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Begegnungen
Begegnungen
Wie in jedem Jahr, wenn er auf die Insel kommt, hat er das Gefühl, die Zeit sei stehen geblieben.
Es gibt fast keine Veränderungen, selbst das Wetter ist gleich. Immer noch stehen die älteren Bewohner des kleinen autofreien Örtchens am Ortseingang und bieten ihre Dienste beim Gepäcktragen an. Und wie in jedem Jahr hat er ein schlechtes Gewissen, den alten Leuten sein Gepäck zu übergeben. Sie sehen so gebrechlich aus, aber er weiß, dass sie diesen kleinen Nebenverdienst brauchen.
Sie sind gestern am frühen Abend in San Angelo angekommen. Den ersten Tag verbrachten sie traditionsgemäß am Maronti-Strand. Seine Frau hatte sich den üblichen Sonnenbrand geholt. Er versteht bis heute nicht, warum sie sich der Mittagssonne aussetzt. Mit leichter Temperatur liegt sie im Bett und kühlt Gesicht und Körper.
Er sitzt an diesem zweiten Abend an der Bar des kleinen Hotels, lässt seine Blicke durch den Raum schweifen, ist angenehm überrascht, als Antonio, der Barkeeper ihn fragt: "Wie immer einen Gin-Tonic, Roger?" Es hat sich nichts verändert.
Die Bar ist nur etwa zu einem Drittel besetzt. Unweit von ihm sitzen Urlauber, dem Verhalten und der Lautstärke der Gespräche nach zu urteilen. Er beobachtet die Gruppe, während er allein an der kleinen Bar sitzt.
Die schlanke, lebhafte Frau im hellen Hosenanzug ist ihm sofort aufgefallen. Diese schrägstehenden Augen, der kurze Pagenschnitt und wie sie den Kopf beim Lachen nach hinten streckt - was für eine Ähnlichkeit! Sie lacht oft und gestikuliert dabei, berührt wie zufällig ihre Nachbarn im Gespräch. Er kann der Frau keinen Mann aus der Gruppe zuordnen, sie ist zu allen gleich freundlich. Immerzu langt sie in die Schale mit Nüssen, die auf dem Tisch steht und wirft sich die einzelnen Nüsse schwungvoll in den Mund. Wie hypnotisiert muss er hinschauen. Die Haarfarbe ist eine andere, ansonsten hätte es Mareile sein können.
Mareile... Drei Jahre liegt die Bekanntschaft zurück, wie oft hat er in diesen drei Jahren daran gedacht? Er kann sie einfach nicht vergessen. Diese Begegnung hat ihn damals fast aus dem Gleichgewicht geworfen.
Warum fährt er wohl in jedem Jahr auf diese kleine Insel? Er hofft immer, dass sie einfach auftauchen könnte. So wie damals.
Er hat jetzt Lust, mit dieser fremden Frau über seine Begegnung zu sprechen, weiß aber gleichzeitig, dass das als Anmache gesehen werden würde. Warum eigentlich? Weil man Männern keine tiefen Gedanken zutraut, ihnen unterstellt, dass sie unfähig seien, sich zu offenbaren? Es ist ihm mehrfach aufgefallen, dass Frauen ganz überrascht sind, wenn er sich an ihren Diskussionen beteiligt. Liegt das an seinem Beruf, an seiner Ausstrahlung?
Er würde jetzt darüber sprechen wollen, von einer Frau hören, ob eine einzige Begegnung ausreicht, das Leben in Frage zu stellen.
Er schaut wieder zu der Gruppe hin, starrt die fremde Frau an, bestellt sich einen neuen Gin-Tonic und überlässt sich seinen Erinnerungen.
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Seine Anwaltskanzlei drohte ihn in jenem Jahr aufzufressen. Zwei Prozesse hatte er bereits verloren. Ein Hauptmandant aus Mailand hatte ständig neue Forderungen, die er durchgesetzt haben wollte. Dies war sein größter Mandant. Er konnte es sich nicht leisten, diesen Mandanten zu verlieren. Sein Spezialgebiet war Auslandsrecht. Er arbeitete sehr viel und oft an den Wochenenden.
Freizeitmäßig lief so gut wie nichts. Seine Squashkumpel fragten nicht mehr nach, ob er zum Spielen komme.
"Melde dich einfach, wenn dir einfällt, dass du Freunde hast!" hatte Gabriel neulich bei einer zufälligen Begegnung gesagt. Er hatte ihm nachdenklich hinterhergeschaut.
Auch seine Frau Angela war nicht mehr bereit, die langen Arbeitszeiten zu akzeptieren. Angela wünschte sich außerdem ein Kind. Es klappte nicht, sie wurde nicht schwanger. Sie waren beide organisch gesund, der Arzt sprach von psychosomatischen Störungen.
Sich einfach lieben, ohne dass die Frage nach dem Kind stand. Wann waren sie das letzte Mal voller Leidenschaft übereinander hergefallen, einer süchtig nach dem anderen, eintauchen, fallen lassen? Er konnte sich nicht erinnern.
Angela beschwerte sich nicht mit Worten, sie schaute nur. Alles war besser als diese Blicke!
Als er an einem Abend Mitte Mai spät nach Hause kam, lief Angela ihm entgegen, freudig erregt und sagte ihm, dass sie eine Woche Ischia gebucht habe. Der Abflug wäre in drei Wochen und sie dulde keine Ausrede. Er habe seit einem Jahr keinen Urlaub gehabt!
Er schaute auf sie, wie sie so vor ihm stand, mit leuchtenden Augen., das hellbraune Haar mit einem Tuch aus der Stirn gebunden, Lachfältchen im Gesicht, der Mund halboffen, voller Erwartung. Sie war eine schlanke, attraktive Frau.
Er war überrascht, ging in Gedanken seine Termine durch. Die Akte des Mandanten aus Mailand musste bis nächste Woche abgeschlossen sein, das andere ließe sich verschieben. Ja, meinte er zu Angela, eine Woche müsste sich einrichten lassen.
„Möchtest du ein Glas Wein?“ fragte sie ihn mit blitzenden Augen und er spürte eine leichte Erregung in seiner Körpermitte.
„Ja, gern!“ rief er aus dem Schlafzimmer, wo er sich umzog. Im Spiegel sah er einen Mann in mittleren Jahren, groß, nicht schlank, dunkelblondes lockiges Haar. Er hatte einen fraulichen Mund umgeben von zwei Falten, die ihm jederzeit ein hochmütiges Lächeln erlaubten, das Lächeln der Leute, die das letzte Wort zu behalten gewohnt waren. Ich muss etwas für meine Figur tun, dachte er, ich werde fett! Nicht heute, lächelte er seinem Spiegelbild zu und setzte sich zu Angela.
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Sie landeten am späten Vormittag in Neapel, fuhren vom Flughafen mit dem Taxi zum Hafen „Beverello“, um mit der Fähre auf die Insel überzusetzen.
Die Hitze hatte sich schon beim Verlassen des Flugzeuges wie eine Glocke auf sie gesenkt und wurde im Taxi unerträglich, da die Klimaanlage ausgefallen war. Sie hatten Glück, die nächste Schnellfähre fuhr in zehn Minuten. Eine Stunde später waren sie in ihrem Hotel.
Das Zimmer war klein und spartanisch eingerichtet, kein Telefon, kein Fernsehgerät. Ihn störte es nicht, er ließ sich auf das Bett fallen, prüfte die Matratze, fand das Bad groß und sauber, das reichte ihm.
In den nächsten Tagen unternahmen sie Ausflüge, erkundeten die Insel. Trotzdem diese Reise Angelas Idee war, konnte sie nicht entspannen.
Sie liebten sich jede Nacht. Ihm kam es manchmal wie eine Pflichtübung vor, weil Angela nie vergaß, zu erwähnen, dass es vielleicht dieses Mal klappen könnte. So viele Eisprünge konnte keine Frau haben! Leichte Unzufriedenheit kam bei ihm hoch.
Selbst harmlose Bemerkungen zogen Unmut nach sich. Am vierten Morgen regte sich Angela über das einfache Frühstück auf. Der Kaffee schmecke nicht, das Büffet so leer, die Kinder im Hotel so laut, er so still. Sie hatte an allem etwas auszusetzen.
„Weißt du was“, sagte er zu ihr „ Ich finde, wir sollten uns für einen Tag trennen, jeder machen, wozu er Lust hat. Such du dir etwas, woran du dich erfreuen kannst, ich scheine es heute nicht zu sein!“
Er stand ruckartig auf, schmiss seine Serviette auf den Tisch, ließ sein Frühstück stehen und lief los.
Sie blieb regungslos zurück.
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Er war einfach losgelaufen, die Straße bergauf bis in den kleinen Ort Serarra hinein. Dort kam er allmählich zu sich, wunderte sich über seinen Ausbruch. Er überlegte kurz, umzukehren, verwarf den Gedanken und beschloss, den Berg hinunterzulaufen. Er wählte den schwierigen, unbefestigten Weg. Mehrfach rutschte er aus, litt zunehmend unter der Hitze und war erleichtert, als er gegen Mittag den kleinen Ort San Angelo vor sich sah. Von weitem entdeckte er ein Hotel am Marktplatz mit einer Bar.
Die Frau in der roten Hose und dem weißen T-Shirt, die ein Glas Wein vor sich hatte und in ein Buch vertieft war, sah er sofort. Blind fasste sie in die Erdnussschale vor sich, nahm mehrere Nüsse in die Hand, bog den Kopf nach hinten und warf sich die Nüsse in den Mund. Fasziniert beobachtete er sie, um zu sehen, ob eine der Nüsse runterfiel. Sie bemerkte seinen Blick, unterbrach ihre Lektüre und schaute ihm direkt in die Augen, nicht sehr lange.
Er setzte sich schräg gegenüber. Er hatte Lust zu reden.
Sie begannen das uralte Spiel, Blick zu ihr, verstohlen, Blick zu ihm, verstohlen, kurzes angedeutetes Lächeln, das ganze von vorn. Alles solange, wie es dauert, ein Glas Wein zu trinken. Sie stand auf, bezahlte und lief Richtung Kirche. Daran, dass sie ihr Tempo verlangsamte, sah er, dass sie wusste, er würde ihr folgen.
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„Ich heiße übrigens Mareile und fahre seit Jahren auf diese Insel. Ich bin immer wieder begeistert! Ich mag die Natur, das Licht, die Menschen, aber am allermeisten mag ich die Thermalquellen. Wenn ich in das warme Wasser eintauche, vergesse ich alles. Ich überlasse mich meinen Gedanken und meinem Körper. Kennen Sie die älteste Thermalquelle der Insel, die Cavascura?“ begann sie das Gespräch mit ihm.
„Nein, ich kenne sie nicht, trotzdem ich schon mehrfach hier auf der Insel war. Auch ich bin von Landschaft und Leuten und natürlich von der süditalienischen Küche begeistert. Und ich heiße Roger!“ sagte er zu ihr.
„Wir sollten diese alte Thermalquelle aufsuchen. Und zwar jetzt! Sie sehen zwar nicht aus wie Roger Moore, aber Sie schaffen den Weg sicher trotzdem. Es geht fast nur bergauf!“ lachte sie und begann den Berg hinaufzulaufen.
Er lief hinter ihr her, schwitzte stark und der Abstand zwischen ihnen vergrößerte sich rasch.
Sie war älter als Angela und auch nicht so attraktiv. Der Wind fing sich in ihrem kurzem Haar, so dass man ihre hellen Augen fast nicht sehen konnte. Die Hose schlackerte an ihrem Körper und wurde nur mit einem Gürtel gehalten.
Ihr Äußeres hatte etwas Widersprüchliches, helle Augen zu dunklem Haar, eine knabenhafte Figur mit vollen Brüsten. Alles zusammen wirkte sehr apart. Ihre Bewegungen waren spontan und trotzdem anmutig. Kleine Fältchen um die Augen konnten ihrer jugendlichen Ausstrahlung nichts anhaben.
Das Spielerische in ihrem Wesen faszinierte ihn schnell, immer wieder bückte sie sich, hob Steine oder Äste auf, zeigte sie und fragte ihn, was er sich dabei vorstellte. Über seine Antworten amüsierte sie sich. Als sie sah, dass er vom Laufen völlig außer Puste war, fragte sie ihn, wann er das letzte Mal im Gras gelegen, in den Himmel geschaut und sich die in den Wolken verloren habe. Er erinnerte sich nicht, registrierte aber den Vorwand und war dankbar für diese kleinen Pausen. Die letzten Meter lief sie neben ihm.
Das war der Moment, wo ihm bewusst wurde, dass er ihrem Charme erlegen war, diesem verführerischem Charme und dass sie zu den Menschen gehörte, denen man ansehen konnte, dass sie selbst leicht zu verführen waren. Immer wieder berührte sie ihn wie zufällig, wenn sie etwas erklärte. Selbst jetzt, in diesem Moment der Erinnerung, richteten sich die Häarchen an seinen Armen auf und wohlige Schauer durchrannen seinen Körper.
Ihnen blieb eine Stunde Zeit für die Therme, ein Bad in einer der steinernen Badewanne mit einer Kopfstütze aus Stein und ein kurzer Besuch in der Natursauna.
„Ich habe keine Badehose mit!“ bemerkte er etwas ratlos.
„Ja, und? Gehst du zu Hause in Badesachen in die Wanne?“ lachte sie ihn aus.
Er stellte für sich fest, dass er in letzter Zeit auch wenig gelacht hatte.
Mit rotem Kopf und total erhitzt verließ er nach 10 Minuten die Wanne.
In der Sauna bemühte er sich, seine Blöße zu bedecken, was sie amüsierte. Sie bewegte sich ganz natürlich in ihrer Nacktheit, ohne jegliches Schamgefühl. Ganze fünf Minuten hielt er es in der Hitze aus!
„Und nun?“ fragte sie ihn „Wollen wir noch zu Peppino in die Trattoria und eine Stärkung zu uns nehmen?“
Er war einverstanden.
Die Trattoria von Peppino lag mitten in einem großen Garten. Sie aßen Bruschetta mit Gorgonzola und frittierte Sardinen und Kalmare. Dazu tranken sie einen kühlen Weißwein. Sie nahm jede einzelne Sardine in die Hand, legte den Kopf nach hinten, schloss die Augen, sagte: „Köstlich!“ und verspeiste sie voller Genuss. Es machte ihm Vergnügen, ihr beim Essen zuzusehen.
Sie selbst erzählte wenig von sich privat, verstand es aber, ihn erzählen zu lassen. Er ertappte sich, dass er relativ schnell von seinem schwierigsten Mandanten und die Probleme, die er mit ihm hatte, sprach. Sie hörte ihm zu, fragte nach und schlug ihm eine mögliche Lösung vor, die ihn überraschte.
Sie hatte die Gabe, sich zurückzunehmen und den anderen in den Mittelpunkt zu stellen, brachte ihn immer wieder zum lachen und war geistreich. Sie gab kurze Antworten, nickte zustimmend wie jemand der genauso dachte wie er. Es entwickelte sich jene Vertrautheit zwischen ihnen, die keine Vergangenheit und auch keine Zukunft hatte. Sie erschöpfte sich in der Gegenwart. Er fühlte sich in diesem Moment vollkommen verstanden.
Ganz allmählich kam die Dunkelheit, das diffuse Licht ließ sie geheimnisvoll und ihre Haut golden erscheinen. Der Wein begann zu wirken, er fühlte sich leicht und glücklich.
Sie beschlossen, noch kurz am Strand entlang zu laufen.
Der Strand war fast leer, ganz vereinzelte Besucher, einsame Pärchen.
Sie ließen sich in den Sand fallen, betrachteten das offene Meer und den Sternenhimmel. Er kannte fast alle Sternbilder, erzählte ihr, dass er gern auf einen anderen Planeten möchte, weil die Erde so klein sei. Nein, sie wollte das nicht, sie wollte erst alle Ecken dieser kleinen Erde erkunden.
Sie lagen auf dem Rücken, der Sand war warm. Die laue Luft umspielte ihre Körper. Es hatte etwas Beruhigendes, dieser weite Sternenhimmel über ihnen. Seine Hände begannen auf ihrem Körper zu wandern. Er wollte noch einmal ertasten, was er im Thermalbad gesehen hatte, ihre festen Brüste fühlen, die glatte Haut berühren. Er war schnell erregt.
„Ich weiß gar nicht, ob ich dich jetzt lieben möchte“, hörte er sie sagen.
„Nein“, meinte er „musst du auch nicht!“ und verstärkte seine Streicheleinheiten. Er nahm ihre Lippen zwischen seine Lippen, hoffte, dass ein Zeichen von ihr ausgehen würde. Da war es schon, wie das Knabbern eines Fisches am Köder. Er schob seine Zunge gegen ihre Zunge, das schwierigste war getan, das übrige ergäbe sich, das wusste er. Ein erster Kuss ergab sich fast nie, ihm gingen viele wortlose Absprachen und Berührungen voraus.
Sie schmiegte sich an ihn, fühlte seine Erregung. Sie zogen sich gegenseitig aus, kosteten ihre Körper mit ihren Säften, fühlten die Erregung des anderen. Ihre Mitte fand sich, erst leise Bewegungen, ganz zart, um dann immer schneller zu werden, ekstatisch fast. Er merkte, wie diese Welle kam, über ihnen gemeinsam zusammenschlug.
Fast ein wenig erschrocken hatte er innegehalten. Wie konnte diese große körperliche Harmonie innerhalb dieser kurzen Zeit entstehen? fragte er sich. Er kannte sie doch gar nicht und erst jetzt fiel ihm auf, dass sie so gut wie nichts von sich erzählt hatte.
Sie zogen sich an und liefen in den Ort zurück, damit er ein Taxi zu seinem Hotel nehmen konnte. Die Verabschiedung ging sehr schnell und im Taxi spürte er zum ersten Mal diese Sehnsucht, die ihn die nächsten Jahre begleiten sollte. Als das Taxi den nächsten Ort erreichte, bat er den Fahrer, zurückzufahren. Einmal noch wollte er sie sehen, ihre Adresse erfragen. Aber der Platz vor dem Taxistand war leer.
Angela schlief bereits, als er im Hotel ankam, wachte kurz auf, fasste nach seiner Hand und schlief wieder ein. Er lag noch lange wach.
Sie fuhren seit jenem Jahr immer im Juni auf die Insel.
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Lautes Gelächter unterbricht seine Gedanken.
Er blickt wieder in Richtung der kleinen Gruppe, die jetzt im Auflösen begriffen ist.
Sie hat längst bemerkt, dass der Mann sie beobachtet, begibt sich an die Bar und bestellt sich ebenfalls einen Gin-Tonic. Der Barkeeper stellt eine kleine Schale Erdnüsse für sie beide hin, als er die Getränke reicht. Sie langt sofort in die Schale und er lacht.
„Warum lachen Sie?“ fragt sie, fast ein wenig angriffslustig.
„Sie erinnern mich an jemanden, vor allem Ihre Bewegung, wenn Sie den Kopf nach hinten werfen und gleichzeitig die Nüsse in den Mund fallen lassen. Schon den ganzen Abend muss ich daran denken.“
„Das interessiert mich sehr, wo ich doch der Meinung war, einmalig zu sein! Wie heißt sie denn, meine vermeintliche Doppelgängerin?“ fragt sie und lacht.
„Nun, sie hat einen ungewöhnlichen Namen, ich habe ihn vorher noch nie gehört, sie heißt Mareile. Wir verbrachten nur einen einzigen Tag zusammen und trotzdem kann ich sie nicht vergessen. Ich frage mich immerzu, ob sich das Leben durch eine einzige Begegnung verändern kann.“
Er schaut auf sie und sieht, wie das Lachen verschwindet, dass sie blass wird. Selbst in diesem schummrigen Licht ist zu sehen, wie sie blass wird.
„Ist Ihnen nicht gut?“ fragt er sie.
„Doch, doch, mir geht es gut, erzählen Sie mir von Mareile, es würde mich interessieren, warum sie Sie so beeindruckt hat. Natürlich nur, wenn Sie mögen.“
Und dann erzählt er noch einmal von der Begegnung, die ihm gerade als Erinnerung durch den Kopf gegangen war. Sie hört die ganze Zeit aufmerksam zu, sitzt fast bewegungslos da und schaut ihn an. Selbst als er mit seiner Erzählung am Ende ist, schaut sie ihm noch unentwegt ins Gesicht.
Er erschrickt fast, als sie zu sprechen beginnt:
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„Als ich den Namen hörte, dachte ich im ersten Moment an meine Schwester, die ganze Zeit über musste ich an sie denken. Ich wurde das Gefühl nicht los, diese Frau zu kennen. Und dann wusste ich es, es war meine Schwester, meine um ein Jahr ältere Schwester.
Der Hass kam augenblicklich, legte sich wie früher wie ein Klumpen auf meinen Magen, die Verbitterung kam als Galle die Speiseröhre hoch. Wie gut ich dieses Gefühl kannte! Und ich hatte es nicht vergessen. Nun kam noch der Neid hinzu! Immer noch hatte Mareile diese Ausstrahlung. Sie betrat einen Raum und man hatte das Gefühl, die Luft veränderte sich. Mit ihrer schmalen Gestalt, ihrem feinen Gesicht mit den wachen Augen und dem verschmitztem Lachen eroberte sie sich schnell die Sympathien. Sie war verspielt, ja, verspielt und bezog ihre Umgebung in ihre Spiele ein. Ich erinnere mich, wie sie einmal mitten in einer Unterhaltung eine kleine Flasche aus der Tasche holte, aufdrehte, einen Stab mit Öse herauszog und Seifenblasen blies.
„Jeder kann sich etwas wünschen!“ rief sie. Alle waren begeistert.
Ich hatte nie wirklich eine Chance gegen Mareile.
Heute muss ich fairerweise sagen, dass meiner Schwester die Art ihrer Ausstrahlung nicht bewusst war."
"Jaa, ja, das stimmt. Sie wirkte verspielt und gleichzeitig wieder so ernst. Mir war vorher noch nie so jemand begegnet. Es war ein Widerspruch, der mich faszinierte. Aber erzählen Sie weiter!"
"In meiner Jugend mochte ich Mareile nicht, war eifersüchtig, begann sie zu hassen, als auch Martin ihr verfiel. Er war meine ganz große Liebe.
Ich war im letzten Schuljahr, er studierte in meiner Stadt. Wir trafen uns fast täglich. Mareile studierte in Berlin Mikrobiologie und kam selten nach Hause. Martin war aus Berlin. Ich war mir sicher, dass die beiden sich nicht treffen konnten, arrangierte es so, dass, wenn Mareile kam, Martin zu seinen Eltern fuhr. Er wunderte sich, dass er nie auf meine Schwester traf.
Sie trafen aber doch aufeinander.
Kurz vor meinem Abitur starb unsere Großmutter. Ich benachrichtigte Martin, der an diesem Wochenende bei seinen Eltern war und auch meine Schwester. Beide versprachen mir, schnellstmöglichst zu kommen.
Sie trafen auf einem Bahnhof in Berlin aufeinander. Bei Mareile war der Henkel ihrer Tasche gerissen, eine ganz banale Sache. Martin half ihr und lud sie anschließend auf eine Tasse Kaffee ein. Sie verpassten den Zug, auch den nächsten, nach dem übernächsten erkundigten sie sich gar nicht mehr.
Was das schlimmste war, keiner der beiden meldete sich. Ich wurde fast verrückt vor Angst. Martin kam als erster zurück, völlig verändert und erzählte, dass er eine andere Frau kennen gelernt und sich verliebt habe.
Ich verstand die Welt nicht mehr. Wie konnte man sich so schnell in eine andere Frau verlieben, wenn man mit jemandem fest zusammen war?
Das schlimmste war für mich, dass Martin gar nicht wusste, dass es meine Schwester war.
Mareile kam Mitte der Woche nach Hause, traf dort auf Martin und an der Reaktion der beiden sah ich, dass sie nicht wussten, wie wir alle zueinander standen. Mareile kannte Martin nicht, hatte ihn vorher nie gesehen, weil ich es immer verhindert hatte."
"Aber sagen Sie, hat er nicht die Ähnlichkeit zwischen ihnen beiden bemerkt? Selbst mir ist das doch heute Abend gleich aufgefallen!" unterbrach er sie nochmals.
"Ja, das fragte ich mich auch. Aber erst später. Ich fragte mich, worüber sie gesprochen hatten. Wieder und wieder fragte ich mich das. Ohne Ergebnis. Ich konnte das nicht verstehen und vor allem nicht verzeihen. Mareile beteuerte immer, dass sie nichts gewusst habe, dass es ihr Leid tue und das diese Begegnung so intensiv gewesen sei. Diese kurze Begegnung zwischen den beiden veränderte unser aller Leben.
Ich brach sämtliche Verbindungen zu meiner Schwester ab, hörte nur noch sporadisch von ihr.
Martin wechselte die Universität.“
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Nachdem sie am Ende ist, schweigt sie eine Weile, hängt ihren Gedanken nach, überdenkt die Auswirkungen dieser damaligen Begegnung. Ja, das Leben kann sich nach einer kurzen Begegnung verändern.
Als sie endlich hochblickt und auf den Mann sieht, weiß sie, was sie tun wird. Dieses Gespräch am heutigen Abend wird für sie ein Anlass sein, mit Mareile Verbindung aufzunehmen. Sie will unbedingt wissen, wie Mareile diese Begegnung sieht, was sie veranlasst hat, so wenig von sich persönlich zu erzählen. Und sie ist plötzlich auf ihre Schwester neugierig, will wissen, wie es ihr all die Jahre ergangen ist. Sie ist dem Mann richtiggehend dankbar und merkt, dass dieser Wunsch, ihre Schwester wiederzusehen, schon lange in ihr keimt. Nun, wo ihre innere Entscheidung gefallen ist, fühlt sie eine unendliche Erleichterung. Sie schaut auf den Mann, sieht seine innere Zerrissenheit. Würde er ihr die Frage nach der Adresse stellen?
Eine eigenartige Situation.
Er weiß nicht, was er sagen soll. Die Erfüllung seines größten Wunsches, Mareile wiederzusehen, ist zum Greifen nah. Er braucht ihn nur aus sprechen, diesen Satz mit der Bitte nach der Adresse. Bis jetzt ist es nur ein Traum von einer Veränderung seines Lebens. Mit dem lauten Aussprechen muss er sich entscheiden. Und er stellt mit einem Mal fest, dass er im Grunde keine Veränderung will. Jetzt, wo alles ausgesprochen ist, merkt er, dass er die Erinnerung, das Bild liebt, das er sich von dem Abend gemacht hat. Er hat dieses Bild gehegt und gepflegt und ist bei Problemen dahin geflüchtet. So konsequent er in seinem Beruf ist so inkonsequent ist er in seinen persönlichen Entscheidungen. Es war plötzlich alles so klar.
Fasziniert beobachtet sie ihn. Als er aufsieht, weiß sie, wie er sich entschieden hat.
Beide lächeln.