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Barker Ranch
Und wieder dieser kalte Wind, der mich die ganze Nacht wachgehalten hatte, der die Plane meines Zeltes hatte flattern lassen wie eine Segel im tosenden Sturm, sie mitten in der Nacht gegen meinen Kopf gepresst hatte, während meine Zehen in drei Paar Socken vor Kälte fast abgestorben wären. Auch als das Morgenlicht das Innere meines Zeltes in fahles Grün getaucht hatte, war er nicht abgeebbt. Täglich lief meine Nase, meine Hände wurden taub, ich musste auf dem Sandboden aufstampfen, um wieder etwas Gefühl in meine Füße zu bekommen. Nur wenn ich mich ins Auto verkroch und die Fahrertür zuzog, erstarb das Rauschen in meinen Ohren. Jeden Morgen setzte ich mich so mit einer Tasse Instantkaffee auf den Fahrersitz, um auf die verstreuten Felsen vor mir, den blauen Himmel darüber, und in die Einöde um mich herum zu schauen, meinen Blick dabei auch über Steves Zeltplatz schweifen ließ (es war reiner Zufall, dass ich so geparkt hatte, dass ich ihn vor mir hatte) und im Topo blätterte. Ich begutachtete Routen, Felsen, Sektoren, schätzte Wege ab, mutmaßte über Schwierigkeitsgrade, erwägte Gebiete und plante die Klettereien der nächsten Tage. Es war wie das wirkliche Leben, das ich für ein paar Wochen hinter mir gelassen hatte. Manchmal blieb ich bei den Plänen, manchmal passte ich sie behutsam der Realität an. Die Implementierung wurde immer besser, immer näher am Konzept. Ich war in meinem Element. Und anschließend öffnete ich die Fahrertür, trat hinaus in die Wüste, die Sonne und den Wind, packte mein Crashpad, in das ich die Kletterschuhe, mein Chalkbag, eine Wasserflasche und etwas Trockenobst gestopft hatte und ging herüber zu Steve.
Er saß auf einer Isomatte und hielt seine Kaffeetasse mit beiden Händen umklammert, Wärme war ein kostbares Gut im Joshua Tree im Januar. Steve blickte auf und grinste, zwischen zwei Fingern glühte ein Joint.
„How’s it goin‘, Chris?“
Ich hockte mich neben ihm auf mein Crashpad, steckte meine Hände unter die Kniekehlen, um sie vor dem Wind zu schützen. Vor Steve balancierte ein Topf mit dampfendem Wasser auf dem Gaskocher, im Sand lag eine kleine Pfanne, an der die Krusten vergangener Mahlzeiten klebten. Er wippte den Oberkörper hin und her, nahm einen Schluck Kaffee, strich sich über den Bart, zog an dem Joint, fixierte abwechselnd mich und dann die Wüste. Er war stiller heute als sonst. Ich blätterte im Topo. „Irgendeine Idee, wo wir heute hingehen sollen?“, fragte ich.
Er wippte weiter, schob seine Mütze tiefer in die Stirn und biss sich auf die Unterlippe. Sein Gesicht war der Sonne abgewandt. Nach einem wortlosen Moment reichte er mir den Joint.
„Weiß nicht“, murmelte er und schwieg.
„Gunsmoke?“ versuchte ich, „Wir könnten dort noch ein paar Probleme ausprobieren“ „Hm,“ er wippte weiter, blickte mir kurz in die Augen und kratzte mit seinem Löffel gedankenverloren in der Pfanne herum, während ich ihm die Kippe zurückgab. Er nahm einen Zug, drückte den Joint im Sand aus und holte Luft:
„Wie wäre es mit Barker Ranch?“
Ich zog eine Augenbraue hoch.
„Barker Ranch? Willst Du mich verarschen?“
Steve grinste, beugte sich vor und murmelte:
„Nein, kein Scheiß. Ich war gestern Abend da.“
„Du wolltest gestern Abend mit den Schweden noch ein paar Probleme hier im Camp versuchen,“ korrigierte ich ihn.
„Wollte ich auch. Aber Bird ist vorbeigekommen und hat mir gezeigt, wo Barker Ranch liegt.“
„Bird? Steve, wie viel hast Du geraucht? Bird hängt nur im Gunsmoke-Sektor rum.“
Mein Kopf wurde vom Rauchen etwas weich. Ich dachte daran, wie ich den legendären Kletterer zum ersten Mal im Josua Tree gesehen hatte. Schon vorher hatte ich von ihm gehört: Dass er so leicht und schwebend klettere, als könne er fliegen, dass es aussehe, als ,lese‘ er den geheimen Code der Routen. Dass er sich immer nur in dem ‚Gunsmoke‘ genannten Gebiet im Park aufhielt und dort immer an den gleichen Problemen arbeitete, seit ihm in den Siebzigern ein Acid-Trip nicht gut bekommen war. Ich war durch die Wüste gestapft und plötzlich hatte ich ihn gesehen, wie er mit seinen filzigen schwarzen Haaren, einer riesigen Sonnenbrille, Led Zeppelin-T-Shirt und roten Jeans eine Traverse kletterte. Ich hatte seinen Stil eine Weile beobachten können: Es schien tatsächlich, als würden seine Hände und Füße automatisch die Löcher, Ritzen, Risse, Spalten und Vorsprünge im Fels finden; es gab in seinen Bewegungen absolut kein Zögern, kein Tasten, nur Fluss und Rhythmus. Doch plötzlich hatte er innegehalten, mich gesehen, war abgesprungen und hatte sich mit gesenktem Kopf von der Wand verzogen.
Ich fixierte Steve: „Du willst mir erzählen, dass Bird hier war und mit Euch gebouldert hat?“
„Nein, die anderen waren schon weg und Ich hab alleine noch ein bisschen rumprobiert, da kam er hinter den Felsen hervor. Ich war ziemlich perplex, weil ich ihn schon ein paar Tage nicht gesehen hatte und er nicht aus der Gunsmoke-Richtung kam. Also habe ich ihn gefragt, was er so gemacht hat. Und er hatte einen seiner klaren Momente, jedenfalls hat er einfach nur ‚Barker Ranch‘ geantwortet. Ich hab erst gedacht, dass er spinnt, aber dann hab ich ihn einfach gefragt, wo Barker Ranch ist – und er hat es mir gezeigt.“
„Und wie ist es?“ fragte ich neugierig.
Steve grinste. „Genial. Aber sauschwer. Du springst vom Boden in einen überhängenden, vorstehenden Griff. Dann stabilisiert du die Füße an der Wand und greifst weiter in ein Fingerloch.“
Er hob die Arme in die Luft und imitierte die Züge:
„Von da kletterst Du in eine Säule rein. Hab’s ein paar Stunden probiert, aber das zieht Dir die Haut von den Händen. Ich nehm Dich nachher mit, okay? Aber zeig es niemandem sonst. Die Ecke ist nichts für Touristen.“
„Alles klar,“ sagte ich.
„Dann lass uns in einer halben Stunde aufbrechen,“ meinte er.
Ich stand auf. In diesem Moment brauste der Wind auf, so dass ich eine Sekunde lang mit meinem Gleichgewicht kämpfen und mich an meinem Crashpad festhalten musste.
Dass es Barker Ranch wirklich gibt, hatte ich bis dahin nicht geglaubt. Der Sektor war ein Mythos, von dem zwar jeder Kletterer îm Joshua Tree hörte, aber ich hatte nie jemanden getroffen, der tatsächlich dort gewesen war. Der Park war übersät mit legendären Routen, doch Barker Ranch war etwas Neues. Ich kaute einen Müsliriegel und sah mich auf dem Campingplatz um. Eine merkwürdige Gemeinschaft hatte sich hier mitten in der Wüste zusammengefunden und mit fast jedem hatte ich bei den abendlichen Lagerfeuern gesprochen. Sie waren so gut wie alle zum Klettern im Camp: Die Schweden auf dem Zeltplatz neben mir packten gerade ihre Sachen, um zu den Felswänden im Osten aufzubrechen. Eine Gruppe von Franzosen baute ihr Zelt ab und legte die Kletterausrüstung in den Kofferraum ihres Autos. Zwei Amis probierten ein paar Probleme an den im Camp herumliegenden Felsbrocken. Ich blätterte nochmals durch den Topo. Meine Hände froren im Wind. Wo könnte sich der Sektor verstecken? Der Park schien so gut erschlossen zu sein. Mit Bleistift schrieb ich auf eine leere Seite am Ende des Buchs ,Barker Ranch‘. Dann sah ich aus den Augenwinkeln, wie Steve sich näherte.
Wir marschierten etwa zwanzig Minuten durch die Wüste, vorbei an den Kakteen und den bizarren Felsformationen des Joshua Tree. Der Wind wirbelte Staub in unsere Poren, die Sonne wärmte kaum und ich musste meine Hände in die Taschen stecken, um sie warm zu halten. Steve zeigte auf einen hohen Felsturm, der nur ein paar hundert Meter von uns entfernt lag und mir nicht besonders aufgefallen war.
„Das ist es,“ meinte er.
Ich runzelte die Stirn. Die Steine waren nach oben hin abgeflacht und sahen nicht besonders interessant aus.
„Haut mich jetzt aber nicht um,“ rief ich.
„Wart’s ab“, lachte er und ging unbeirrt weiter.
Je näher wir kamen, desto dichter wurde das Gestrüpp um die Felsen. Steve stapfte geradewegs auf eine Wand zu, bückte sich plötzlich und schob vorsichtig einen Strauch zur Seite. Dahinter sah ich ein etwa kniehohes Loch, durch das man von der anderen Seite her Licht sehen konnte. Steve legte sein Crashpad auf den Boden und schob es mit den Füßen durch den Spalt, drehte sich kurz zu mir um und robbte hinterher. Ich sah, wie seine Füße im Fels verschwanden. Als ich mich bückte, konnte ich einen Gang erkennen, der nach einer Weile eine Öffnung nachgab. Ich tat es Steve gleich und schob mein Crashpad vor mir her durch den Tunnel. Nach kurzem Robben über den Boden war ich wieder im Freien. Ich blickte mich um. Wir waren von einer Art Wall aus Felsen umgeben, vor Wind und Blicken geschützt. Der Himmel über uns war frei und das Sonnenlicht schien herein. Bis auf den Tunnel gab es offensichtlich keinen Zugang.
„Wird ein bisschen früher dunkel hier drin,“ grinste Steve, „aber ansonsten nicht schlecht, oder?“
Ich blickte auf die Wände. Sie waren etwa 20 Meter hoch und perfekt geformt: glatt, leicht überhängend, mit zahlreichen Sintersäulen. Es sah so aus, als könne man oben fast überall über den Rand aussteigen und auf der anderen Seite gefahrlos herunterklettern. Als ich die Wände näher betrachtete, fiel mir vor allem eine Linie auf, in der schon Spuren von Chalk waren.
Steve bemerkte meinen Blick und nickte heftig: „Das ist es!“ rief er, „Das ist Barker Ranch. Musst Du gleich mal versuchen.“
Er imitierte die einzelnen Züge mit den Händen.
„Bisschen hoch zum Bouldern,“ meinte ich.
„Bird ist nur bis zur Säule und dann auf die Matten abgesprungen,“ sagte er. Die Säule endete auf etwa 6-7 Metern Höhe. „Danach kommt ein harter Zug, aber dann sieht’s recht einfach aus, bis zum Ausstieg.“
„Willst Du das ohne Seil klettern?“ fragte ich.
„Mal schaun‘,“ murmelte er, ganz in die Züge vertieft. „Willst Du anfangen, Chris?“ „Klar“, antwortete ich, etwas nervös beim Gedanken an die Höhe. Ich wollte gerade nach meinen Kletterschuhen greifen, da hörte ich ein Geräusch. Durch den Tunnel schob sich langsam eine Bouldermatte. Dahinter sah ich filzige schwarze Haare.
Bird zog lange an dem Joint und sah auf die Route.
„Ist noch ein Stück Arbeit“, murmelte er.
Ich konnte ihn kaum verstehen, musste mich vorbeugen und mein Ohr praktisch vor seinen Mund halten. Er gab den Joint an Steve weiter, schritt auf die Wand zu und strich mit den Händen übers Gestein. Und plötzlich sprang er in den überhängenden Griff und stemmte die Füße gegen die Wand. Steve und ich breiteten die Crashpads unter ihm aus. Mit der linken Hand beschrieb er einen aufwärtigen Bogen und landete seinen Finger genau in einem Loch. So hatte ich noch nie jemanden klettern sehen. Es war, als habe der die Route hundertmal gemacht, wie eine Symbiose aus Kletterer und Wand. Ich versuchte, mir zu merken, wohin er griff und trat, um es selbst leichter zu haben. Mit weiten Zügen schwang er sich mühelos die Säule hoch und sprang dann plötzlich auf die Crashpads ab.
„Puh, noch viel Arbeit“, flüsterte er und schob sich grußlos durch den Spalt zurück in die Wüste.
Steve und ich blickten uns an.
„Wahnsinn. Sowas hab ich noch nie gesehen,“ meinte Steve.
Ich nickte beklommen. Wir hockten uns hin und studierten die Wand. Ich versuchte, die Züge herauszulesen, mich zu erinnern, wie Bird sie gemacht hatte. Wenn dieser kaputte Typ es schaffte, dann konnte ich es auch. Wenn man richtig plante und nichts dem Zufall überließ, konnte man sich jede Route unterwerfen.
„Ich glaube, ich will’s mal versuchen“, sagte ich nach einer Weile und zog mir langsam die Kletterschuhe an.
„Cool“, antwortete er und schlug mir auf die Schulter. Ich ging langsam auf die Wand zu, fixierte dabei den Griff, in den ich springen musste. Vom Boden aus streckte ich meine Hand aus. Es war kein weiter Sprung, aber ich musste den Schwung voll ausnutzen und meine Füße gegen die Wand stemmen. Ich nickte Steve zu, ging ein wenig in die Hocke und sprang. Meine Finger berührten den Griff – und rutschten sofort ab. Steve fing meinen Sturz ab, so dass ich auf den Crashpads landete.
„Scheiße“, rief ich und meine Stimme hallte zwischen den Wänden wider. Steve lachte. „Nochmal!“ Ich wartete nicht ab und sprang erneut hoch. Wieder rutschten meine Finger ab. Ich landete auf den Matten. Nach ein paar Versuchen riss mir die Haut an den Fingern auf. Irgendwann wurde es dunkel im Kessel. Aber dafür hatte ich den Eindruck, ich wüsste, wie ich den Griff nehmen müsste.
„Gib mir noch drei Versuche“, bat ich Steve.
Er nickte. Ich sprang, konnte mich eine Sekunde lang halten – und krachte auf die Matten.
„Gut Chris, Du hast es beinahe“, feuerte Steve mich an.
Erneut stand ich auf, setzte zum Sprung an und schnappte nach dem Griff. Dieses Mal konnte ich ihn länger halten, konnte meine Füße kurz an die Wand bringen, aber dann rutschte ich ab und ich spürte, wie meine Haut aufraute. Ich sah auf meine Finger. Die Fingerkuppe des Ringfingers war fast durchgeschabt.
„Lass uns gehen, Steve“, sagte ich.
Er blickte kurz auf die Wand. Erst im Camp fiel mir auf, dass ich ihm keine Zeit gelassen hatte, das Problem selbst zu probieren.
Um uns herum die Dunkelheit der Wüste. Ich streckte meine Hände zum Feuer hin, sah die Flammen durch die Finger und spürte die Hitze. Es ist entweder zu heiß oder zu kalt, niemals angenehm warm, dachte ich. Steve nahm einen Schluck Bier, setzte die Flasche ab und blickte aufs Etikett.
„Nicht schlecht, dieses Kürbisbier,“ murmelte er.
Ich lachte. „Die Segnungen der Zivilisation,“ meinte ich.
Steve nickte. Sein Gesicht glühte orange im Feuerschein.
„Wie lange machst Du das hier eigentlich so...“ setzte ich an.
Er sah mich fragend an.
Ich räusperte mich: „Ich meine, das Leben im Auto und so...“
Steve sah sich um, als wollte er sich versichern, dass sein Auto noch da stand.
„Paar Wochen. Bis mir das Geld ausgeht. Dann gehe ich wieder ein bisschen arbeiten.“ „In Arizona?“ Er nickte.
„Gibt da nen Outdoorladen. Da kann ich immer hin.“
Er hob die Flasche, aber sie war leer. Ich reichte ihm noch ein Bier.
„Was machst Du denn eigentlich so?“
Ich spürte, wie ich rot wurde. Ob man das im Feuerschein sah?
„Ach, ich hab so einen Job in Europa, in so einer Organisation, nichts besonders, halt Geld verdienen...“
Ich hätte auch sagen können: Firma. Hätte auch sagen können: Assistent der Geschäftsführung. Aber wozu? Steve reichte die Antwort.
„Ich kann nicht verstehen, wie die Leute Bürojobs machen und in ihrer Freizeit an Plastikgriffen trainieren können,“ meinte er nach einer Weile. „Der Fels...das ist es doch. Das ganze Drumherum hier,“ er blickte in den Himmel.
Die Sterne schienen hell und klar. Das Feuer war fast runtergebrannt.
„Das ist es doch. Verstehst Du?“
Ich nickte. Es wurde kalt. Steve stand plötzlich auf.
„Okay Chris, bis morgen.“
Ich nickte. Nachdem er verschwunden war, blickte ich noch lange in die Glut.
Mühsam zog ich mich die Säule hoch. Meine Finger tasteten ihren Rand entlang, auf der Suche nach Löchern, Rissen, irgendetwas, was mir Halt geben würde. Die Füße klammerten sich an die Seiten der Säule, meine Beine zitterten vor Anspannung. Der Strahler warf meinen Schatten auf die Felswand und ich konnte in den schattigen Stellen nicht genau sehen, wo ich hingriff. Mein Atem verdampfte in der Luft. Unter mir lagen drei Matten, dachte ich. Wenn ich stürzen würde, würde ich mir nichts brechen. Noch ein Zug und ich könnte meine Füße sicher abstellen, wäre da, wo Bird abgesprungen war. Er war seit jenem Tag nicht mehr in Barker Ranch aufgetaucht. Steve war wahrscheinlich im Camp. Aber ich konnte die Route mittlerweile mit verbundenen Augen klettern. Die Griffe bis zur Säule beherrschte ich, aber dann kam ein langer Zug in einen Überhang, bei dem ich jedes Mal scheiterte. Mit jedem Versuch wurde ich wütender, besessener. Meine rechte Hand fand den Halt in der Säule. Ich zog mich vorsichtig hoch, setzte den linken Fuß höher, den rechten Fuß, stand sicher, richtete mich auf, streckte mich, um nach dem Griff zu reichen, aber es reichte einfach nicht, ich stellte mich auf die Zehenspitzen, kam nicht heran. Dann verlor ich das Gleichgewicht und landete krachend auf den Matten, Magnesium wirbelte im Licht meines Strahlers um mich herum.
Am nächsten Abend nahm ich Klemmkeile mit. Wenn mich irgendwer sehen würde, wäre mein Ruf dahin. Klemmkeile in diesem brüchigen Stein zu benutzen war verpönt, weil sie den Fels sprengen könnten. Wieder zog ich mich die Säule hoch, und statt nach der Schuppe zu greifen, nahm ich einen Keil von meinem Klettergurt, streckte ihn hoch und zog ihn in den Riss unterhalb der Schuppe. Ich ruckelte vorsichtig am Keil, aber er saß fest. Ich grinste. Nun konnte ich eine Schlinge in den Keil verknoten, auf die ich mich stellen konnte – und ich konnte den Griff erreichen.
„Endlich, Du Bastard“, dachte ich und zog mich nach oben.
Ich übte den Zug immer und immer wieder. Irgendwann schaffte ich es, den Keil wegzulassen. Dann nahm ich mein Werkzeug und hebelte den Keil aus der Spalte. Ich inspizierte den Griff im Licht des Strahlers, aber man erkannte nicht, dass ich daran gearbeitet hatte. Ich sprang auf die Matten, packte meine Sachen, löschte den Strahler und schritt durch die dämmerige Wüste zurück zum Camp. Scheiß auf Dich, Bird, lachte ich: Planung und Technik hatten gesiegt, Barker Ranch war geschafft.
„Genial“, rief Steve von unten, als ich den Griff erreichte.
„Wann hast Du das denn geübt?“
Ich machte mir ein wenig Sorgen. Ich war mir nicht sicher, wie fest die Schuppe noch in der Wand saß. Ein kontrollierter Absprung auf die Matten wäre okay, aber ich wollte nicht unkontrolliert fallen, dazu war es zu hoch. Ich zog mich die letzten Meter hoch, lehnte mich über den Ausstieg und stand schließlich auf dem Rand der Felsen. Steve applaudierte mir zu und ich grinste, während ich mich an den Abstieg auf der anderen Seite machte. Als ich mich wieder durch den Spalt in den Kessel schob, zog Steve sich gerade die Kletterschuhe an.
„Barker Ranch geschafft. Chris, ich bin beeindruckt.“
„Hast Du eigentlich irgendjemand sonst von dem Gebiet erzählt?“ fragte ich.
„Bist Du bescheuert?“, lachte er.
„Jetzt will ich es auch mal versuchen.“
„Ich pass auf“, sagte ich und streckte meine Arme aus, um ihn abzufangen, falls er fiel. Steve hatte die ersten Züge mittlerweile gut drauf. An der Säule hatte er normalerweise Probleme, aber dieses Mal meisterte er die ersten Züge und stabilisierte sich etwas. Nun stand er am Ende und fixierte die Schuppe. Ich war etwas unsicher. Wenn er stürzen würde, könnte ich ihn kaum abfangen. Seine Beine zitterten. Es schien mir wie eine Ewigkeit, die er so ruhig in der Wand hing, vor dem Sprung. Und dann sprang er. Seine Hände erreichten die Schuppe, aber ich merkte schon während des Absprungs, dass etwas nicht stimmte. Da sah ich, wie die Schuppe in seinen Händen ausbrach. Sie brach einfach weg. Steve fiel, und er fiel seitlich. Ich sprang zu ihm hin, konnte ihn aber nicht erreichen. Er schlug mit dem Kopf voll auf dem felsigen Boden auf. Blut lief aus seinem Schädel in den Sand.
„Steve,“ rief ich, und packte ihn am Kragen.
Seine Augen blickten starr nach oben. In seinen Händen hielt er noch immer die Schuppe, die genau dort ausgebrochen war, wo ich den Keil gesetzt hatte. Ich schüttelte ihn, rief seinen Namen, aber er bewegte sich nicht. In meinen Kopf pochte es laut, alles war wie in Watte, der Boden voller Blut. Ich wollte einfach nur weg von diesem verfluchten Ort. Aber ich überlegte. Vernunft, dachte ich. Nur Bird kannte den Ort. Ich packte meine Sachen, schob mich durch den Spalt, ein paar Tränen vernebelten meine Sicht und meine Nase lief. Draußen rückte ich den Strauch sauber zurecht, so dass niemand von außen vermuten könnte, dass hier ein Eingang sei. Dann atmete ich tief durch, wischte die Tränen ab und ging durch den Wind und die Wüste zum Camp. Die Schweden riefen mir etwas zu, ich hob wortlos meine Hand zum Gruß. Hastig packte ich meine Sachen, öffnete das Handschuhfach, holte das GPS-System heraus und gab „Los Angeles, Holiday Inn Hotel“ ein. Ich hatte Steve nicht getötet. Und Hilfe wäre sowieso zu spät gekommen. Nach ein paar Stunden hatte ich die Wüste verlassen. Ich hielt an einem Fastfood-Restaurant, wusch mir auf der Toilette durch Haare und Gesicht, nahm meinen Koffer und wechselte meine Klamotten: braune Lederschuhe, Stoffhose, Hemd. Ich fühlte mich, als würde ich eine Rüstung tragen, durch die mich niemand verletzten konnte. Meine Klettersachen stopfte ich in eine Reisetasche und vergrub sie tief im Kofferraum. Als ich den Motor wieder anließ, um die letzten Meilen nach LA zu fahren, fiel mir ein, dass ich Barker Ranch geschafft hatte.