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Bei klarem Verstand
Ich bin nicht abergläubisch. Aber meine Nudeln dreizehn Minuten kochen zu lassen, kommt nicht in Frage. Die Gefahr einer Infektion ist einfach zu groß, und außerdem ertrage ich das Geblubber des siedenden Wassers nur noch genau sieben Minuten. So lange, wie das Streichquartett Nr.2 von Gabriel Lochmonov dauert. Die Spaghetti sind dann zwar noch ziemlich hart, aber wenigstens sicher.
Der weiße Schwarze, der jeden Morgen und jeden Abend meine Hand hält und dabei auf seine Uhr schaut, hat immerhin so viel Anstand, meine, zugegebenermaßen unorthodoxen, Kochgewohnheiten nicht zu erwähnen. Aber ich glaube an seiner Körpersprache zu erkennen, dass er sich innerlich darüber lustig macht, wenn ich ihm davon erzähle. Seine Augenbrauen, seine Mundwinkel und die kleinen Muskeln unter den Augen sprechen eine deutliche Sprache. Ich nehm’s ihm nicht übel. Er ist ein netter Kerl. Vielleicht bleibt er ja von dem, was da auf uns zukommt, verschont.
Anders verhält es sich mit dem Kerl, der das Zimmer gegenüber bewohnt und mich jeden Tag aufs Neue deutlich spüren lässt, dass er mich für verrückt hält. Ich versuche, ihn zu ignorieren, wenn er beim Nachmittagstee im Erdgeschoss seine zynischen Bemerkungen macht. Er verströmt den Gestank von Fernfahrersocken, aber das scheint hier niemanden zu stören. Jedes Mal, wenn er sich mit seinen vom Nikotin verfärbten Fingern durch die fettigen Haare fährt, denke ich voller Genugtuung an das, was ihm bevorsteht.
Die Spaghetti sind fertig. Nachdem ich das Wasser abgegossen habe, halte ich eine Hand in den Wasserdampf, der aus dem Topf steigt. Alles gut – keine Gefahr. Ich fülle mir einen Teller und streue Zucker und Kaffeepulver auf den blassgelben gordischen Knoten. Dann stosse ich die Gabel hinein und drehe sie genau siebenmal herum. Mit der linken Hand halte ich mich an der Tischkante fest, als ich spüre, dass mir die Erdrotation wieder einen Streich spielen will. Eine große Fliege setzt sich auf mein Handgelenk. Dass ich ein besserer Mensch geworden bin, zeigt sich daran, dass ich sie nicht verscheuchen oder erschlagen will und das Kitzeln ihrer Beine auf der Haut nicht mehr als störend wahrnehme. Das Schwindelgefühl lässt nach und ich lasse es mir schmecken.
Ich stelle das Radio jede halbe Stunde für etwa dreißig Sekunden an. Das reicht mir, um zu erkennen, dass draußen alles beim Alten ist. Allerdings höre ich in letzter Zeit fast nur noch Frauenstimmen und Musikfetzen, deren Eintönigkeit nur noch von ihrer vollkommenen Belanglosigkeit übertroffen wird. Bald wird das alles ein Ende haben. Gut.
Es klopft. Der weiße Schwarze kommt herein, betrachtet mich lächelnd und schüttelt den Kopf.
„Frieren Sie denn nicht? Vielleicht ziehen Sie sich besser mal was an.“
„Ich hab doch was an“, sage ich und zeige auf meine Füße.
„Ich seh’s“, grinst er. „Aber nur Socken und Hausschuhe. Ich suche Ihnen was raus, wenn Sie einverstanden sind.“
„Nur zu. Bald spielt das sowieso keine Rolle mehr.“
Das ist mir einfach so rausgerutscht, aber er lässt sich nichts anmerken, öffnet meinen Schrank und wirft ein paar Kleidungsstücke auf mein Bett.
„Was lässt Sie glauben, mir stünde der Sinn nach einer roten Hose?“
„Rot? Die Hose ist grau, wie alle Ihre Sachen“, sagt er. Um Streit zu vermeiden, gebe ich ihm Recht. Aber dieser giftgrüne Pullover …
„Na Professorchen? Bisschen FKK gemacht?“
Durch den Türspalt sehe ich das feixende Gesicht des Nachbarn. Er zwinkert mit dem rechten Auge und winkt mir zu. Ich sehe, dass er barfuß unterwegs ist. Hoffentlich fällt er die Treppe runter, denke ich und verziehe keine Miene.
Der weiße Schwarze geht zur Tür und schließt sie.
„So, jetzt ziehen sie sich erst mal an und machen ihren Spaziergang. Das wird ihnen guttun.“ Als wir Sekunden später den Schmerzensschrei im Treppenhaus hören, reißt er die Tür auf und eilt hinaus. Ich bleibe, wo ich bin. Schließlich bin ich nackt und weiß, was sich gehört.