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Behaims Erdapfel

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17.06.2004
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Behaims Erdapfel

Kraftlos stemmte er seinen Gehstock in den harten Regenwaldboden und kam stark hustend zum Stillstand. Im scheidenden 15. Jahrhundert hatte Martin Behaim sich ein letztes Mal an einer Afrika-Expedition beteiligt und befand sich nun irgendwo im tiefen Dschungel des Kongo-Deltas. Der Eingeborenenjunge, der stur voraus lief, forderte ihn mit einer einfachen Handbewegung auf, weiterzugehen. Nach der Landung mit dem Boot hatte die nachtschwarze Gestalt plötzlich am Strand gestanden und ihn in perfektem Portugiesisch darum gebeten, mit ihr zu kommen. Er würde finden wonach er suchte, hatte sie ihm versichert. Motiviert von diesem Gedanken rief Behaim seine letzten Kraftreserven ab und stolperte weiter durch das dichte Unterholz.

Schon bald blieb der knochige Junge tatsächlich stehen und deutete bestimmend auf eine unscheinbare Hütte am Rande einer Lichtung. Räuspernd machte Behaim die letzten Schritte auf die, aus langen Holzstäben zusammengezimmerte, Behausung zu und legte seine Hand an die geflochtene Schilfmatte, die den Eingang verdeckte. Doch der stumpfe Klang von aufprallendem Holz ließ seine Bewegungen jäh stoppen. Mit verdutztem Gesicht bemerkte er erst jetzt, dass sich auf der Lichtung ein ganzes Dorf ausbreitete. Dabei hätte er noch vor einer Sekunde schwören können, dass diese Hütte hier ganz alleine gestanden hatte. Nach dem Ursprung des Geräusches suchend, bemerkte er am anderen Ende der Lichtung einige Dorfbewohner, die anscheinend gerade dabei waren, die Überreste einer Hütte wegzutragen. Die fast schon militärisch anmutende Disziplin, mit der sie dies taten, so ganz ohne Reden und Lachen, ohne jegliche Gefühlsregung, dafür aber mit geradezu berechnender Präzision in den Handgriffen, machte Behaim nachdenklich: Diese Menschen waren anders als die Eingeborenen, die er bisher auf seinen Expeditionen gesehen hatte. Unruhig nahm er seinen Blick von den fleißigen Arbeitern und ließ ihn über die Lichtung schweifen. Die unschuldige Stille, die über diesem Ort hing, führte seine Sinne in einen noch nie erlebten Zwiespalt. Es schien, als wollte der Rest seines Körpers nicht akzeptieren, was seine Augen sahen. Es war das unheimliche Gefühl, dass das was er sah gar nicht da war. Eine weitere Hütte fiel in sich zusammen, begleitet von einem kurzen Krachen, dann herrschte wieder Stille. Warum zerstörten diese Menschen ihre Häuser?
„Man erwartet Euch“, sagte die Stimme hinter ihm. Behaim schreckte aus seinen Gedanken auf, musterte den kleinen Jungen noch einmal konsterniert, und schob schließlich die Matte zur Seite.

Unzählige, schwache Lichtstrahlen drängten sich durch das lückenhafte Schilfdach und durchschnitten die stickige Dunkelheit des Innenraumes wie glühende Degen.
„Martinho da Boémia, ich wusste Ihr würdet kommen“, sagte eine kratzige Stimme zufrieden. Behaims Augen machten in dem kleinen Raum eine zerlotterte Gestalt aus, die sich ächzend und knarrend von einer Liege erhob. Die Begrüßung hatte gezeigt, dass dieser Mann wohl Portugiese war; und wenn er ihn kannte, so musste dies doch auf Gegenseitigkeit beruhen. Neugierig machte er einen kleinen Schritt nach vorne, aber das einzige was er sehen konnte, war ein schwer atmender Greis, dessen schmales, dreckiges Gesicht von langen grauen Haarsträhnen und einem ungepflegten Vollbart verdeckt wurde.
„Unser letztes Treffen liegt wahrlich lange Zeit zurück.“ Ja, dieses Gesicht und diese Stimme im Einklang kamen ihm irgendwie vertraut vor, doch ... es fehlte etwas.
„Bitte verzeiht, Herr. Würdet Ihr mir Euren Namen nennen?“ Als hätte Behaim eine längst vergessene, schmerzliche Erinnerung wieder in sein Bewusstsein gedrängt, senkte der Mann traurig den Kopf.
„Diogo Cao, ... ja, das ist wohl mein Name“, seufzte er schließlich. Behaim sog scharf die Luft ein und suchte wieder mehr Halt an seinem Gehstock.
„Diogo Cao! Ihr seid es wirklich!“, staunte er fassungslos, „In Portugal war man zuletzt von Eurem Tode überzeugt, nachdem Ihr so viele Jahre verschollen ... wart ...“ Gellende Bronchiallaute mischten sich unter Behaims Stimme und verdrängten die Worte schließlich ganz. Unbeteiligt hob Diogo Cao den Kopf und starrte in den leeren Raum. Während Behaim noch lautstark aushustete, schien Cao etwas von draußen zu vernehmen.
„Wir haben wenig Zeit. Sie sind bald hier“, murmelte er resigniert.
„Wovon bitte redet Ihr?“, krächzte Behaim.
„Martinho, ich muss Euch um einen Gefallen bitten. Dieses Dorf und seine Bewohner werden bald nicht mehr sein ...“
„Bitte, ich verstehe nicht recht.“
„Hört zu, Martinho!“, sprach Cao nun mit beschleunigter Stimme, „Die Bewohner dieses Dorfes sind etwas Besonderes. Sie haben mich bei sich aufgenommen und mich viel gelehrt, mir Dinge gezeigt, die ...“, Caos Wortfluss versiegte prompt. Als er sich nach einem Augenblick wieder besonnen hatte, schaute er Behaim schließlich eindringlich in die Augen. „Ich habe angefangen zu verstehen, Martinho. Ich verstehe nun.“
„Was versteht Ihr, Herr?“, presste Behaim hervor.
„Das Leben.“
„Welches Leben meint Ihr?“
„Das Leben aller, Martinho. Doch ist keine Zeit, um Euch mehr zu erklären. Und selbst wenn ich es täte, Ihr könntet es nicht begreifen.“ Cao seufzte schwer, das viele Reden machte ihm wohl zu schaffen. „Ihr müsst etwas für mich tun - für uns alle. Denn denen, die alle bedrohen, muss Einhalt geboten werden.“
„Die, die hierher kommen?“ Cao nickte flüchtig.
„Es sind Menschen, ja, doch sind sie anders als wir es sind. Sie wissen viel - zu viel - und sie wissen, ihre Macht zu nutzen. Wissen ist Macht, Martinho. Die Vernichtung des Dorfes und seiner Bewohner wird sie weiter erstarken lassen.“
„Zerstören diese Menschen deshalb ihre Hütten? Warum fliehen sie nicht?“
„Weil das nicht ihre Aufgabe ist. Sie sind die Letzten und sie werden keine Spuren hinterlassen. Aber es geht nun um Eure Aufgabe, Martinho. Wenn Ihr sie erfüllt, so soll es Euch vergolten werden ... Nein, keine Reichtümer!“ Behaims hoffnungsvolle Mimik, wurde mit einem strafenden Blick quittiert. „Sobald Ihr die Aufgabe erfüllt, werdet Ihr die Antworten finden, nach denen es Euch schon Euer halbes Leben lang dürstet. Ihr wisst, was ich meine. Und ich verspreche Euch, Sie werden Euch die ersehnte Erleuchtung bringen.“ Behaim musterte den alten Mann abermals und war verwundert, dass dessen so ungewöhnlichen Worte so glaubwürdig klangen, so selbstverständlich. Er konnte gar nicht anders, als ihm zu vertrauen.
„Was verlangt Ihr von mir?“

***​

Dem Läuten der Türglocke folgte der altersschwache Muff des kleinen Antiquitätenladens. Justus rümpfte die Nase. Zügig schlurfte er an der unübersichtlichen Menge von antikem Gedöns vorbei und passierte den offenen Durchgang hinter der Kassentheke.
„Justus?“, kam es aus dem Raum zur Linken. Er betrat den, im Gegensatz zum depressiven Ambiente des Ladens, freundlich hell erleuchteten Lagerraum, wo seine Mutter hektisch Zeitungspapier in einen etwa hüfthohen, schmalen Karton stopfte.
„Können wir los?“, fragte er ungeduldig.
„Ja, sofort.“ An der lapidaren Antwort erkannte Justus, dass sofort mal wieder ein zeitlich dehnbarer Begriff sein würde. Seine Mutter arbeitete halbtags in einem Antiquitätengeschäft und Restaurationsbetrieb und nahm ihn Nachmittags nach der Schule mit nach Hause. Justus schaute hinter sich. Mit schweren Schritten kam Herr Bremer, der beleibte Inhaber der Firma, mit seinem typisch verschmitzten Grinsen aus dem Büro gewankt.
„Na, Justus? Alles paletti?“ Höflich und wortlos lächelte Justus zurück. Diese Frage, so hatte er mittlerweile gelernt, war nichts weiter als eine Floskel, die Herr Bremer jedem Jugendlichen zur Begrüßung an die Birne warf.
„So, Jutta. Du nimmst dann den alten Globus mit?“
„Genau.“ Justus’ Mutter drückte das letzte Stück Klebeband auf den Deckel. Hin und wieder nahm sie ein Objekt aus der Firma mit nach Hause, um es in der heimischen Werkstatt zu restaurieren. Zufrieden schaute sie auf den transportbereiten Karton herab.

Nach ihrer Ankunft zu Hause verging nicht viel Zeit, bis Justus’ Eltern sich in den Wochenend-Trip nach Berlin verabschiedeten. Dieser Ausflug kam Justus sehr gelegen, denn es gab einiges zu tun. Kaum knallte die Haustür ins Schloss, griff er nach dem Telefonhörer und wählte die Nummer von seinem Kumpel Maximilian.
„Max? Ja hi, ich bin’s. Du, die Luft ist rein ... okay, bis gleich.“ Nur zehn Minuten später rief ihn ein hektisches Klingelkonzert zur Haustür. Wie erwartet stand Max vor ihm, bei sich eine Schubkarre, die mit einem großen Farbeimer und Malwerkzeug beladen war. Justus warf einen prüfenden Blick darauf.
„Und, alles dabei?“
„Klar, wir können sofort anfangen!“, platzte es aus Max heraus. Seine großen, glasigen Augen und die unruhig auf dem Plastikgriff der Schubkarre herumtrippelnden Finger verrieten große Vorfreude und entlockten Justus ein schelmisches Grinsen: Die Zeit der Rache war gekommen.

Hastig brachten sie die Sachen von der Schubkarre in das Zimmer von Justus’ Bruder Elias und zogen den Deckel des Farbeimers ab, der den Blick auf eine knallig pinkfarbene Masse freigab. Mit einem gespielten Aufschrei riss Justus die Hände vor die Augen und begann zu feixen:
„Oh Mann, ist das böse!“ Auch Max kam aus dem Glucksen nicht mehr heraus:
„So geil, dass wir das wirklich machen! Dein Bruder wird dich töten! Und deine Eltern auch!“
„Ich weiß. Aber wenn ich an die Vogelspinne in meinem Bett denke, ist mir das scheißegal.“ Justus tauchte seine Farbrolle in die dickflüssige Masse, rollte sie ein paar Mal flüchtig über das Abtropfgitter, und marschierte hinüber zu dem kleinen Glaskasten. Sein Bruder hatte sich die Spinne doch nur angeschafft, um ihn damit aufziehen zu können, denn Elias wusste genau, wie er darauf reagierte. Für Justus war damit aus Spaß Ernst geworden.
„Wann kommt er wieder?“
„So um 19 Uhr.“ Beim Anblick des regungslosen Tiers mit seinen acht langen, behaarten Beinen spürte er förmlich, wie Dutzende dieser Höllenkreaturen an seinem Körper empor krabbelten. Angewidert schüttelte er sich. „Streichen wir also erst die Möbel und wenn wir dann noch Zeit haben, noch was von der Wand. Ich will, dass dieses Zimmer danach aussieht, als käme es direkt aus einem feuchten Mädchentraum.“ Mit diesen Worten fuhr die Farbrolle schmatzend über die Glasscheibe des Terrariums.

„Verdammte Scheiße!“, wetterte Max los. Nach etwa zwei Stunden guten Vorankommens wurde ihre Arbeit jäh unterbrochen.
„Was ist?“
„Jetzt hab ich ’nen riesigen Farbklecks auf meiner Hose!“
„Ich hab doch gesagt, du sollst alte Klotten anziehen!“
„Ja, hab ich ja auch, trotzdem will ich sie mir nicht komplett versauen. Ich muss das sofort weg machen!“ Justus seufzte protestierend, wusste aber nur zu gut, dass Max so ziemlich der sturste Mensch der Welt war.
„Ich glaube in der Werkstatt haben wir Terpentin, da ist auch ein Waschbecken. Komm mit.“ Sie verließen das Obergeschoss und gingen die Treppe hinunter in den Keller, wo sich neben Justus’ Zimmer auch die kleine Werkstatt von seiner Mutter befand. Während Justus in einem Regal voller ungeordneter Töpfe und Dosen nach Terpentin suchte, bemerkte Max das Objekt, das unscheinbar neben dem Arbeitstisch stand.
„Was ist das?“, fragte er neugierig.
„Ach, das ist ein alter Globus, den meine Ma restaurieren will“, erklärte Justus, während er endlich auf einer Dose die Aufschrift Terpentin las. Zufrieden wandte er sich Max zu, nur um gleich darauf in totale Panik zu verfallen:
„Finger weg!“ Schreiend machte er zwei riesige Sätze, doch es war zu spät. Längst fingerte Max an dem rostroten Metallrahmen herum.
„Ich mach schon nichts kaputt“, verteidigte er sich.
„Aber natürlich, du doch nicht!“, gab Justus sarkastisch zurück und fügte ernsthaft hinzu: „Wenn wir da irgendwas mit anstellen, tötet mich meine Mutter wirklich! Eigentlich ist es schon schlimm genug, dass wir überhaupt hier drin sind.“

Erst jetzt nahm er sich die Zeit, den Globus selbst etwas genauer zu begutachten. Man brauchte kein Experte zu sein, um zu sehen, dass sich dieser in einem erbärmlichen Zustand befand. Auf der unförmigen Kugel, die wohl in etwa so groß wie ein Medizinball war, war nur noch wenig an Schrift und Küstenlinien zu erkennen. Der Rest war verblichen oder fehlte völlig: Etwa ein Viertel der Oberfläche war herausgebrochen. Eingefasst war die Kugel von einem horizontalen und einem vertikalen Metallring, beide vollkommen verrostet und zerkratzt. Auch das dreifüßige Standbein, das dieses Gebilde mehr als einen halben Meter über dem Boden hielt, sah nicht besser aus.
„Daran kann man doch eh nichts mehr kaputt machen“, lautete Max’ passender Einwand. Wie von einem Magneten angezogen, bewegten sich seine Hände schon wieder unbeirrt auf den Globus zu.
„Sei einfach vorsichtig“, seufzte Justus besorgt, gab es aber auf, Max vom Berühren des Globus abzuhalten. Ähnliches hatte er bei ihm schon viel zu häufig versucht: Genauso gut könnte man sich zwischen einen hungrigen Löwen und seine Beute stellen. Eigentlich verstand er sich super mit seinem Kumpel, nur in dieser einen Hinsicht war Max fast unerträglich. Alles musste er anschauen, begrapschen - kaputtmachen ... Vor seinem inneren Auge sah Justus schon die Kugel aus der Fassung fallen.

Doch plötzlich riss ihn etwas aus seinen Gedanken. Es war nicht das besorgte „Upps!“, das Max von sich gab, sondern vielmehr das erstarkende Leuchten, das sich in sein Blickfeld drängte: Die matte Kugel verwandelte sich innerhalb nur von Sekunden zu einem gleißenden Lichtball.
„Was hast du getan?!“, keifte Justus los und schirmte mit den Händen das stechende Licht von seinen Augen ab. „Keine Ahnung! Ich, ich hab es nur angefasst und dann ...“ Max hielt inne. So schnell wie es gekommen war, klang das Leuchten wieder ab. Vorsichtig lugten sie zwischen ihren Fingern hervor - und rissen die vorhin noch zugekniffenen Augen jetzt umso mehr auf. Die alte Holzkugel war einem beeindruckend plastisch wirkendem Abbild der Erde gewichen, von dem jetzt nur noch eine Hälfte leuchtete, während die andere in schwarzer Dunkelheit lag. Die Jungen kamen näher. Die Schrauben an der Achse hatten sich zurückgezogen und ließen die Kugel nun innerhalb der beiden Ringe frei schweben.
„Was hast du ...?“, begann Justus verwirrt. Doch Max’ ratloses Schulterzucken und seine hochgezogenen Augenbrauen beantworteten seine Frage auch so: Er wusste es selbst nicht. Als Max’ Hände abermals bedrohlich zu zucken begannen, packte Justus ihn bestimmend am Arm.
„Lass besser deine Finger davon!“ Als er jedoch bemerkte, wie Max’ Augen immer kleiner wurden, ließ er ihn wieder los. „Bitte“, fügte er entschuldigend hinzu. Der Blick entspannte sich und richtete sich abermals auf den Globus.
„Du weißt, dass ich das nicht kann“, hauchte Max.
„Dann geh bitte raus.“
„Nein.“ Die Antwort war leise aber entschlossen. Es brachte alles nichts, musste Justus sich eingestehen. Aber dennoch waren es diese Momente, in denen er in Max’ plötzlich so kindliches Gesicht schaute und ihn endlich verstand. So wenig, wie er sich mit seiner Phobie jemals dazu überwinden könnte eine Vogelspinne anzufassen, so wenig könnte Max es je schaffen seiner unnachgiebigen, ja fast schon gebieterischen, Neugierde Einhalt zu gebieten - niemals.

Eilig suchte Justus nach einer Lupe und wurde in einer Schublade fündig. Als er wieder zurückkam, überraschte es ihn auch nicht mehr, dass Max’ Fingerspitzen gerade durch den Pazifik fuhren.
„Heftig.“ Max zog die Hand wieder zurück und hielt die schimmernden Fingerkuppen vor seine staunenden Augen, bevor er sie schließlich Justus entgegenstreckte. „Das ist richtiges Wasser!“ Für einige Momente war Justus sprachlos, richtete seinen Blick dann aber wieder auf die Kugel. Wolkenformationen zogen gemütlich, kaum merklich umher, Gebirge hoben sich dreidimensional empor. Er stellte fest, dass der Globus langsam rotierte.
„Sieht irgendwie aus, wie ein Hologramm“, sagte er nüchtern, „Vielleicht so eine Art Prototyp.“ Er nahm die Lupe, um mehr Details erkennen zu können und ließ beeindruckt Luft zwischen seinen Zähnen entweichen. „Erstaunlich, wie detailliert das alles ist.“
„Gib mir auch mal!“
„Ja, Moment. Hmmmm..., weißt du was? Vielleicht testen wir hier gerade eine neue Google Earth-Version.“
„Der NASA würde ich so was eher zutrauen.“
„Stimmt wohl“, murmelte Justus beiläufig. Die Erhebungen der Rocky Mountains verlangten seine ungeteilte Aufmerksamkeit - bis die Westküste in sein Blickfeld trat. Erschrocken riss er die Lupe zur Seite.
„Was ist das?“, piepste er und deutete auf die tiefblaue Masse, die über die nahezu gesamte Gestade der USA landeinwärts kroch. Aus dieser Perspektive handelte es sich zwar nur um Millimeter und wäre ihm so vermutlich gar nicht aufgefallen, doch beruhigen konnte er sich nicht.
„War ich das etwa?“, fragte Max unbedarft zurück und deutete auf seine Hand. Dann begann Justus zu verstehen: Max hatte wohl vorhin mit seinen Fingern Flutwellen ausgelöst, die nun auf die angrenzende Küste trafen. Mittlerweile hatte er sich die Lupe geschnappt.
„Geniale Simulation!“ Die warnende Stimme, die Justus zu hören glaubte, schrie immer lauter und machte ihm jetzt unmissverständlich klar, dass etwas Schlimmes passiert war.

„Was machst’n jetzt?“ Aufgeregt lief Justus in sein Zimmer nebenan und schaltete hastig den Fernseher ein. Als auf einem der Nachrichtensender eine Doku über Schlachtschiffe im Zweiten Weltkrieg erschien, atmete er erleichtert auf.
„Was’n los?“, kam Max mit irritiertem Blick durch die Tür. Als er den laufenden Fernseher sah, gruben sich seine Stirnfalten immer tiefer in die Haut hinein. „Glaubst du etwa, das ist echt?“
„Ich weiß nicht, ich hatte so ein Gefühl“, keuchte Justus, „aber das war wohl ...“ Die penetrante Jingle des Senders ließ seinen Brustkorb jäh zusammenzucken und ein sichtlich besorgter Nachrichtensprecher erschien in einem Studio. Abrupt endete die Musik; das fahle Gesicht richtete sich auf die Kamera.
„Liebe Zuschauer“, begann er mit schwerem Atemzug, „wir unterbrechen das laufende Programm und berichten nun über die gewaltige Flutkatastrophe ...“ Justus’ Lungen verkrampften sich.

*​

Ungeduldig schritt Herr Bremer in seinem Antiquitätenladen auf und ab und starrte immer wieder auf eine alte Wanduhr. Sie waren längst überfällig, sie würden nicht mehr kommen. Doch die Türglocke belehrte ihn eines besseren. Es waren wieder die selben beiden Männer, die er schon von den anderen Malen kannte. In Anbetracht ihres eigenwilligen Geschäftsgebarens, das auf diskreten Telefonanrufen und kurzfristigen Besuchen basierte, wirkten die beiden äußerlich doch recht unauffällig.
„Guten Tag, Herr Bremer. Verzeihen Sie bitte die Verspätung, wir wurden aufgehalten.“ Der kleinere Mann mit dem Schnauzer trat vor und gab ihm die Hand. Wie immer übernahm er das Reden, während der Andere, groß und schmal, sich im Hintergrund hielt. Genau genommen, so erinnerte sich Herr Bremer, hatte er noch nie ein Wort gesagt.
„Ach, das macht doch nichts. Bitte, den Weg kennen Sie ja bereits“, antwortete er mit einer einladenden Geste und ging voraus. Innerlich wurde er immer aufgeregter: Vielleicht war er schon morgen ein reicher Mann.

„Ich bin mir diesmal wirklich sicher, dass es der ist, den Sie suchen. Die Merkmale stimmen alle überein!“ Hoffnungsvoll führte er sie in den Lagerraum und ging auf einen großen Karton zu, der in einer Ecke stand. Doch als er die Papplaschen zur Seite klappte, durchfuhr ihn ein eisiger Schock. Behände nahm er den Globus heraus, stellte ihn auf einen Tisch, und starrte fassungslos drauf, als könnte er nicht begreifen, was da vor ihm stand. Unruhig hetzten seine Blicke durch die Regale. Hektisch öffnete er sämtliche anderen Kartons. Doch er wusste, dass sie nicht das enthielten, was er suchte.
„Herr Bremer“, mit zusammengezogenen Augenbrauen stelzte der eine Mann auf den Globus zu, „dies ist hoffentlich nicht der Globus, den Sie uns zeigen wollten. Denn hier erkennt selbst ein Laie, dass dieser nicht aus dem 15. Jahrhundert stammt, geschweige denn Behaims Erdapfel auch nur ansatzweise ähnlich sieht!“ Die laute Stimme verschwendete keine Mühe, ihre Wut zu verbergen. Aus Herrn Bremers Unbehagen wurde Angst.
„Nein, natürlich ist das nicht der Globus ...“, stammelte er beschwichtigend. Doch dann fiel es ihm ein. „Meine Mitarbeiterin! Sie hat den falschen Globus mitgenommen! Sie sollte den alten Globus mitnehmen, aber sie hat ...“ Ein schwerer Seufzer unterbrach ihn:
„Sie sollten wissen, dass wir solch unprofessionelles Verhalten nicht akzeptieren können. Wir sind hier, weil Sie uns den Globus versprochen haben. Also, wo ist er?“

*​

Seit knapp einer halben Stunde saßen sie nun schon wortkarg vor dem Fernseher, festhängend in einer Welt zwischen Leugnen und Begreifen. Städte wie Los Angeles und San Diego waren praktisch ausgelöscht, doch Informationen aus nächster Nähe sickerten aufgrund der erheblichen Zerstörungen nur spärlich durch. Die Flutwelle, so wurde mehr spekuliert als auf Fakten zurückgegriffen, war wohl mit einer Höhe von mindestens einhundert Metern und einer Geschwindigkeit von mehreren hundert Stundenkilometern auf die Küste getroffen. Mittlerweile unterhielt man sich nicht mehr nur über die erwarteten Millionen von Todesopfern, sondern auch über die möglichen Ursachen für den Monster-Tsunami. Da kein Erdbeben im Pazifik registriert worden war, tappte man hier noch im Dunkeln.

Das Läuten des Telefons riss Justus jäh in die Realität jenseits des Fernsehbildschirms zurück. Unsicher sah er in Max’ bleiches Gesicht.
„Vielleicht sind es meine Eltern“, murmelte Justus. Träge verließ er das Zimmer und stapfte die Treppe hinauf ins Erdgeschoss Richtung Telefon.
„Justus Lindhoff“, meldete er sich.
„Hallo Justus, hier ist Herr Bremer. Ich muss dringend deine Mutter sprechen!“
„Tut mir Leid, aber die ist übers Wochenende in Berlin.“
„Oh, stimmt ja ... Justus, es ist wirklich wichtig. Es geht um den Globus, den sie heute mitgenommen hat. Es war der Falsche. Und jetzt ist ein Kunde hier und möchte ihn abholen, verstehst du?“ Justus wurde hellhörig.
„Der Falsche? Inwiefern?“ Herr Bremers Stimme wurde immer nervöser.
„Nur ein Missverständnis! Sie sollte den alten Globus mitnehmen, hat aber statt dem, der schon länger im Lager steht, den Globus mitgenommen, der früher gebaut wurde. Dabei habe ich den heute erst erworben. Na ja, ich komme vorbei und hole ihn, in Ordnung?“
„Äh, das passt gar nicht! Ich ... ich bin gleich auch nicht mehr zu Hause.“
„Bitte Justus, das ist sehr wichtig. Ich werde dich auch dafür entschädigen. Bis gleich!“ Noch bevor Justus Einspruch einlegen konnte, hatte Herr Bremer schon aufgelegt. Hurtig ging er wieder in den Keller.

„Das war der Chef meiner Mutter, er will den Globus abholen.“ Ungläubig hob Max den Kopf.
„Was?“
„Ja! Er meinte, dass ein Kunde jetzt diesen Globus haben will. Ich hab versucht ihn abzuwimmeln, aber er ist auf dem Weg hierher.“ Mit ihren Blicken tauschten sie förmlich einen weiteren, unausgesprochenen Gedanken aus. Max schaute abermals auf das Fernsehbild, schüttelte dann aber den Kopf.
„Das muss Zufall sein!“, quengelte er los und suchte in Justus’ Augen nach Zustimmung.
„Warum, weil du nicht schuld sein kannst?“, antwortete er lapidar. Max schnaufte trotzig und verließ kommentarlos das Zimmer.

„Was hast du vor?“, schnauzte Justus los, als er ihm in die Werkstatt gefolgt war.
„Ich will es nur testen ... um sicher zu sein. Irgendwas harmloses.“ Justus war sich klar, dass er Max nicht mit Wut Einhalt gebieten konnte, also versuchte er es wieder mit einem netteren Tonfall.
„Lass es, bitte.“
„Dann schlag was Besseres vor! Sollen wir jetzt auf den Knilch warten und ihm das Teil dann einfach so mitgeben?“ Jetzt wurde Max lauter. „Ja, genau! Wir sagen einfach, dass die mit dem Zauber-Globus vorsichtig sein sollen, weil man damit vielleicht Flutwellen auslösen kann!“ Als er dem Globus mit seinen wedelnden Armen gefährlich nahe kam, hob Justus beschwichtigend die Hände.
„Ist ja gut ... wir testen es.“ Er schritt langsam auf die Kugel zu und fixierte das Wolkengebiet, das sich noch immer über Mitteleuropa ausbreitete. Sein Kopf hob sich und richtete sich auf das Kellerfenster über dem Arbeitstisch. Als er sich leicht über die Tischplatte beugte, konnte er die Baumkronen des Gartens vor einem grauen Himmel erspähen. „Okay, ähmm..., vielleicht könnte einer von uns leicht pusten und der andere beobachtet, ob es hier windiger wird oder so.“ Justus war sich sehr unsicher, ob dies wirklich eine gute Idee war.
„Gute Idee“, nickte Max jedoch anerkennend und senkte seinen Kopf auf den Globus herab.
„Sei bloß vorsich...!“, wollte Justus ihn noch ermahnen, doch wieder einmal war Max zu unbekümmert.

Das leise Zischen der Luft, die sich zwischen seinen Lippen hindurch presste, mutierte umgehend zu einem monströsen Heulen, welches das Ende der Welt heraufzubeschwören schien. Die beängstigenden Geräusche von Splittern und Krachen begannen mit einem Mal überall in der Umgebung zu wüten. Das gelbe Licht der Deckenlampe erlosch. Unter dem ohrenbetäubenden Getöse war Justus’ geschrienes „Du Idiot!“ kaum zu hören. Im letzten Augenblick bemerkte er, wie einer der Bäume aufs Haus zu kam. Ein Ast durchschlug das zerberstende Fenster und flog dicht an seinem Kopf vorbei. Justus verlor das Gleichgewicht und landete gemeinsam mit Tausenden von klirrenden Glasscherben auf dem harten Fußboden. Innerhalb von wenigen Sekunden war die Welt um sie herum im Chaos versunken.

Stille. Die Sirenen des Sturms hatten gänzlich aufgehört zu tosen, dafür war das ferne Jäbbeln einer Autoalarmanlage zu vernehmen. Mit zusammengebissenen Zähnen öffnete Justus die Augen und schielte zwischen seinen Händen hindurch. Er lag inmitten eines Schlachtfelds aus Holz und Glas. Brennende Schmerzen offenbarten ihm etliche rote Schnittwunden quer über die Handrücken. Langsam kam er wieder zu sich und sah, wie Max, den Globus schützend, in einer Ecke stand. Er hatte es also geschafft, ihn rechtzeitig wegzuziehen.
„Tut mir Leid“, flüsterte er und sah schuldig auf den Boden. Ächzend richtete Justus sich auf, die Hände mit verkrümmten Fingern vor seinen Körper haltend.
„Alles okay?“ Justus nickte beiläufig und schaute sich weiter in dem grauen Raum um.
„Der Strom ist ausgefallen.“
„Was sollen wir jetzt machen?“
„Keine Ahnung“, seufzte Justus und wankte hinüber zum Waschbecken. „Ich versuch mal, meine Mutter übers Handy zu erreichen“, sagte er schließlich, nachdem ein paar Pflaster aus dem Erste-Hilfe-Schränkchen über den größeren Schnitten angebracht waren. Max starrte auf das zertrümmerte Fenster.
„Wir sollten den Globus irgendwohin bringen, wo er sicherer ist.“
„Gehen wir in mein Zimmer.“

Vergeblich versuchte Justus, mit dem Handy eine Verbindung herzustellen.
„Mist.“
„Sollen wir zur Polizei gehen? Wobei die im Moment sicher genug zu tun haben.“
„Irgendwie müssen wir dieses Ding wieder deaktivieren ... Überleg doch mal! Was hast du genau gemacht, als es sich veränderte?“
„Keine Ahnung, ich hab einfach an dem Rahmen rumgefummelt. Ein bisschen die Kugel gedreht und so. Wirklich nichts Besonderes.“ Justus tastete vorsichtig an dem Rahmen entlang, rieb, klopfte, doch egal was er tat, es passierte nichts. Währenddessen trat Max zum Fenster und lugte bekümmert hinaus.
„Justus?“, begann er und drehte sich zu ihm um, „Ich muss nach Hause zu meinen Eltern. Gucken, ob alles in Ordnung ist.“ Justus nickte verständnisvoll.
„Sicher. Aber was soll ich machen? Irgendwann wird Herr Bremer hier aufkreuzen und ich weiß nicht, wie ich vorgehen soll. Weiß er vielleicht sogar, wozu dieses Ding in der Lage ist?“
„Vielleicht weiß er ja, wie man es deaktiviert ...“
„Vielleicht will er es ja gar nicht deaktivieren.“ In diesem Moment wurde den beiden Jungen erst richtig bewusst, was da eigentlich zwischen ihnen auf dem Boden stand: eine Waffe mit geradezu entsetzlicher Macht.

*​

Benommen stellte Herr Bremer fest, dass er kopfüber im Anschnallgurt hing. Was war passiert? Ein plötzliches Tosen, ein lauter Knall, und von einem Moment auf den anderen hatte das Auto, in dem sie unterwegs gewesen waren, auf dem Dach gelegen. Im vorderen Teil des Wagens rüttelte der lange Mann lautstark an seinem Kollegen herum.
„Na komm schon, wach auf!“ Unvermittelt wandte er sich Herrn Bremer zu: „Los, raus hier!“ Vorsichtig löste dieser den Gurt und landete unsanft auf dem Boden. Die Orientierung in dem umgedrehten Wagen fiel ihm unerwartet schwer, doch dann öffnete er die Tür und krabbelte hinaus. Der Hüne hatte aufgrund seiner Statur anscheinend etwas mehr damit zu kämpfen, doch ein herbeigeeilter Helfer riss die Beifahrertür auf und zog ihn aus dem Wrack.
„Alles okay?“, fragte er.
„Weg da!“ Für seine Hilfe bekam der junge Mann von den riesigen Pranken einen Schubs und fiel fluchend auf den Asphalt.
„Ey, sind Sie noch ganz dicht?!“ Ohne weiter darauf einzugehen kam der Riese mit wütendem Gesicht zu Herrn Bremer herüber. Über die halbe Stirn zog sich der blutige Auswurf einer Platzwunde.
„Wir müssen sofort weiter!“, konstatierte er mit eiserner Stimme, während sein Blick hinüberging zu einem der zahlreichen Autowracks, auf dessen eingedrücktem Dach ein großer Stadtbaum ruhte. Als zwei Helfer den regungslosen Körper eines Mannes bargen, drang der schluchzende Aufschrei einer Frau zu ihnen herüber.
„Aber was ist denn mit Ihrem Kollegen?“, fragte Herr Bremer verwundert.
„Der ist tot“, antwortete der Mann trocken, holte ein Taschentuch hervor, und presste es auf die Wunde. Anschließend zog er ein kleines, schwarzes Gerät aus der Manteltasche und hielt es an sein Ohr.
„Hallo ... ja, er ist es. Ich bin auf dem Weg zu ihm ... tut das.“ Schnell beendete er das Gespräch wieder und sah Herrn Bremer berechnend in die Augen.
„Bringen Sie mich zum Globus!“

*​

Max hatte versprochen, so schnell wie möglich zurückzukommen, wenn es seinen Eltern gut ginge. Justus saß nun einsam vor der Haustür und starrte verloren umher. Die ihm so vertraute Nachbarschaft war einer unbekannten grauen Welt gewichen, welche die sanften Strahlen der Abendsonne nicht mehr zu erreichen schienen. Fast überall traten die Menschen fassungslos ins Freie und begutachteten die Schäden: Entwurzelte Bäume und zerschmetterte Autos lagen inmitten eines undefinierbaren Trümmermeeres; der Dachstuhl eines Nachbarhauses war völlig zerstört.
Sie verstehen nicht, was passiert ist, dachte Justus. Wie sollten sie auch?

Nach einigen Minuten des Wartens erkannte er auf einmal Herrn Bremer, der mit einem anderen Mann die Straße hinunter getrabt kam. Gespannt erhob er sich.
„Hallo, Justus! Ist alles in Ordnung?“, keuchte Herr Bremer los, kaum dass sie ihn erreicht hatten. Justus nickte stumm und wich instinktiv zurück, als auch der andere Mann mit blutverschmiertem Gesicht näher kam.
„Wo ist der Globus?“, raunte dieser ihn an.
„Wissen Sie, wie man ihn deaktiviert?“, fragte er verunsichert zurück. In den wütenden Augen des Mannes spiegelte sich für einen kurzen Moment Irritation wider.
„Ja, das weiß ich. Zeig ihn mir und ich deaktiviere ihn!“ Justus musste all seine Furcht hinunterschlucken.
„Nein“, sagte er schließlich mit bebender Stimme, „sagen Sie mir, wie es geht.“ Doch plötzlich wurde er mit einem erzürnten Grunzlaut gepackt und in die Höhe gezogen. Die grauen Augen starrten ihm nun aus wenigen Zentimetern entgegen. Heißer Atem drang ihm ins Gesicht.
„Hör zu, Junge! Entweder du gibst mir jetzt sofort den Globus oder ich drehe dir deinen dürren Hals um!“ Justus hob zitternd seinen Arm und zeigte auf einen Karton, der ein paar Meter links vom Hauseingang stand. Abrupt landete er wieder auf dem Boden und beobachtete, wie der Mann zu dem Karton marschierte.
„Es tut mir Leid, Justus“, kam aus Herrn Bremers sorgenvollem Gesicht. Justus wartete bis der Blick des Hünen im Karton versank und nutzte den wilden Aufschrei, der jäh folgte, als Startschuss für seine Flucht. Sein alter Plastikglobus war natürlich keine große Täuschung gewesen. Er rannte durch ein angrenzendes Wäldchen und überquerte gerade einen Spielplatz, als ihn plötzlich jemand zu Boden stieß. Als Justus sich umdrehte, standen zwei unbekannte Personen vor ihm und starrten stumm zu ihm herab. Sie wirkten wie ein junges, unschuldiges Pärchen – doch was wollten sie bloß von ihm? Als der Riese im selben Moment dazutrat, drehte die junge Frau sich um, zog unvermittelt eine Waffe, und schoss dem heranstolpernden Herrn Bremer ohne jede Hemmung ins Bein, worauf er mit einem gequälten Aufschrei zu Boden ging.
„Du bringst mich jetzt zu dem Globus oder die nächste Kugel geht durch seinen Kopf!“, sagte der Hüne kühl und die Frau richtete die Waffe demonstrativ auf den wimmernden Mann. Justus wusste, dass er verloren hatte.
„Okay“, antwortete er resigniert und stand auf. Die beiden Männer folgten ihm.

*​

Mit schmerzverzerrtem Gesicht und außer sich vor Wut erreichte Elias hinkend sein Zuhause. Der Kerl hatte ihn zum Dank für seine Hilfe einfach umgeschubst, und der Aufprall auf dem Asphalt behielt noch immer seine schmerzhafte Präsenz. Dass das Haus auf einen kurzen Blick anscheinend nur ein paar Dachziegel verloren hatte, erleichterte ihn zwar, doch die ziehenden Steißschmerzen hielten seinen Gemütszustand tief im roten Bereich. Eins war klar: Helfen würde er keinem mehr.
„Justus?!“, rief er durchs Haus, doch sein Bruder schien nicht da zu sein. Das anschließende Treppensteigen verkam zur Qual, der er mit lautstarken Flüchen begegnete. Doch als er endlich in sein Zimmer kam, stellte er erschrocken das Atmen ein und erstarrte. Von überall knallte ihm ein grässliches Pink entgegen, fast alle seiner Möbel waren ruiniert. In der Mitte des Raumes hingen zwei verlassene Farbrollen auf dem Rand eines Farbeimers. Elias’ Gemütstemperatur stieg gefährlich an und überschritt den Siedepunkt.
„Justus!“

***​

„Baut einen Globus!“, sagte Cao. Einen Globus? Behaim begriff jetzt, warum ausgerechnet er hier stand.
„Aber wie ...?“
„Baut ihn nach dem Vorbild Eures zuletzt fertiggestellten Werkes und er wird tun, was ihm bestimmt ist. Er soll sie versuchen und sie sollen ihn hören. An ihren niederen Begierden soll er sie packen und ins Verderben führen.“ Als wenn eine Last von ihm gefallen wäre, schaute Cao zufrieden auf. „Wenn die Zeit gekommen ist, Martinho, wenn ihre Macht zu groß wird und sie nach ihm greifen, dann wird er der Schlüssel zur Rettung von uns allen sein.“
Behaim wollte noch etwas sagen, doch Cao unterbrach ihn:
„Geht nun! Doch denkt daran: Niemand darf von diesem Gespräch erfahren!“ Behaim neigte zum Abschied den Kopf, doch als er die Hütte verlassen wollte, flüsterte Cao ihm noch zu: „Martinho, schaut nicht zurück.“ Behaim nickte stumm und folgte draußen dem kleinen Jungen, der bereits voraus lief. Weit hinter ihm begannen sich Waffenlaute unter beängstigendes Kampfgeschrei zu mischen, doch Martin Behaim blickte beharrlich auf den Weg, der vor ihm lag.

***​

Vor Wut und Schmerzen schnaubend hinkte Elias mit seinem pinkfarbenen Baseballschläger die Treppen hinunter in den Keller und betrat Justus’ Zimmer. Das Bücherregal neben der Tür wurde mit einem kräftigen Ruck umgeworfen. Die kleine Glasvitrine, in denen Justus seine Modellautos aufbewahrte, bekam das Metall des Knüppels zu spüren. Zwar genoss er das Klirren des splitternden Glases, aber das reichte noch nicht: Interessiert trat er vor den eigenartigen Globus, der in einer Ecke stand. Als plötzlich laute Fußtritte die Kellertreppe hinunter rannten, schaute er jedoch wieder auf und ging erwartungsfroh in Position. Doch beim Anblick der beiden Männer, die mit Justus im Schlepptau durch die Tür geplatzt kamen, hielt er überrascht inne. Einer war tatsächlich das Schwein, das ihn umgestoßen hatte.
„Elias?!“, rief Justus aufgeschreckt. Auch die beiden Männer erkannten die Situation und bekamen mit einem Mal große Augen. Alarmiert stürmte der Kleinere nach vorne, stolperte aber über das liegende Regal und landete ächzend mit dem Gesicht in den überall herumliegenden Glasscherben.
„Weg da, der gehört mir!“, schrie der Riese ihn mit unverhohlener Aggressivität an.
„Tatsächlich?“, grinste Elias nur diabolisch und schwang den Schläger. Es war Überlebensinstinkt, als die anderen anfingen panisch zu kreischen und auf ihn zuzustürmen. Doch während das Metall mit dramatischer Geschwindigkeit auf die Kugel herabstürzte, begriffen sie erst im letzten Bruchteil der allerletzten Sekunde ihres Lebens, dass es zu spät war.

 

Hallo allerseits! :)

Zur Info: Diese Geschichte ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung von Der Globus. Das Original kann damit ins Archiv verschoben werden.

So, dann bleibt mir im Prinzip nur noch zu hoffen, dass die Länge nicht zu abschreckend wirkt und eine (hoffentlich) gute Unterhaltung zu wünschen! :read:


MfG
Travis

 

Hallo Travis!

Eine sehr faszinierende Geschichte! Gut geschrieben, inhaltlich spannend.

Nur die beiden Jungs reden und handeln an der einen oder anderen Stelle zu erwachsen. Und Max ist ein absoluter Unsympath. Was er wohl auch sein muss. :)

Beste Grüße

Nothlia

 

Hi Travis,
die Geschichte ist viel, viel viel besser als die Urform. Die Überarbeitung hat da wirklich was gebracht. Auch die Rahmenhandlung finde ich schön. Überhaupt ist jetzt alles viel schlüssiger, was daran liegt, dass du den Ereignissen mehr Zeit lässt, um sich überhaupt zu entwickeln. Auch der Bruder ist jetzt viel schöner eingebaut.
Generell finde ich aber, dass Max als Figur ein bisschen unglaubwürdig ist. Diese zwanghafte Neugierde sitzt noch nicht so gut wie der Rest der Geschichte. Dein Protagonist geht damit nicht so um, dass ich es als glaubwürdig empfinde. Vielleicht legst du an der Stelle noch mal nach?

Ansonsten: Top-Überarbeitung. Das ist eine richtig schöne Geschichte geworden!

gruß
vita
:bounce:

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Nothlia, hallo vita!

Ich danke euch für eure Kommentare.

Ich war mir zuletzt ziemlich unsicher, ob die Story so zünden würde – auch was die Hintergrundgeschichte mit Martin Behaim anbelangt. Umso schöner ist es dann, wenn sie euch gefallen hat. :)

@Nothlia:

Dass die beiden Jungen manchmal etwas zu erwachsen agieren mag durchaus sein. Da werde ich versuchen, in Zukunft mehr auf die "jugendliche Art" zu achten.

Und Max ist ein absoluter Unsympath. Was er wohl auch sein muss.

Offen gesagt, bin ich mit diesem Charakter relativ zufrieden, weil er die Geschichte auf seine Art vorantreibt und auch einen gewissen Gegenpol zu Justus bildet. Zwangsläufig macht ihn das auch unsympathisch, sicher. Dann muss ich ihn möglichst authentisch und interessant wirken lassen, damit der Leser sich nicht zu sehr über ihn ärgert und gar aufhört zu lesen. Dass ich da noch verbesserungsfähig bin, weiß ich natürlich. ;)

@vita:

Generell finde ich aber, dass Max als Figur ein bisschen unglaubwürdig ist. Diese zwanghafte Neugierde sitzt noch nicht so gut wie der Rest der Geschichte. Dein Protagonist geht damit nicht so um, dass ich es als glaubwürdig empfinde.

Das ist schade, da ich versucht habe, es in dieser Version etwas besser darzustellen. Für eine weitere inhaltliche Überarbeitung fehlt mir dann aber doch die Kraft. :shy: Ich werde diesen Kritikpunkt für die kommenden Geschichten natürlich beherzigen.


MfG
Travis

 

Hallo Travis,
ich hatte irgendwann mal angefangen, die ursprüngliche Version zu lesen, bin aber - unter anderem sicher auch wegen Unistress und so - nicht sehr weit gekommen. Ich erinnere mich noch, dass ich den Einstieg mit Justus im Antiquitätenladen irgendwie zu langatmig fand.

Dann habe ich irgendwann auf diese Version hier geklickt und war sofort in der Geschichte drin. Mit sowas Historischem kriegt man mich sowieso so gut wie immer. Als ich dann an der Stelle mit Justus ankam, dachte ich erst mal: Hö? Ist das etwa dieselbe Geschichte?!

In dieser Hinsicht kann ich mich also vita anschließen, auch wenn ich leider die Urvariante gar nicht ganz gelesen hatte ... Die Idee mit dem Globus ist schon an sich gut, aber durch die Rahmenhandlung mit Behaim kriegt das ganze noch mal eine zusätzliche Dimension, und das gefällt mir verdammt gut. In der Darstellung der Figuren habe ich eigentlich nichts zu kritteln; vielleicht kann Max' "Tatschdrang" schon vorher angedeutet werden, etwa, wenn sie mit der Farbe am Werkeln sind.

Ansonsten: flüssig und angenehm zu lesen, schöne Idee, gute Pointe. Hat mir wirklich gefallen.

Liebe Grüße, ciao
Malinche

 

Hi Malinche,

vielen Dank für dein Feedback und dafür, dass du mir quasi eine zweite Chance gegeben hast, nachdem die erste Version dich nicht zum Weiterlesen bewegen konnte. ;)

Dass diese Fassung dir dann aber gefallen hat, stimmt mich glücklich. Vor allem, dass die Rahmenhandlung mit Behaim die Geschichte wirklich aufzuwerten scheint. Das war mir sehr wichtig, da ich die Idee dazu eigentlich schon vorm Schreiben der ersten Version hatte, aus Angst vor einer zu langen/zu komplexen Geschichte aber wieder verworfen habe. Für diese Version habe ich diese Angst jedoch mal über Bord geworfen und es einfach versucht. Das hat mich persönlich auf jeden Fall weiter gebracht, und die Geschichte ja anscheinend auch. :)


MfG
Travis

 

Hallo Travis,
Die Geschichte gefiel mir sehr gut.
Absolut gelungen, der Einstieg. Der Teil mit Justus beginnt für mich zu gemächlich. Ohne das Vorwissen um Behaim hätte ich möglicherweise zu lesen aufgehört. Da könntest du noch ordentlich straffen und vielleicht am Ende etwas detailierter werden.
Was mich auch etwas stört, ist die Tatsache, dass Justus und Max 2 Stunden arbeiten, um ihren Bruder einen Streich zu spielen. Das ist doch zuiel Aufwand. Warum machen sie nicht einfach etwas von ihm kaputt?

Zufrieden schaute sie auf den, nun für den Transport bereiten, Karton herab.
find ich umständlich formuliert
„Jetzt hab ich ’nen riesigen pinken Farbklecks auf meiner Hose!“
„Ich hab doch gesagt, du sollst alte Klotten anziehen!“
„Ja, hab ich ja auch, trotzdem will ich nicht mit so was auf der Hose rumlaufen. Ich geh ins Bad!“ Justus seufzte protestierend, wusste aber nur zu gut, dass Max so ziemlich der sturste Mensch der Welt war.
das finde ich irgendwie unglaubwürdig.

L.G.
Bernhard

 

Hallo Bernhard,

schön, wenn ich dich im Großen und Ganzen gut unterhalten konnte.

Was mich auch etwas stört, ist die Tatsache, dass Justus und Max 2 Stunden arbeiten, um ihren Bruder einen Streich zu spielen. Das ist doch zuiel Aufwand. Warum machen sie nicht einfach etwas von ihm kaputt?

Im Prinzip hast du Recht, dass das einfache Zerstören von Sachen des Bruders schneller gehen würde und vermutlich auch authentischer wäre. Also verstehe ich deinen Einwand natürlich, aber ich wollte Justus und Max etwas kreativer (oder auch „pfiffiger“) darstellen und dachte mir, dass die „Arbeitszeit“ ihnen auch eher Spaß machen würde. Zumal ich diese Art der Rache als fieser empfinde.

find ich umständlich formuliert

Ich schau mal, ob ich da noch was machen kann ... ;)

das finde ich irgendwie unglaubwürdig.

Sorry, aber was genau? Diese Szene sollte schon mal zeigen, dass Max sehr eigenwillig (etwas eigenartig) ist.

Vielen Dank für dein Feedback! :)

MfG
Travis

 

Hi Travis,

Sorry, aber was genau? Diese Szene sollte schon mal zeigen, dass Max sehr eigenwillig (etwas eigenartig) ist.
Gestört hat mich nicht die Sturheit von MAx, sondern dass er sich wegen einem Farbkleks auf der Hose aufregt. Es klingt, als würde der Kleks farblich nicht zur Hose passen und dass ihn das stört.
Glaubwürdiger hätte ich gefunde, dass er sich ärgert, dass die Hose versaut ist und dass er keine andere zum wechseln hat.

L.G.
Bernhard

 

Hi Travis,

ich mochte ja schon "Seine Prüfung" (hab das seinerseits ja auch empfohlen), aber die hier is noch mal drei ganze Ecken besser. :thumbsup:

Einzige Sache, die mich (ein wenig) stört: Klar, Max und Justus müssen irgendwie in die Werkstatt verfrachtet werden. Aber erst unterbricht das ihre Arbeit, später aber, als Elias in sein Zimmer kommt, ist schon alles pink. Außerdem wäre es unklug, den Fleck zu reinigen, wenn die Arbeit noch nicht um ist, da ja mit weiterer Arbeit weitere Flecken entstehen können. :)

Tserk

 

Hi Bernhard, hi Tserk,

zunächst mal dickes Sorry dafür, dass ich erst jetzt antworte. :shy:

@Bernhard:

Danke für die Rückmeldung. Nach meiner Intention regt Max sich eigentlich schon darüber auf, dass da überhaupt Farbe auf seiner Hose ist. (Ein bisschen aber auch, dass diese dann auch noch pink ist. ;)) Ich werde versuchen, die Stelle etwas zu modifizieren.


@Tserk:

Hui, um drei ganze Ecken gleich? :D Schön, wenn ich noch mal einen drauf setzen konnte.

Ich guck mal, dass ich deine Kritikpunkte noch ausbügeln kann und danke dir fürs Lesen und Kommentieren. :)


Wie ich mittlerweile übrigens gemerkt habe, hat vita diese Geschichte empfohlen. Vielen Dank dafür!


MfG
Travis

 

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