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Bei Steinen gibt es keinen Defekt

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02.06.2005
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Bei Steinen gibt es keinen Defekt

Bei Steinen gibt es keinen Defekt

"Warum fährst du immer um mich herum? Immer so im Kreis zu fahren, macht dir das Spaß?"
Der Junge mit dem Fahrrad verkleinerte den Radius noch mehr. "Merkst du denn nichts?" fragte er atemlos und deutete nach unten. "Eine neue Zehngangschaltung. Damit fahre ich jeden Berg hinauf. Jeden, hörst du?"
"Kannst du sehr weit fahren mit deinem Fahrrad? Wie weit?"
"Dumme Frage. Das kommt natürlich auf die Zeit an."
"Zum Mond. Kannst du zum Beispiel bis zum Mond fahren?"
"Du bist verrückt! Niemand kann bis zum Mond fahren", sagte der Junge mit dem Fahrrad ärgerlich und stieg ab.
Der andere lächelte. Er hatte ganz große, dunkle Augen und ein schmales, sehr blasses Gesicht. "Ich kann es. Gestern war ich auf dem Mond. Ohne Fahrrad. Aber es war sehr kalt oben."
"Du hast geträumt."
"Das hat mein Vater auch gesagt. Und ich sagte zu ihm: Wie kann ich geträumt haben, wenn mir doch wirklich kalt war, wenn ich wirkliche Angst hatte vor den großen Tieren. Wirkliche, kalte Angst."
"Es gibt keine Tiere auf dem Mond."
"Wie kannst du so etwas sagen."
"Unser Lehrer hat das gesagt."
"War dein Lehrer auf dem Mond?"
"Natürlich nicht. Astronauten waren dort. Die haben es festgestellt."
Der blasse Junge wurde traurig. "Du redest wie mein Vater. Komm, spielen wir Steinedeuten."
"Kenn ich nicht", sagte der mit dem Fahrrad.
"Es ist einfach. Man nimmt einen bunten Stein und sieht ihn an. Dann sagt man, was er darstellt."
"Wieso darstellt?"
"Die Muster auf dem Stein, verstehst du? Hier zum Beispiel: ein Reh. Oder hier: ein Mann."
"Ich seh' nichts", sagte der Junge mit dem Fahrrad gelangweilt. "Kein Reh, keinen Mann, nichts. Es ist kein vernünftiges Wort an dem, was du da redest. Ich fahre jetzt wieder." Er stieg auf und strampelte davon.
* * *
"Schon zurück?" sagte der Junge mit den Steinen. "Warum schiebst du dein Rad? Bist du müde?"
"Nein zum Teufel, ich hab einen Defekt. Kettenriß. Materialfehler. Heute nichts mehr zu machen. Und morgen ist Sonntag, da hat der Mechaniker geschlossen. Das ganze Wochenende ist verdorben."
"Das verstehe ich nicht. Kannst du denn gar nichts anderes als Radfahren? Ich zum Beispiel habe meine Steine. Da gibt es keinen Defekt." Er lächelte und seine Augen wurden noch etwas größer. "Bei Steinen gibt es keinen Defekt."
Der mit dem Fahrrad wurde böse. Er griff nach den Steinen, diesem Spielzeug, das er nicht verstand, und warf sie mit aller Kraft fort nach allen Seiten. Er begann zu schwitzen und zog den Rock aus, dann das Hemd. Immer neue Steine kamen zum Vorschein. Große, kleine, graue, bunte. Der Knabe mit den großen Augen sah mitleidig herab auf den anderen, der in einem nun schon hüfttiefen Loch stand und Steine nach allen Seiten warf.
"Die ganze Erde besteht aus Steinen. Hast du das nicht gewußt? Und manche davon sind so groß, daß du sie nicht einmal bewegen kannst." Der andere hörte nicht mehr und grub weiter.
* * *
Der Junge mit den großen Augen betrachtete den Himmel. Eine große, dunkle Wolke sah er und eine kleine, weiße, wie Watte; und die große trieb auf die kleine zu und fraß sie auf, wie ein Tier. Der Junge wurde traurig. "Du böse Wolke!" sagte er leise. Doch als die große Wolke vorbei war und weiterzog, stand die kleine immer noch da wie zuvor. Und der Junge mit den großen dunklen Augen atmete ganz tief und lächelte.

 

Hallo dundich,

du skizzierst zwei verschiedene Formen, die Welt wahrzunehmen. Und wahr ist auch das, was wir nicht unmittelbar wahrnehmen und verstehen können. Dennoch wahr mir dieser Ausschnitt etwas zu wenig. Ich erfahre kaum etwas über die beiden Jungen und hätte mir ein bißchen mehr Tiefe gewünscht.

Details:

"Kannst du sehr weit fahren mit deinem Fahrrad? Wie weit"
Punkt fehlt, bzw. Fragezeichen.
Wirkliche, kalte Angst"
Hier fehlt wirklich ein Punkt. ;)
"Wie kannst du so etwas sagen.'"
Hier ist dir bei den Anführungszeichen ein Fehler unterlaufen.
"Schon zurück?" sagte der Junge mit den Steinen. Warum schiebst du dein Rad? Bist du müde?"
Hier auch.
"Nein zum Teufel, ich hab einen Defekt.
Würde der Junge wirklich "Ich habe einen Defekt" sagen? Ich glaube nicht.

Liebe Grüße
Juschi

 

Hallo Juschi,
die Geschichte hat ein 24-jähriger geschrieben,der gerade den "kleinen Prinzen" gelesen hatte und frustiert in einem 40-Mann Büro saß, als Konstrukteur mit literarischen Ambitionen - kurz, ich habe diesen Text 1957 verfasst.
Du möchtest mehr wissen über die beiden Knaben? Es gibt nicht mehr zu sagen, denn die Geschichte ist nicht real zu verstehen. Sie ist ein Gleichnis für den Sieg der Fantasie über die Realität. So sehe ich jedenfalls das Ganze. Auch heute noch.

Danke für die Verbesserungen. Die Fehler stammen vom Texterkennungsprogramm, mit dem ich die alten Sachen eingelesen habe. Ich hab sie korrigiert.
lg dundich

 

Die Paralelle zum kleinen Prinzen ist passend und gut.
Kurz und knapp: Schöne Geschichte!
Übrigens: Ich habe irgendwie schon bei "Balduin, der Karpfen" an den kleinen Prinzen gedacht.

Gruß,
tobbi

 

Hallo und herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag :)

Der Text erinnert stilistisch und thematisch sehr an den kleinen Prinzen. Leicht philosophisch, leicht melancholisch und meines Erachtens gut zum Vorlesen auch für Kinder geeignet. Wirklich schön zu lesen.

Persönlich hätte ich es schöner gefunden, wenn der Text über die Gleichnisse, Gedanken und Beschreibungen hinaus eine Handlung gehabt hätte, die das ganze zu einem Ganzen gemacht hätte. Denn so könnte der Text woanders beginnen und woanders enden ohne einen Bruch zu haben. Ein sicherer Rahmen hätte mir besser gefallen.

Grüße,
Anea

 

Anea schrieb:
Hallo und herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag :)
Herzlichen Dank!
Persönlich hätte ich es schöner gefunden, wenn der Text über die Gleichnisse, Gedanken und Beschreibungen hinaus eine Handlung gehabt hätte, die das ganze zu einem Ganzen gemacht hätte. Denn so könnte der Text woanders beginnen und woanders enden ohne einen Bruch zu haben. Ein sicherer Rahmen hätte mir besser gefallen.
Tut mir leid, Dich enttäuschen zu müssen. Es ist dies ein KURZgeschichte, und der Rahmen zwischen dem Eintreffen des Radfahrers und dem Lächeln des Steinedeuters erscheint mir sicher genug. Es geht in diesem Text vor allem um die Ausage: wer sein Glück ausschließlich in der materiellen Welt sucht, kann dieses leicht verlieren.

 

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