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Begleitung
Das erste Mal sah ich ihn bewusst an einem Sonntagnachmittag, als ich mit dem Rad von einem Brunch bei Freunden nach Hause zurückfuhr. Ein kleiner Junge, wohl noch im Vorschulalter, der eine Baseballmütze mit deutscher Fahne auf dem Kopf trug. Er hielt seine Mutter, die ein schlichtes Kleid und helles Kopftuch trug, an der Hand und betrachtete neugierig die Umgebung. Er schaute hoch zu einer großen Kastanie, deren Äste schwer unter dem Gewicht der Blütenstauden zu tragen hatten, beobachtete einen kleinen kläffenden Hund; in der Ferne vor sich sah er auf das glitzernde Funkeln des Wasserfalls im Park.
Er fiel mir auf, weil die natürliche Unruhe und Neugier seines Blickes nicht zu seinen bedächtigen Schritten zu passen schien; da lag eine Kontrolle in seinen Bewegungen, die mich überraschte. Dadurch in meinem trägen Wahrnehmungsfluss unterbrochen, warf ich einen flüchtigen neugierigen Blich zurück, als ich an ihnen vorbeifuhr. Überrascht stellte ich fest, dass seine Mutter offensichtlich blind war – ihre Augen waren fast vollständig geschlossen und verrieten keine Bewegung. An ihrem Arm trug sie eine Blindenbinde, aber sie hatte keinen Stock dabei; der Kleine schien sie auf diesem Spaziergang zu führen.
Ich hielt an und betrachtete die beiden noch einen Moment. Der Junge blieb seinerseits mit dem Blick an mir hängen, wohl einen halben Block von mir entfernt. Er konnte nicht erkennen, ob ich ihn ansah oder vielleicht nach einem Freund weiter hinter ihm Ausschau hielt. Einem inneren Impuls folgend hob ich die Hand und winkte ihm zu. Nur zögernd hob er die freie Hand und winkte zurück.
Nachdem er mir dieses eine Mal aufgefallen war, bemerkte ich ihn danach regelmäßig. Im Nachhinein scheint es mir, als hätte ich ihn nie allein oder mit Freunden gesehen, sondern immer an der Seite seiner Mutter. Und immer, wenn er mir danach auffiel, versetzte mich dieses Bild von Mutter und Kind in einen Schwebezustand, meine Gedanken und mein Tun wurden unterbrochen, für einige Zeit sah ich den beiden hinterher, und ein Gefühl tiefer Gelassenheit überkam mich.
Bald danach zog ich wegen eines neuen Jobs nach Köln. Meine Beziehung mit Sven war in den letzten anderthalb Jahren an einem sexlosen Stadium angekommen, das es uns beiden merklich schwer machte, überhaupt noch von einer Beziehung zu sprechen – wir flüchteten uns in Begriffe wie „tiefe Freundschaft“ oder „Gefährten“, was aber nicht darüber hinweg täuschen konnte, dass wir eine wichtige Ebene verloren hatten, über die wir uns bis zu diesem Zeitpunkt als Paar definiert hatten.
Als ich das Stellenangebot aus Köln bekam, war uns beiden klar, dass ich es annehmen würde. Natürlich würden wir in engem Kontakt bleiben, uns besuchen – aber wir waren nicht mehr ineinander verliebt, und es gab kein Drama bezüglich meines Umzugs.
Das war merkwürdigerweise anders bei unseren Freunden, die über diesen Schritt sehr überrascht waren. In einem Gespräch fiel sogar das Wort „Verrat“ - Verrat an Sven, den ich in Berlin zurückließ. Sven war zu diesem Zeitpunkt bereits HIV-positiv, aber nichts deutete auf eine ernste Erkrankung oder auch nur Beeinträchtigung seiner Gesundheit hin. Offenbar war der Übergang unserer Beziehung in eine Freundschaft so sanft gewesen, dass viele Menschen in unserem Umfeld diese Entwicklung gar nicht mitbekommen hatten.
Ich kann jedenfalls sagen, dass HIV nicht der Grund war, dass wir uns getrennt haben, und auch nicht der Grund für meinen Umzug nach Köln.
Wohl aber war HIV der Grund dafür, dass ich zehn Jahre später wieder vermehrt nach Berlin kam, dort die Wochenenden verbrachte und auch Teile meines Urlaubs.
Sven war es über Jahre hinweg gesundheitlich gut gegangen, er sprach auf die Medikamente gut an, die Krankheit schien in Schach gehalten. Selbst als die ersten Resistenzen auftraten, gab es noch Ausweichmöglichkeiten auf andere Medikamentengruppen. Allerdings bekam er bei diesen immer stärker mit den Nebenwirkungen zu tun – heftiger Durchfall, der ihn über Tage an die Wohnung band, Nachtschweiß-Attacken, die ihm kaum eine andere Möglichkeit ließen, als zweimal nachts das Laken zu wechseln.
Und dann gab es Probleme mit seiner Leber, die unter der Last jahrelanger täglicher Tabletteneinnahmen aufzugeben schien. Es kam der Moment, an dem offensichtlich wurde, dass es zu Ende ging, eine Art Ankündigung des Todes, die uns Zeit ließ, noch einen Sommer lang viele Stunden miteinander zu verbringen und innerlich Abschied zu nehmen.
Nach einem der Besuche im Krankenhaus spazierte ich durch mein altes Viertel, um auf andere Gedanken zu kommen. Ich lief wie automatisch ein paar alte Wege ab, die ich früher oft zurückgelegt hatte: Den Weg zum Bäcker, zum Park, zurück zu einem Café am Mehringdamm, in dem ich oft nachmittags gesessen hatte, und zurück zu der Straße, in der ich einmal gewohnt hatte.
Ich überließ mich tiefen Ebenen meines Bewusstseins, kaum aktiv eingreifend, wohin es mich führen würde, darauf vertrauend, dass alte Bewegungsmuster übernahmen. Ich war in einer Art Trance, bemerkte kaum etwas von den Geräuschen, Gesprächen und Personen um mich herum, bewegte mich wie im Nebel. Die Gedanken liefen immer wieder zurück zu Sven, der jetzt auf einer Intensivstation lag, die Kanülen in seinen Armen, das bleiche, verzehrte Gesicht.
Mit einem Mal jedoch zog es meine Aufmerksamkeit ganz in die Gegenwart, auf das ungleiche Paar dort vor mir: Ein junger Mann, der seine Mutter mit langsamen Schritten auf dem Bürgersteig begleitete. Im ersten Moment war mir unklar, warum dieses Bild mich so aus meinem inneren Strom gerissen hatte, aber dann meinte ich in ihm den Jungen wieder zu erkennen, der mir vor so langer Zeit hier mehrmals über den Weg gelaufen war.
Er führte seine Mutter zu einer Bank in dem kleinen Park. Ich trat auf sie zu, um mich zu vergewissern, dass es tatsächlich der gleiche Junge von damals war. Als er mich herannahen sah, grüßte er nach einem Moment des Zögerns freundlich mit der Hand. Ich machte eine Geste zur Bank hin, und er nickte und bat mir einen Platz an.
„Ein schöner Tag heute“, sagte er.
Mir war gar nicht aufgefallen, wie das Wetter war – jetzt spürte ich zum ersten Mal heute bewusst die Sonne auf meiner Haut. Die Blätter der Büsche waren gelb und rot eingefärbt, einer der letzten warmen Tage in jenem Herbst.
„Ja, wunderschön. Perfekt für einen Spaziergang.“ Ich schaute zu seiner Mutter herüber, deren reglose Augen nach vorn starrten. Ihren Kopf wiegte sie leicht hin und her, als lausche sie einer Melodie, die sich hinter dem Rauschen der Zweige verbarg. „Deine Mutter?“
„Ja, ich gehe jeden Tag mit ihr spazieren.“ Seine Stimme klang ruhig, und warm. „Sie ist schwer krank, kann mich kaum mehr verstehen.“ Er strich sanft über ihre Hand, die auf ihrem Schoß ruhte. Dabei wehte ein Lächeln über ihr Gesicht. „Aber sie spürt in meiner Stimme, wie es mir geht.“ Er lächelte mir zu.
„Du kümmerst Dich schon sehr lange um sie?“
„Sie braucht mich, und ich bin für sie da.“
Das Selbstverständliche in dieser Aussage ließ mich lächeln. Wir unterhielten uns über seine Mutter, die an Diabetes erkrankt war und aufgrund von Komplikationen schon als junge Frau erblindet war. Mittlerweile war sie kaum mehr ansprechbar, er war der einzige, den sie intuitiv noch zu erkennen schien. Er sprach sehr ruhig, seine Stimme war wie ein warmer Klangteppich. Er redete mit mir, und gleichzeitig signalisierte er seiner Mutter, dass alles in Ordnung und sie in Sicherheit war.
Sein Vater hatte die Familie verlassen, als er sechs Jahre alt war. Die Schwester seiner Mutter hatte sich damals ihrer angenommen, und auch jetzt unterstützte sie die beiden und kümmerte sie sich tagsüber um seine Mutter, während er in der Schule war. Im Haus der Tante holte er sie dann nachmittags ab, machte einen Spaziergang mit ihr, und bereitete danach das Abendbrot für sie vor.
Es drängte mich, ihn zu fragen, ob es ihn nicht reute, sein Leben so stark auf seine Mutter ausrichten zu müssen. Allerdings wollte ich nicht unhöflich erscheinen, suchte nach einer behutsamen Formulierung, druckste herum, ohne wirklich auf meinen Punkt zu kommen. Irgendwann schaute er mich dann mit einem offenen Lächeln an: „Du meinst, ob ich Angst habe, ihretwegen etwas zu verpassen?“
Ich lief hochrot an. Ertappt.
„Was sollte ich verpassen?“ Seine Augen wirkten so aufrichtig, dass ich mich am liebsten in sie hätte fallen lassen. „Was gibt es schon groß zu verpassen? Hier werde ich gebraucht. Und was morgen kommt, sehen wir morgen.“
„Du bist so ruhig.“ Sven lächelte mich von seinem Bett aus an.
„Ich weiß“, grinste ich zurück. „Ich war spazieren und habe einen Yogi getroffen.“
„Erzähl mir davon.“ Seine Stimme war schwer, müde, und er schloss die Augen. Sven hatte gerade ein Beruhigungsmittel bekommen, und er würde wahrscheinlich während meiner Schilderung einschlafen. Ich umfasste seine Hand und erzählte davon, wie ich den Jungen zum ersten Mal getroffen hatte. Mein Blick schweifte dabei durch das Fenster. Die mächtige Kastanie im Hof begann ihr Laub zu verlieren.