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Bald
Der Raum ist lang und schmal. Die Deckenfarbe hängt in Fetzen herab, die wie Schnee herunterrieseln. Von den fleckigen Wänden bröckelt der Putz in blassgelben Kaskaden auf den graumelierten Stragula. Hunderte hastender, schlurfender Kinderfüße haben ihn blank und löcherig getreten.
Nach Süden öffnen sich hohe Fenster zum Park, in dem sich alte Eichen im Wind wiegen. Eichhörnchen springen geschäftig von Ast zu Ast und sammeln Eicheln. Ab und zu hüpft einer der Kobolde auf den Fenstersims und äugt hungrig nach Brocken, die ihm oft heimlich zugesteckt werden.
Gegenüber den Fenstern hängt ein Kruzifix, dessen Schatten mit der Sonne über die Wand streichen. Es ist der einzige Schmuck im zugigen Eingangsbereich der Lungenheilanstalt.
In der Ecke gegenüber der Außentür sitzt ein Mädchen auf dem kalten Boden. Es hat sich dicht an das Mauerwerk gedrängt. Eine Spange fasst das weißblonde Haar seitlich zu einem dünnen Zopf zusammen. Das verschlissene Sommerkleid mit der blaugrauen Kittelschürze darüber reicht kaum bis zu den Knien. Meta ist groß für ihre drei Jahre. Ihre graublauen Augen sind voller Traurigkeit. Sie schaut ins Leere und schiebt ein kleines rotes Holzauto über den Fußboden. Hin und her, her und hin. Manchmal kehrt der Blick zurück aus der Ferne und sucht sehnsüchtig die Tür gegenüber. Bestimmt wird sie sich gleich öffnen und ihre Eltern kommen, um sie hier wegzuholen. Für immer.
Die Tür neben Meta knarrt in den Angeln. Ein Junge, nicht viel größer als sie, hängt an der Klinke. „Wollen wir spielen?“
Das kleine Mädchen schüttelt den Kopf. Es könnte seine Eltern verpassen.
„Komm doch, Schwester Gertrud hat uns Bauklötze gegeben.“
„Ich mag nicht!“
Der Junge greift in seine Hosentasche, holt einen dicken, roten Apfel hervor.
„Möchtest du einen Apfel?“
Meta wirft begehrliche Blicke auf das duftende Obst. Doch wieder schüttelt sie den Kopf.
„Den musst du selbst essen, den darfst du mir nicht geben, wenn das die Schwestern sehen.“
Hastig verschwindet der Apfel wieder in der Hosentasche.
„Kommst du nun?“
„Lass mich in Ruhe“.
Er zuckt mit den Schultern, schließt die Tür hinter sich.
Wieder schiebt Meta ihr Auto hin und her, her und hin. Ihre Eltern werden bestimmt mit einem Auto kommen. Sie haben es versprochen. „Bald“ haben sie gesagt. „Bald holen wir dich nach Hause.“ Wie fährt es sich wohl in einem Auto? Und was ist „nach Hause?“ Sie erinnert sich nicht. Aber sie träumt davon, wenn sie sich vor der Dunkelheit unter der Bettdecke verkriecht.
„Zuhause“ ist vor allem Mama. Mama, die so ganz anders ist als die Schwestern hier. Die immer für sie da ist, die sie tröstet, sie in den Arm nimmt und lieb hat. Wenn es doch endlich so weit wäre… Ein Eichhörnchen keckert leise vor dem Fenster. Sie hat keinen Blick für ihren kleinen Freund. Wann ist „bald“? Sie ist sicher: Heute ist „bald“. So wie gestern bald war und vorgestern.
Die Tür öffnet sich. Sie schaut hoffnungsvoll. Aber es ist nur eine Schwester, die eilig den Raum durchquert, die weiß-blau gestreifte Tracht bauscht sich um die kurzen, dicken Beine. Sie hat keinen Blick für das Mädchen in der Ecke. Sie haben nie einen Blick für das Elend der kleinen Seelen.
Wieder ist Meta allein, stiert auf die Tür. „Ich will, dass jetzt bald ist!“ In die trotzige Beschwörungsformel schneidet der schrille Klang einer Glocke. Sie ruft zum Essen. Tränen kullern über Metas Wangen. Sie muss gehen, die Tür aus den Augen lassen. Sie verpasst bestimmt ihre Eltern. Aber sie muss zum Abendessen pünktlich sein, sonst wird sie bestraft. Essen und frische Luft sind das einzige, worauf die Schwestern bei ihren kleinen Patienten achten.
Meta erhebt sich schwerfällig, erreicht kaum die Klinke der Tür. Während sie mit den anderen Kindern dem Speisesaal und vier dick belegten Scheiben Brot entgegenstrebt, keimt in ihr ein Fünkchen Hoffnung: „Morgen, ja Morgen. Morgen ist ganz bestimmt ‚bald’ “.