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Ballast

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26.06.2001
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Ballast

Ballast

Es ist wie immer am Freitagabend, die Schlange vor Danielas Kasse wird immer länger. Sie sitzt auf der Kante ihres Drehstuhls und schiebt die Packungen mit geizigen Bewegungen am Lesegerät vorbei. Obwohl die feuchte Oktoberkühle ihr durch die Eingangstür über den Rücken streicht, ist ihr fast übel vor Hitze. Während ein alter Mann mit fahrigen Fingern Münzen aus der kleinen Geldbörse fischt, lässt sie den Kopf sinken und sieht auf die Grübchen in ihren Handrücken – Babyhände, es sind viel zu große, verletzliche Babyhände, die auf ihren vollen Oberschenkeln liegen. Rund und weich, mit rosig polierten Nägeln ruhen sie dort nebeneinander, wie zwei zufriedene Seekühe. Daniela trägt wie immer einen dunkelblauen Kittel über der Hose, ein weites Zelt in dem ihr Körper sich verkriechen kann, die riesigen Brüste, der unförmigen Bauch, dieser afrikanisch ausladenden Hintern, der ihr immer das Gefühl gibt, alle lachen über sie, sobald sie sich umdreht. Als sie den Blick wieder hebt, liegt das Geld von dem Alten schon da und er wartet mit einem geduldigen Lächeln. Die Röte der Gereiztheit steigt ihr in das hübsche, leicht aufgedunsene Gesicht, während sie die Münzen ungezählt in die Kasse wirft. Sie will heute keine Freundlichkeiten, keine Nachsicht, kein Verständnis – nicht einmal Streit, sie wünscht sich nur Leere, Ruhe, eine riesige Fläche Nichts, Stillstand, den Tod im Leben. Ohne zu denken kassiert sie weiter bis immer weniger Menschen das Geschäft betreten, es langsam ruhig um sie wird, die Gespräche an der Bäckereitheke wieder zu verstehen sind und sie nicht mehr in herbstblasse müde Gesichter blicken muss.
Jetzt fühlt sie es wieder, diese verhasste Bewegung in ihrem Inneren – jenes Wesen, das in ihr heranwächst, ohne sie je gefragt zu haben, ob sie es wolle, ob sie das ertragen könne. Wie ein Parasit ernährt es sich schon seit über neun Monaten von ihrem Leib und verlässt ihn erst, wenn es vor der Welt als Mensch gilt.
Daniela schämt sich schon lange für ihren Körper, aber seitdem sie fühlt, wie sich dieses eigene Leben in ihm entwickelt, mischt sich die Scham mit Ekel.
Mit flachem Atem bedient sie die letzten Kunden, nimmt die Schublade aus der Kasse und geht ins Büro, um das Geld zu zählen. Hier trifft sie den Mann, der bei einer gehetzten ungeschickten Begegnung im Lager, zwischen Kartons mit Tomatensuppe und einer Palette Kartoffeln Marke Hansa, den Samen in sie pflanze – er arbeitet in der Fleischabteilung, sie begegnen sich jeden Abend bei der Abrechnung, aber seit jenem Tag schaffen sie es beide, sich in diesem winzigen Raum zu bewegen, als seien sie Lichtjahre voneinander entfernt.
Seitdem träumt Daniela häufig von einem kleinen Topf mit blutroter Suppe, in die ihr alles hineinfällt, was sie gerne hat. Der kleine Clown, der auf ihrem Bett sitzt, die Katze die sie als Kind hatte, ihr Lieblingslehrer aus der Volksschule, einmal ist selbst ihre ganze Wohnung darin untergegangen. Immer muss sie dann selber in die heiße Röte hinabsteigen, aber nie ist es ihr gelungen, den geliebten Gegenstand zu bergen. Nachdem sie einmal, nach so einem Traum in ihrem rot bezogenen Bett erwachte und nicht mehr aufhören konnte zu schreien, schläft sie nur noch in weißer Bettwäsche.
Die letzten Monate hatte sie versucht, dieses Geschöpf in sich zu töten, mit Gedanken, mit Schlägen und mit einer Stricknadel, mit Alkohol und Tabletten. Ihr ging es dabei immer schlechter, aber nichts von dem schien bis in die tiefe Höhlung ihres Bauches vordringen zu können - sie ist machtlos gegen dieses angeblich so verletzliche Lebewesen.
Auf ihrem kurzen Heimweg überkommt sie wieder dieser unerträgliche Ekel, am liebsten würde sie sich mit bloßen Händen den Bauch aufreißen und dieses Ding herausholen, nur um endlich wieder alleine zu sein. Daniela ist gerne alleine, sehr gerne – wenn jemand sie fragte, was ihr im Leben am wichtigsten sei, würde sie ohne zögern antworten können. Mit trockenen Augen der Wut betritt sie ihre Wohnung, lässt Tasche und Mantel fallen, ein Kleidungsstück nach dem anderen zieht sie sich aus, während sie ins Bad geht. Später, im warmen Wasser, weicht der Zorn einer fast angenehmen, gedankenlosen Trauer, in der sie sich alleine und geborgen fühlt.
Als sie sich später abtrocknet, fällt ihr Blick in den großen Spiegel an der Badezimmertür. Manchmal, wenn es ihr gelingt, völlig zu vergessen wie andere sie sehen, kann sie ihren Körper ohne Abscheu betrachten. Alles an ihr ist schwer und stark, die Üppigkeit erscheint ihr dann als Geschenk eines großzügigen Schöpfers. Ihre breiten Hüften sind der reine Ausdruck der Fruchtbarkeit. Sie war jung, ihre Fülle spannte die zarte Haut über dem Bauch, lässt sie aber nicht reißen. Sie zuckt zusammen als sie dort plötzlich eine Bewegung fühlt, starrt in den Spiegel und beobachtet wie sich dort eine kleine Erhebung abzeichnet, wie ein Kätzchen unter dem Laken – nur ist dies kein Kätzchen, sondern beharrt darauf, ein Teil von ihr zu sein. Die friedliche Stimmung ist verbraucht, aufgesaugt von ihrem Unterleib.
In der Nacht wird sie von ziehenden Schmerzen geweckt, Daniela ist sofort hellwach. Seit Monaten hatte sie die Gedanken an diesen Augenblick vermieden, aber sie ist sich sicher, es alleine durchstehen zu können. Niemand weiß davon, keiner wird es je erfahren. Die nächsten Stunden sind eine qualvolle Erlösung. Nachdem sie mühsam mit einer Schere die Nabelschnur durchtrennt hatte, bindet sie ihre Verbindung mit dem Baby endgültig ab und wickelt es sorgfältig in mehrere Handtücher. Dabei vermeidet sie es, ihm in das winzige rote Gesicht zu sehen, sie verschließt ihre Ohren vor den ersten zarten Schreien und schickt ihre Gedanken auf einen Vogelflug über die Baumwipfel eines Urwaldes. Niemand beachtet auf der nächtlichen Strasse eine große schwere Frau, die mit einem Packen im Arm mit erschöpften Schritten zum Krankenhaus geht. Im Vorübergehen legt sie das Bündel vor dem Portal der Klinik ab.
Wenig später liegt sie in ihrem, wieder blutrot bezogenem Bett und fällt in einen traumlosen Schlaf.

 

Erschreckend, kann ich nur sagen. Erschreckend, daß so etwas nicht bloß in Geschichten geschieht, sondern auch in der "Wirklichkeit"
Ich finde die Geschichte gut, sie berührt mich und läßt mich nachdenken, immer Anzeichen für eine gelungene Erzählung.

 

Hui,
Deine Geschichten gehen echt unter die Haut.
Man ahnt die ganze Zeit, dass etwas schlimmes passiert, und man muss einfach weiterlesen und herausfinden was - auch wenn es unangenehm ist.
Der Titel ist übrigens ausgezeichnet. Übergewicht, Depression, ein unerwünschtes Kind - alles Formen von Ballast.

 

Hi,

schön wenn Euch die Geschichte berührt hat. Leider sind meine Geschichten immer etwas traurig,
mir geht die fröhliche Weltsicht von Rita völlig ab. Naja es muss wohl solche Geschichten wie meine geben.

Kyra

 

Ah, das nenne ich Erfüllung des Kapitalismus: Selbst am Tage der Niederkunft des Kindes arbeiten... :(

Sehr deprimierender Text - ich glaube zwar nicht, dass sie noch imstande wäre zu arbeiten, aber man hört immer wieder, dass manche ihre Schwangerschaft gar nicht bemerken sollen und nicht wissen was da vor sich geht! Okay, als Mann kann ich das eben schwer beurteilen.

Übrigens, gibt es das in Deutschland auch? Bei uns in Österreich - habe ich nur mal kurz gesehen, fragt mich nicht wo! - gibt es bei Krankenhäusern sogenannte BABYKLAPPEN - wenn eine Mutter ihr Neugeborenes weglegen will, kann sie das dort völlig anonym machen. Klappe rauf, Baby rein, Klappe zu. Das ist kein Witz! Gibt es wirklich! Es ist natürlich besser, als wenn eine verzweifelte Mutter ihr Kind in die Mülltonne stopft und dieses dann stirbt, aber ... Na ja, ich finde es trotzdem pervers, obwohl da sicher Leben dadurch gerettet werden.

Ich frage mich aber schon, was in solchen Menschen vorgeht? DAS EIGENE KIND!!!

 

Ich habe einen riesengroßen fehler gemacht. ich hätte die Geschichte nicht lesen dürfen. Sie deprimiert mich! Und das brutalst. Also mein Lob an Dich, wenn man schafft, anderen den Tag mit einer Geschichte zu vermissen oder aufzuheitern ist sie gut.
Zum Text selbst muss ich sagen, das meine Frau und ich ja auch gerade eine Schwangerschaft durchmachen und ich mir nie vorstellen kann, wie man einen solch brutalen Hass gegen ein Ungeborenes entwickeln kann.

 

Schöne, schaurige Geschichte!

Manchmal, auch während ich deine Geschichte las, komme ich mir vor, wie wenn ich nur einen kleinen Bruchteil der gewaltigen Bandbreite des Lebens lebe. Die Geschehnisse dieser Erde scheinen oft nur außerhalb zu existieren. Doch jedesmal kommt der Zeitpunkt, wo ich anerkennen muss, dass ein Mensch nicht urteilen kann darüber, was passiert und was nicht. Und schon gar nicht darüber, was in seinem Inneren ist und was nicht.

Schöne Geschichte!
LG Chris

 

Hallo Kyra,

bin grad dabei, die empfohlenen Geschichten zu lesen:
sehr gelungen find ich sie.
Ja,man ahnt schon, dass etwas passieren wird und man liest weiter und weiter,um es zu erfahren.
Gut beschrieben! Für mich geht es in dieser Geschichte nicht nur um das in der Überschrift stehende Thema des Ballast, das ist vordergründig der Ansatz der Geschichte und von daher gut gewählte Überschrift.
Dahinter liegt die Einsamkeit der Protagonistin. Eine unendliche Einsamkeit, die weder durch ihre täglichen Begegnungen mit Kunden und Mitarbeitern, noch durch das Kind in ihr beseitigt werden kann. Es ist diese in ihr selbst steckende Einsamkeit. Die Einsamkeit vor sich selbst, innerlich erfroren.
Mich entsetzt nicht die Tat der Protagonistin, ihr Kind vor die Tür eines Krankenhauses gelegt zu haben. Das war letztendlich eine humane Tat, denn in der Obhut der Protagonistin wäre es ebenfalls ein erfrorenes Lebenwesen geworden.
Mich stimmt die Aussichtslosigkeit der Protagonistin traurig und nachdenklich.

Lieben Gruß
lakita

 

Hallo Kyra,

erst einmal bin ich ziemlich neu hier auf der Seite und Deine Geschichte habe ich eigentlich nur gelesen, weil mir Dein Name gefiel. Wie gesagt bin ich neu hier und habe mir einige Geschichten von versch. Autoren so durchgelesen und Dein Stil eine Geschichte zu erzählen gefällt mir sehr gut (packend und doch unaufdringlich). Ich frage mich nur, wie man solche Gefühle beschreiben kann, ohne die dazugehörigen Erfahrungen (Phantasie, schätze ich). Ich würde Dir natürlich viel lieber eine Kritik geben, die Dir hilft Dich zu verändern (wenn Du das überhaupt willst), aber so wie es aussieht kann ich nur sagen, dass ich mir jetzt noch ein paar Geschichten von Dir durchlesen werde und mich auf diesem Wege noch mal melden werde.
Bis dann, Dennis

 

Ballast
In der Nacht wird sie von ziehenden Schmerzen geweckt, Daniela ist sofort hellwach. Seit Monaten hatte sie die Gedanken an diesen Augenblick vermieden, aber sie ist sich sicher, es alleine durchstehen zu können. Niemand weiß davon, keiner wird es je erfahren. Die nächsten Stunden sind eine qualvolle Erlösung.

Hallo Kyra,
ich finde diese Geschichte gut & stimmig, auch die Personenzeichnung ist gelungen. Der Geburtsvorgang selbst aber kommt zu kurz. "Die nächsten Stunden sind eine qualvolle Erlösung" ist nur floskelhaft. Die "Wehen" heißen nicht umsonst so, das sind "brutalstmögliche" Schmerzen und wie irgendwelche Frauen das alleine in der Wohnung oder auf dem Klo (gibt ja auch viel Blut & Dreck!) durchstehen können, wie immer mal wieder in der Presse verlautet, ist mir ein absolutes Rätsel.
Ich meine, hier ist die Story unglaubwürdig.
Aber sonst: Alle Achtung!
Viele Grüße vom handballfan

 

Hallo Kyra,
zweifellos eine bedrückende Geschichte, die mir aber außer der deprimierenden stimmung nicht viel bietet. es bleibt für mich eine Schilderung mit zu vielen Adjektiven, die aber eine Charakterzeichnung nicht ersetzen können. Eigentlich fehlt die geschichte hinter der Schilderung, ein wenig innerer Monolog könnte das schon verändern; ich erlebe hier Versatzstücke, wie sie in jeder Doku-soap zu sehen sind. Das geht leider an mir vorbei.
Ein froheres Fest als deine Protagonistin haben wird wünsche ich dir!
Jutta

 

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