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Ballerburg oder Das Theater der Realitäten

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26.06.2005
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Ballerburg oder Das Theater der Realitäten

Ballerburg oder Das Theater der Realitäten

Announcer: Welcome to the Ballerburg, Leute. Today wir show you a Mischung aus Satire, Lovestory, Krimi and, of course, Sexfilm. Altogether, it's a Groteske!
Auditorium klatscht und geifert, der Vorhang fällt und erschlägt den Announcer.
Hauptperson 1: Guten Abend verehrtes Publikum. Ich erkläre ihnen nun, wer ich bin, was ich tue und, natürlich, warum ich bin.
Auditorium lauscht gespannt.
H1: Der Einfachheit halber erscheine ich jetzt abgekürzt. Im Zuge der Rationalisierungsmaßnahmen ist unserem Theater die Druckerschwärze zusammengestrichen worden.
H1 lacht ausgiebig über das Wortspiel, das Auditorium schweigt betreten.
H1 (beleidigt das keiner seinen Witz würdigt): Tschuldigung, einen Keller habe ich für sie nicht.
Ein übles Jingle ist zu hören.
Toter Announcer: Hier ist Ballerburg, das Programm mit der gedrückten Repeat-Taste und ewig dazwischenlaberndem Mod. Hier ist Ballerburg, der Wohlfühlsender.
H1: Back to Topic, Kollegen und Kolleginnen. Ich bin in diesem Moment Fred. Ich verabscheue Spinnen und Schlangen, deshalb wähle ich auch nicht.
Im Auditorium lacht jemand.
H1: Jetzt wissen sie wer ich bin und was ich tue, kommen wir zur Philosophie. Warum bin ich? Das meine Damen und Herren, müssen sie wohl Gott fragen, wenn sie ihn mal unerwarteter Weise treffen sollten.
Wissen sie, es ist heutzutage schwer, die Menschen noch mal zum Nachdenken zu bringen. Tiefes Nachdenken über sich selber, nicht bloß über den Mundgeruch des Ehemanns oder das laute Sägen der Ehefrau.
Gemurmel im Auditorium, schuldbewusstes Kichern.
H1: Aber die von Philos und Psychos so gern gestellte, ja sogar vom Beamtenschimmel ständig per Formular oder Vorladung gewieherte Frage nach dem ‚Bin ich, also Sei du’, das ist etwas, was über ein Standardmenschenhirn hinausgeht.
Im Auditorium hört man böses Gemurmel, offenbar fühlen sich einige Personen angesprochen.
H1 geht zu einem Tisch und greift sich ein Sturmgewehr, Marke AK666.
Ein übles Jingle ist zu hören.

Toter Announcer: Hier ist Ballerburg, der Wohlfühlsender. Wir bringen sie gut durch das geistige Koma. Gleich geht’s weiter mit ‚Des Teufels Großmutter’ und dem Song „Wie fange ich Men… ähh… Fliegen“.
Zwei Praktikanten der Marke „Anbiedern ist Trumpf“ schleifen mit Perlweißgrinsen ein Werbebanner einer Rüstungsfirma durchs Bild.
H1 (nach der Werbung): Wer sind Sie? Wer bin ich? Nun, ich bin Fred, nicht wahr? Sie kennen mich doch als Fred oder nicht?
Zustimmendes Gemurmel im Auditorium.
H1 rennt kreischend über die Bühne, reißt sich die Klamotten vom Leib, fuchtelt ein bisschen vor den schockierten Zuschauern herum und ballert dann mit dem Sturmgewehr einer Frau einen Haufen Löcher ins Profil. Lähmendes Entsetzen, während die Frau tot und gesiebt vornüber kippt.
H1 (freudestrahlend): Wer bin ich denn jetzt? Ich bin Fred, der Scharfschütze und ein Mordskünstler. Ein bisschen bekloppt, aber okay.
Übrigens meine Kollegin, kurz H2 genannt, steht nicht wieder auf, ihr Tod war vertraglich ausgemacht.
Langsam erholt sich das Auditorium und Beifall brandet auf. Es kapiert zwar keiner was das soll, aber das stört nicht weiter. Ist schließlich Kunst.
Toter Announcer: Ein wunderbarer Abend, erst richtig vollständig mit dem Gute-Laune-Programm der Ballerburg. Hier feiert der Verstand jeden Tag Totensonntag. Haben Sie es auch satt? Sind sie lebensmüde? Bewerben sie sich um den Platz des zweiten Hauptdarstellers. Hier ist Ballerburg. Wir schaffen Arbeitsplätze.
H1: Blut spritzt und Gedärme fliegen, schon ist der Kassenschlager am Start. Freude nach dem Schock und am besten noch einen nekrophilen Priester als sakralen Absacker hinterher. Wunderbare Brühe der Popkultur.
Zwischendurch röhren besoffene Elche und schwule Indianer fetzige Handysounds, welche uns Freudentränen übers Gesicht jagen und wenn der Eimer Sangria leer ist, bereichern wir die Abwasserkanäle ein bisschen mit verschieden Produkten.
Das Auditorium wundert sich. Was will er damit sagen?
Toter Announcer: Hello, my Friends, hier ist wieder Ballerburg. Unser Slogan für heute: WIR SIND BALLERBURG! Feiert mit, Freunde des gedanklichen Loslassens und versammelt euch zu Millionen auf dem Hanswurstplatz und sabbert ahnungslos in unsere Mikrofone: Welch ein bewegender Augenblick! Hier ist Ballerburg, der Wohlfühlsender!
H1: Sie fragen sich sicher, was will er uns damit sagen?
Auditorium nickt synchron.
H1: Wir kommen gleich zur Aussage des Abends, meine lieben Freunde.
H1 holt sich einen Stuhl und liest aus der Biographie eines berühmten Schwachsinnigen vor. Nach einer halben Stunde wird es unruhig im Auditorium, einige Zuschauer gehen nach Hause.
H1: Halt! Keiner geht vor dem großen Finale. War das nicht toll? Ist das nicht die Unterhaltung nach der Euch heutzutage gelüstet? Wer von Euch hat dieses Buch?
Das Auditorium schweigt betreten.
Toter Announcer: Jahaaa, ihr seid richtig bei Ballerburg, dem meistgeliebten Sender der Gehörlosen im ganzen Südostnordwesten. Wir unterbrechen unser geiles Programm für eine wichtige Konsumenteninformation.
Die gleichen Praktikanten, diesmal ein Werbebanner für Medikamente gegen Pfahlacker-Esau.
Nach der Werbung zündet H1 das Buch an und wirft es in den Zuschauerraum, dabei verletzt er den Vorstandvorsitzenden einer bekannten Bank schwer am überfüllten Geldbeutel.
H1: Ich bin jetzt ein Neinsager. Haben sie das Buch? NEIN! Und warum nicht? Weil’s mir peinlich wäre JA zu sagen. Aber nachts unter meiner vom vielen Masturbieren steifen Bettdecke, da schnaufe ich im Takt hirnlosen Promigestammels das Vaterunser der Medienmogule.
H1 (beugt sich verschwörerisch vor): Pssst! Das bleibt unter uns, ja?
H1 steht auf und zieht sich ein T-Shirt an, welches die Aufschrift trägt: Sie wollten schon immer mal unbequeme Zeitgenossen loswerden? Wir haben die Lösung! Besuchen sie Guantanamera, das Hotel mit der irreführenden Freiheitsstatue auf dem Dach.
Dann nimmt H1 eine oft gekaufte Zeitung zur Hand und öffnet sie. Im Theater macht sich der Gestank von Exkrementen breit. Einige Zuschauer schaffen es nicht rechtzeitig raus und übergeben sich.

H1: Was denn?
Tut, als wäre er verwundert.
H1: Soll ich’s wieder zu machen?
Er schließt die Zeitung, der Geruch ist weg.
H1: Und so was lest ihr jeden Tag???
Schüttelt den Kopf.
Toter Announcer: Heiligeili, hier ist Ballerburg, und jetzt kann ihnen allen endlich das Wohlfühlen im Halse stecken bleiben. Sind sie noch nicht weich im Helm? Wir helfen ihnen gern. Dazu unser neuestes Gewinnspiel. Machen sie mit und gewinnen sie ein Jahresabo der stinkenden Zeitung. Rufen sie an unter 0800 – drei mal Bekloppt und noch mehr Behämmert und beantworten sie uns diese Frage: Wo findet man mehr geistig Behinderte?
A: Im Bundestag
B: In der Irrenanstalt
Jaha, ich weiß, eine besonders knifflige Frage, aber (schreit enthusiastisch) wir sind doch alle Ballerburg! Die Leitungen sind bis zum Weltuntergang geschaltet!
Hier ist Ballerburg. Nur wir machen sie zu Gewinnern!
H1: Schaun wir doch mal, was sie alle hier so für Menschen sind.
Eine Leinwand wird ausgerollt, Bilder erscheinen und erstickte Schreie aus dem Auditorium lassen den Widererkennungsprozess nachzeichnen. Da geht ein Kerl fremd, ein anderer tötet einen Konkurrenten mit einer Mistgabel, eine Frau schlägt ihr zweijähriges Kind mit dem Nudelholz, eine weitere misshandelt ihren bettlägerigen Vater schwer, ein Paar lässt ihr Kind verhungern während sie auf Ibiza Party machen, ein alter Mann wird als Aufseher in einem KZ sichtbar, zwei Teenager vergewaltigen ein mit Drogen gefügig gemachtes Mädel und ein ätzender TV-Produzent lässt noch ätzendere Pseudopromis sich gegenseitig in die Badewanne pissen.
Derweil läuft ein Laufband mit, das Werbung für Agrar- und Küchengeräte, Windeln und Kinderspielzeug, Alkohol und Zigaretten, Diätmittel für dicke Kinder und ein neues Medikament gegen Blasenschwäche macht.
H1 lacht sich halbtot.

H1: Was für ein Spaß, meine Freunde. Das ist euer Leben? Ihr kleinen dreckigen Lausebengels, ihr. Jetzt weiß ich auch, warum ihr Schund und Schmutz in Unterhaltungsberieselungsmaschinen füllt. Je dümmer desto Mensch!
H1 lächelt selig, das Auditorium ist erstarrt.
H1: Weil ihr vor Freude sterben müsstet, wenn ihr die Heldentaten Eures tollen Lebens durch Reflexion immer wieder vor Augen geführt bekommen würdet. Und deshalb DÜRFT ihr nicht zum Nachdenken kommen. Deshalb MÜSST ihr soviel arbeiten, damit keine Zeit bleibt zu erkennen, was für ein Moloch aus Unrat ihr geworden seid.
Toter Announcer: …Ballerburg, Ballerburg, Ballerburg. Hier ist Ballerburg, Ballerburg, Ballerburg, … das…das…das…das… tollste…ste…ste …Programm…m …m … im… im…m…m…m…m…m…m…m…m......
Ein übles Jingle unterbricht den Plattenriss und fährt den PC Marke ‚Hypno2005’ samt Software ‚Versklavung heute’ in Windeseile wieder hoch.
H1 dreht sich um und zieht an einer Kordel, dahinter wird ein Bild sichtbar, darauf steht in riesigen Lettern: Ich will nicht wissen!

H1: Der Clou des Abends meine Freunde, wir sprechen gemeinsam ein Mantra. Sprecht mir nach: Ich will nicht wissen! Ich will nicht wissen! Ich will nicht wissen!
Erst schweigt das Auditorium, dann stimmt der oder die erste mit ein, nach einer Weile hat das ganze Hippiekommunencharakter und alle liegen sich freudig rezitierend in den Armen, machen freie Liebe, kiffen und saufen und grillen.
H1 schaut sich das einen Moment an und dann verwandelt er sich. Der Teufel himself steht auf der Bühne ohne dass es jemand mitkriegt.
H1 alias Diablo (leise zu sich selber): Damit hat Gott sicher nicht gerechnet: Ich verkaufe seinen Kindern ihre eigene Scheiße und sie lieben mich dafür.

 

Hallo Judas,

schon wieder eine so blöde Verarsche der Medienlandschaft, dachte ich zu lesen begann. Davon gibt es doch schon unendliche und eine ist schlimmer als die andere. Hinzu kommt der mehr als blöde Name Ballerburg, der mich gleich an ein Stück über Mallorca denken ließ, die Verarsche der Realverarsche also gewissermaßen.
Aber im Laufe der Entwicklung gewinnt dein Text doch erheblich mehr an Tiefe und die manchmal auch etwas flachern Wortwitze mussten konsequenterweise ja sein.
Ich gewann jedenfalls zunehmend Gefallen daran.

Lieben Gruß, sim

 

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