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Bahnschranken und Milchkaffee

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26.10.2001
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Bahnschranken und Milchkaffee

Bahnschranken und Milchkaffee

Immer, wenn sie zu Besuch bei den Großeltern waren, schauten sie aus dem Erkerfenster ins Tal hinunter, auf die andere Seite des Flusses. Durch die sonnenflirrende Juliluft hindurch hörten sie das dreimalige Schrillen des Fernsprechers am Wärterhäuschen des kleinen Bahnhofes auf der anderen Seite des Flusses.
Nun wuchs die Spannung.
Die Buben hatten nämlich mittlerweile herausgefunden, dass immer, wenn diese Glocken schrillten, kurz danach ein Zug kam. Nun begannen sie darüber zu disputieren, was das für ein Zug sein würde und aus welcher Richtung er wohl käme.
„Er kommt von rechts und er wird halten.“
„Ach quatsch, er kommt von links und fährt durch.“
„Wetten, dass nicht?“
„Wetten, dass doch?“
Mittlerweile hörten sie das leise „Ping, ping, ping“ der Bahnschranke.
Die Spannung stieg.
Der Zug kam von rechts, aber er fuhr durch, denn es war ein langer Güterzug mit zwei mächtigen schwarzen Dampfloks davor und nun musste gezählt werden, aus wievielen Waggons der Zug wohl bestünde. Der vorige Streit war schon vergessen. Nun galt es zu erraten, wer den Zug am besten einschätzte und mit seiner Schätzung am genauesten lag.
„40 Waggons höchstens“,
„50 Waggons mindestens“.
Gleichzeitig begannen sie zu zählen.
Bei 52 Waggons war der Zug zu Ende.
„Gewonnen!“, trumpfte der Kleinere auf, “Gewonnen, gewonnen!“ und hüpfte auf einem Bein durchs Zimmer. Dann kehrten sie zum Fenster zurück, denn nun war in der Ferne das Schnauben eines weiteren Zuges zu hören. Es war ein Vororte-Zug; er kam von links und hielt.
Danach hielten es die beiden nicht länger in der stillen Stube aus. Sie bestürmten die Oma, ob sie nicht nach draußen dürften, bekamen ihre Erlaubnis und rannten selig aus dem Haus. Draußen angekommen schauten sie sich kurz verschwörerisch an und rannten los. Mit laut klatschenden Sandalen rannten sie den Berg hinunter, an der Kirche vorbei, über die Brücke, unter der der Fluß träge seine schlammigen Fluten bergab wälzte und kamen atemlos am Bahnwärterhäuschen auf der anderen Seite der Schienen zum Stehen.

Die Türe des Wärterhäuschens stand offen und drinnen sahen sie einen älteren Mann mit einer Zeitung in der Hand an einem kleinen Tischchen sitzen. Über die in der Hitze flirrenden Bahngeleise taumelte ein Paar gelber Kohlweißlinge und das leise Summen von Insekten lag in der Luft. Das dumpfe Tuckern eines Flußkahns war zu hören, und jäh wurde die Ruhe durch ein neuerliches, dreimaliges Schrillen der Glocke durchbrochen, welches sich kurz darauf wiederholte.
Der Schrankenwärter legte die Zeitung weg, warf einen prüfenden Blick auf die Wanduhr, stand auf und ging zu einem Kasten an der Wand, an dessen Seite eine Kurbel herausragte.
Er drehte sie dreimal hintereinander, hielt kurz inne, um sie dann nochmals dreimal zu drehen. Dann kam er mit einem freundlichen Lächeln nach draußen auf die beiden Buben zugelaufen, die wie angewurzelt neben den beiden nebeneinander aus dem Bahnsteig emporwachsenden Bahnschrankenkurbeln standen. Für jede der beiden Schranken gab es eine Kurbel und man konnte sogar die Zugseile sehen, die in den Boden hinabführten um hinter den schweren Gegengewichten am Schrankenende wieder aufzutauchen.
„Na Jungs,“ fragte er die beiden, “wie geht’s?“ und begann zu kurbeln, worauf sich beide Schranken pingend zu senken begannen. „Er kommt von rechts“, sagte der Kleine und puffte den Großen in die Seite. „Von links“, knurrte der Große und puffte zurück.
Amüsiert schaute sich der Schrankenwärter die beiden Bengels an. „Wer von euch beiden als erster herausfindet, woher ICH weiß, von wo der Zug kommt, der darf mir beim Kurbeln helfen.
„Eecht?“ Zwei ungläubige Gesichter starrten ihn an.
„Versprochen“, sagte der Schrankenwärter und lächelte.

Der Zug kam von rechts (was vom Fenster aus links gewesen wäre) und hielt, denn es war ein weiterer Bummelzug.
Grollend und dampfend rollte er an ihnen vorbei und kam mit einem letzten, empört-kreischenden Quietschen seiner Bremsen zum Stehen. Türen klappten, eine Stimme rief etwas, die Lokomotive gab ein langgezogenes „Pam..- Pah..“ von sich, welches sich anhörte als wolle die Lok Atem schöpfen, bevor sie wieder weiterfuhr. Leute begannen aus und einzusteigen, dann trillerte es kurz und schnaubend setzte sich der Zug wieder in Bewegung.
Mit jedem Puffen stieß er dicke schwarze, wunderbar nach Steinkohle riechende Qualmwolken in die Luft, wurde schneller und verschwand schließlich hinter der Biegung in der Ferne. Die Zeit verflog in Windeseile für die beiden Buben, und noch immer hatten sie nicht herausgefunden, woher der Mann wusste, von wo der Zug kommen würde.
Es war wie Magie.

„Ich weiß es, ich weiß es!“ rief der Kleine plötzlich und begann um den Großen herumzuhüpfen.
„Nichts weißt du, du Dreikäsehoch“, brummte der Große verstimmt, denn er hatte sich auch sehnlichst gewünscht einmal die Schranken kurbeln zu dürfen.
„Doch, wenn er von rechts kommt, klingelt es sechsmal, und wenn er von links kommt, klingelts nur dreimal“, trompetete der Kleine und strahlte den Großen triumphierend an.
„Stimmt genau. Du hast aber gut aufgepasst“, sagte der Wärter und lächelte den Kleinen an, welcher gerade begann, einen erneuten Indianertanz aufzuführen. Der Schrankenwärter bemerkte jedoch schnell das unglückliche Gesicht des Großen und deshalb fügte er noch hinzu: “Also, der Kleine darf herunterkurbeln und der Große darf heraufkurbeln, denn da geht es viel schwerer. Seid ihr einverstanden?“

Und ob sie das waren. Alle beide strahlten voller Eifer wie zwei kleine Sonnen. Und so geschah es dann auch:
Der Kleine kurbelte hinunter und der Große hinauf, und man hatte fast den Eindruck, dass die Schrankenglocken schon lange nicht mehr so fröhlich gebimmelt hatten wie an diesem denkwürdigen Tag.

Als krönenden Abschluß bekamen beide noch einen Schluck Milchkaffee aus der Thermoskanne des freundlichen Schrankenwärters und mit jenem seltsamen, so „erwachsenen“ Geschmack noch auf der Zunge, rannten sie gemeinsam den Berg hinauf, zurück zur Oma, die sich schon die Stimme aus dem Halse gerufen hatte.

Beim Abendessen erzählten sie der Oma alles haarklein, und sie bemerkten nicht, dass der Opa öfter als sonst seine Serviette zum Munde führte, um ein glückliches Lächeln zu verbergen.
In der Nacht träumten sie alle beide von Bahnschranken und Milchkaffee.

08.04.2002 AP

Editiert am 10.04.02

<span class="ssilver">[Beitrag editiert von: Lord Arion am 10.04.2002 um 01:25]</span>

[ 25.05.2002, 12:28: Beitrag editiert von: Lord Arion ]

 

Hallo Marlon, Friedrichhart, und Hörnchen. Dank Bernadette erfuhr ich, dass ihr diese Geschichte von mir ausgegraben habt... ich bekam vorher keine Meldung darüber.
Also, erstmal danke fürs Lesen und kommentieren.
@ Marlon.
Du hast dir ja ziemlich Muhe gegeben. Whow...
Zum Thema Vorortzug ist zu sagen, dass diese mittlerweile durch S-Bahnen abgelöst wurden.
Vorortzüge hatten damals kleinere C-I Dampfloks, etwa 4 Personenwagen, und einen Güter-Postwaggon, der während der Halte immer auch be- und entladen wurde.
Die Dinger hielten quasi an jedem Klohäuschen, und sind daher auch fast Identisch mit dem sog. "Bummelzug", wobei Bummelzüge eher auf läöndlichen Nebenstrecken eingesetzt wurden, aber im Prinzip das selbe waren, nur mit längeren Strecken.

@ FRH
Die Geschichte ist schon ziemlich alt... das war noch vor der Rechtschreibreform... werde aber nach dem gath nochmal drübergucken.
Danke für die Tips.

 

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