den Automaten geworfen und konnte deshalb das Schliessfach nicht erneut verschliessen. Jetzt musste er mit beiden Taschen hier herumlaufen. Im Spiegel sah er, dass auch seine Frisur durch den Nieselregen zerstört war. Hoffentlich war dieser Tag bald um. Nachdem er seine Jacke etwas gereinigt hatte entschloss er sich, vorher noch aufs Klo zu gehen. Schliesslich zündete der Timer erst in einer Stunde.
Fatil und Marvin gingen lachend weiter. Hinter ihnen kroch ein in Lumpen gehüllter Mann jammernd auf dem Boden umher und sammelte die aus seinem davongetretenen Pappteller verstreuten Centstücke wieder auf. Einige Leute blieben kurz stehen und schüttelten verständnislos den Kopf. Aber keiner traute sich, diesen beiden Halbstarken etwas zu sagen.
„Wart mal kurz, das Bier will raus.“
„Gute Idee, meins auch.“
Beide betraten die Toilette. Bis auf eine Person hinter einer verschlossenen Kabinentür waren sie alleine. An der Innenseite der geschlossenen Tür stand eine Sporttasche. Marvin blieb stehen und hielt Fatil zurück. Er flüsterte und deutete auf die Tasche. Fatil stimmte ihm grinsend zu. Vorsichtig näherten sie sich der Tür. Dann ging es blitzschnell. Der etwas schwerere Fatil trat die Tür ein und Marvin griff sich die Tasche. Dann rannten sie hinaus.
Ken schob die Geldtasche hinter die Kloschüssel. Die Tasche mit dem Sprengsatz schob er vorne an die Tür. Nur so konnte er sich ohne Verrenkung hinsetzen. Fluchend öffnete er seine Hose. Als er sich gerade hinsetzte hörte er Schritte vor der Tür. Misstrauisch lauschte er, ob noch mehr zu hören war. Mit einem lauten Krachen flog ihm die Toilettentür entgegen und blieb auf ihm liegen. Nach einem kurzen Schockmoment stiess er die Tür von sich und rappelte er sich auf.
Der Sprengsatz war weg!
Hastig schloss er seine Hose und stürzte nach draussen. Weit und breit war nichts zu sehen. Er fragte den nächsten Mann, der an ihm vorbei lief.
„Haben Sie jemanden mit einer Sporttasche von hier wegrennen sehen?“
„Ja, zwei Jungs, Anfang zwanzig. Die sind da hinter gerannt.“
Der Mann deutete in Richtung der ersten Gleise. Ohne Danke zu sagen rannte Ken los.
Marvin und Fatil lehnten sich schnaufend an den Süssigkeitenautomaten am Bahnsteig. Von der Haupthalle aus waren sie nun nicht mehr zu sehen.
„Das war echt lustig.“
„Ich hätte zu gerne die Fresse von dem Typen gesehen, als die Tür auf ihn zukam.“
„Ich auch. Was machen wir jetzt mit der Tasche?“
„Hast du letzte Woche das Riesendrama mit dem herrenlosen Koffer in der Glotze mitbekommen? Der Bahnhof wurde gesperrt, das SEK rückte an, Kamerateams waren da. Stell dir vor, der Typ sieht im Fernsehen, wie seine Unterhosen von nem Bombenräumkommando in tausend Fetzen geschossen werden.“
„Au ja, das ist geil!“
Sie stellten die Tasche an einen gut sichtbaren Platz des Bahnsteigs. Bis auf einen komischen Typen, der wie bekifft an der Bahnsteigkante stand war niemand zu sehen. Die beiden Jungs liefen lachend davon.
Wie durch Watte nahm Max die Bahnhofsgeräusche wahr. Immer wieder sah er auf die Uhr. Noch elf Minuten. Er starrte zurück auf die Steine, an denen bald sein Blut kleben würde. Er verdrängte den Gedanken. Normalerweise musste er sich schon bei Spritzen beherrschen. Plötzlich packte ihn jemand am Arm. Max schreckte aus seinem tranceartigen Zustand hoch und blickte völlig perplex auf einen Polizisten, der anscheinend mit ihm sprach.
„Hören sie nicht? Wir haben eine Bombenwarnung! Bitte verlassen Sie sofort den abgesperrten Bereich!“
Immer noch leicht verwirrt sah Max zu der Sporttasche mitten auf dem Boden und ging dann zurück vom Bahnsteig an der Absperrung vorbei in die Mittelhalle. Sein erster Gedanke war:
‚Glück gehabt!’
und der zweite:
‚Du Idiot! Nicht mal das kannst du richtig. Eine Bombe wäre wenigstens definitiv ein Unfall im Sinne der Versicherung gewesen!’
Dann musste er an die vielen Menschen hier denken und wie viel Leid eine Bombe bringen könnte und war doch ganz froh über den Verlauf. Aber das war eh nur wieder einer dieser vielen Fehlalarme. Max ging auf die Toilette, um sich etwas kaltes Wasser übers Gesicht laufen zu lassen. Als er sein nasses Gesicht im Spiegel betrachtete sah er den Teil einer Sporttasche hinter einer der Toiletten hervorschauen. Er zuckte zusammen. Seine Gedanken rasten.
Wenn nun jemand zwei Bomben platziert hatte? Das hier war auch eine Sporttasche. Vorsichtig betrat er die türlose Kabine und zog die Tasche hervor. Mit angehaltenem Atem öffnete er den Reissverschluss.
Panik kroch in Ken hoch. Er konnte den Sprengsatz oder die Jungs nirgendwo finden! Wenn die Bombe nicht am Bahnhof explodierte würden seine Auftraggeber sehr wütend sein. Hätte er wenigstens die Fernbedienung vorher aus der Tasche genommen! Im Fall eines Entdeckens hätte er so die Bombe kurz vor der Entschärfung per Knopfdruck zünden können.
Da!
Dahinten stand die Tasche. Ken ging zunächst zügig darauf zu und blieb dann wie angewurzelt stehen. Drei Bahnpolizisten und ein älterer Herr waren an der Tasche stehengeblieben, und nach kurzer Zeit sprach einer der drei Uniformierten in sein Funkgerät. Die anderen sahen sich suchend um.
Mist!Mist!MIST!
Ken verliess den Bahnhof und nahm sich ein Taxi nach Hause, um schnell noch ein paar Sachen für seine Flucht zu packen.
Mit geröteten Augen sass Marvin in dem grauen Verhörraum und bekam zum wiederholten Male die Aufnahme der Überwachungskamera vorgespielt. Einer der beiden Männer schob Marvins Stuhl mit dem Fuss zurück und sagte kühl lächelnd:
„So, und jetzt erzählst du uns noch mal, was ihr geplant hattet. Und hör auf, uns was von einem Streich zu erzählen. Für einen Streich braucht man nicht so viel C4!“
Und Fatil ging es zwei Räume weiter ähnlich.
Das letzte, was Ken in seinem Leben sah war die blau leuchtende Flamme, mit der einer seiner ehemaligen Auftraggeber den Schraubenzieher zum Glühen brachte. Langsam näherte sich die heisse Spitze seinen Augen. Die letzten Schmerzen seines Lebens spürte Ken erst sehr viel später.
Nervös nestelte Max an dem Träger der Sporttasche herum. Seine Frau setzte sich wie von ihm gebeten gegenüber auf den zweiten Küchenstuhl und sah ihn erwartungsvoll an. Lange hatte Max an einer plausiblen Erklärung für dieses Bargeld gearbeitet. Nun schaute er in diese wunderschönen, grünen Augen und erzählte ihr mit einem tiefen Gefühl von Vertrauen und Liebe die Wahrheit.