Bei Vollmond
Diese Geschichte fiel mir gerade in Anbetracht des heutigen Tages bzw. der heute stattfindenden Demonstrationen ein. Traurige Menschen....
Bei Vollmond
Zum unzähligsten Male prüfte er den Inhalt seines Rucksacks. Wenn alles funktionieren sollte, musste er sich professionell vorbereiten.
Er schaute auf die Funkuhr, die auf seinem Nachttisch vor sich hinblinkte und las 0:25 Uhr. In 35 Minuten musste er am Kalker sein, wo Robbi und Bohne auf ihn warten würden.
Vor Bohne hatte er niemals Angst gehabt, aber vor Robbi dafür umsomehr.
"Wenn wir diese Aktion hinter uns haben wird Robbi mich mögen. Ja, vielleicht wird er mich sogar für meinen Einsatz loben", redete er sich ein.
Er wollte dazu gehören. Natürlich hatte er viel über die Menschen von Robbis Sorte gehört und er war sich auch vollkommen bewusst, dass sie in den größten Teilen der Bevölkerung als niederes und gemeingefährliches, hrinloses Pack bezeichnet wurden, doch das machte ihm nichts aus. Robbi hatte ihn gegen den Willen der anderen in seine Clique aufgenommen und er hatte ihm zugehört.
Robbi hatte ihm sogar seine alten Stiefel geschenkt.
Nun glänzten seine Augen auf seine Schuhe, die er fein säuberlich in dem Regal neben der Tür postiert hatte. Neben seinen alten Turnschuhen standen Robbis alte Stiefel. Wie sonderbar er sie immer fand! Er hatte nie verstehen können, warum Robbi und die anderen Jungen solche häßlichen Stiefel tragen mochten, doch er hatte sich schweigend den Geschmäckern der Jungen gebeugt und sich von nun an immer, wenn er sie traf, Robbis Stiefel angezogen.
Seine Mutter hatte nichts zu den Stiefeln gesagt. Sie hatte ihn nur traurig angeschaut. Das machte sie nur noch, seitdem der Vater weg war.
Er schaute erneut auf die Uhr und stellte fest, dass er immernoch 29 Minuten Zeit hatte. Seufzend begab er sich zu dem Regal, um wenigstens die Stiefel schonmal anzuziehen.
An dem Mittwoch vor einer Woche, als sich die Clique am Supermarkt traf, um dort "rumzuhängen", wie Robbi immer so schön sagte, hatte er die Schnürbänder der Stiefel erneuern wollen und die weissen durch neue, schwarze Lederbänder ausgetauscht. Robbi war daraufhin sehr wütend geworden und hatte ihn gefragt, ob er denn sein überaus großzügigies Geschenk nicht zu schätzen wisse. Schleunigst hatte er dann die alten Schnürbänder wieder in die Stiefel eingefädelt, aber Robbis Unruhe nicht wirklich verstanden. Er hatte sich mit den Bräuchen der Neonazis niemals auseinandergesetzt.
Nachdem er sich die Stiefel zugeschnürt hatte, ging er abermals zu seinem Rucksack, räumte ihn wieder aus und hakte zum dritten Mal jedes einzelne Teil, was er fast liebevoll wieder in den Rucksack legte, auf der von Robbi geschriebenen Liste ab. Spraydose (Farbe rot), Tatoostift (Farbe schwarz), ein relativ großes Messer (für den Notfall), Tränengas (für den Notfall) und Zigaretten.
Er rauchte weder, noch wusste er, was mit "Notfall" wirklich gemeint war. Robbi hatte gesagt, es sei alles völlig sicher und ebenso zwingend notwendig.
Weg müssten die scheiss Penner, verschwinden. Nur Schaden würden die anrichten, deutsche Kinder verprügeln und Ehrenbürger betrügen und bestehlen.
Aber sie waren ja nicht gefährlich, ihre Clique sei eine sehr tugendhafte Vereinigung, hatte Robbi ihm immer wieder eingebläut und ihm freundschaftlich einen Klaps auf die Schulter gegeben.
Nur einen kleinen Denkzettel wollten sie dem Pack verpassen.
Er solle sich überraschen lassen, es würde einen Mordsspaß geben.
Noch 10 Minuten, jetzt musste er sich sogar beeilen. Er schnappte sich seinen Rucksack und schlich aus dem Haus. Eine Jacke brauchte er um diese Jahreszeit nicht, denn der Frühling war bereits vorbei.
Den Weg zum Kalker führte ihn über einen Feldweg durch Wiesen und Felder. Diesen Weg nahm er im Laufschritt.
Plötzlich löste sich die Schleife seines rechten Stiefels. Fluchend blieb er stehen und bückte sich hinunter, um die Schleife wieder festzuziehen.
Wie beruhigend und vertraut es hier draussen war! Noch nie hatte er auf die Geräusche der Nacht geachtet, geschweige denn ihnen andächtig gelauscht.
Rechts von seinem Weg befand sich eine wilde Wiese, auf der schon unzählige von Blüten ausgeschlagen hatten, die jetzt jedoch schliefen. Er konnte ein regelmäßiges Zirpen der Grillen vernehmen. In dem Wald hinter der Wiese heulte ein Tier, wahrscheinlich eine Eule und die Baumkronen wiegten sich durch eine leise herumstreifende Brise bedächtig raschelnd hin und her.
Über ihm befand sich mächtig und pompös, doch zugleich gütig und bescheiden, der schimmernde Mond. Vollmond, stellte er fest und konnte es sich nicht verkneifen, dem Mond freundlich zuzulächeln.
Er harrte noch aus, um den süßlich- angenehmen Duft der Nacht in sich aufzunehmen und die Liebe zur Natur, die jetzt durch ihn strömte, in sich aufzusaugen. Das Gefühl der Liebe war ihm ansonsten fremd.
Immer nur war er der Störenfried und merkwürdige Junge gewesen, aus dem nichts zu werden schien.
Doch das war jetzt anders.
Jetzt hatte er Freunde, die ihn irgendwie auch zu akzeptieren schienen. Was sie dafür von ihm verlangten, erschien ihm jedenfalls als ein sehr passabler und leicht zu zahlender Preis. In der Clique war er einer unter vielen und nicht der absonderliche, leicht zu quälende Junge.
Entschlossen raffte er sich auf, um die verführerischen Eindrücke der Nacht von sich abzuschütteln. Er hatte keine Uhr bei sich, doch er wusste, dass er das letzte Stück des Weges rennen musste, um nicht zu spät zu kommen.
Am Kalker angekommen, sah er Robbi und Bohne schon ungeduldig auf und ab gehen.
"Da bist du ja endlich, man", sagte Robbi launisch, "Wir dachten schon, du kommst nichtmehr".
"Doch doch, los geht`s", sagte er und versuchte, seine Stimme fest klingen zu lassen.
Robbi ging los, die Brücke war nicht weit entfernt vom Kalker.
"Hoffentlich sind die Penner auch da heut Nacht, ist ja schliesslich warm", meinte Bohne gelangweilt. Bohne war schon oft bei Aktionen dabeigewesen und ihm schien es mitlerweile fast egal zu sein, was dabei passierte.
Die Brücke kam in Sicht und Robbi blieb stehen. "Also, Bohne steht jetzt hier Schmiere und beobachtet, was passiert. Gib mal die Zigaretten für ihn rüber. Hast du alles dabei?"
Er warf Bohne die Zigarettenschachtel zu und holte die Spraydose, das Tränengas und den Tatoostift hinaus, um sie Robbi auszuhändigen. Er selbst steckte das Messer in seine Hosentasche.
"Wenn du nochmal pinkeln musst, heb´s dir noch auf, es wird gleich `ne gute Gelegenheit geben, es sinnvoll loszuwerden", lachte Robbi auf.
"Los gehts", sagte er und umfasste das Messer in seiner Hosentasche mit festem Griff.
Und er rannte so schnell neben Robbi her, dass sein Herz und seine Vernunft ihn nichtmehr einholen konnten.
Liebe Grüße von fluss