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Bei wieviel Grad brennt Papier von allein

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11.07.2021
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Bei wieviel Grad brennt Papier von allein

Wie schön war der Barchetto del Duca bei Nacht, dachte ich, und wie sanft lag der Mondschein über dem Park!
Bassani, Giorgio. Die Gärten der Finzi-Contini

Warum dieser ungewöhnliche Titel, und was hat ausgerechnet dieses Zitat am Anfang zu suchen, werden sich viele fragen. Das klingt ja, wie an den Haaren herbeigezogen. Darauf kann ich nur antworten: „Das paßt ganz genau. Das Zitat stammt aus dem Lieblingsfilm von dem, um den es hier gehen soll, genauer gesagt aus dem Roman, nach dem der Film gedreht wurde.“ Ich wußte übrigens, bevor ich ihn traf, gar nicht, dass es den Roman gibt, aber den Film kannte ich schon. Und die Frage, bei welcher Temperatur sich Papier von selbst entzündet, war ebenfalls sehr bedeutungsvoll für ihn, bei den vielen Papierstapeln in seiner Wohnung.

Er hatte übrigens einen sehr treffenden Spitznamen, den ich hier aber nicht verwenden will. Ich habe schon alles durchprobiert, aber mir fällt einfach kein anderer Name ein, der so dermaßen zutrifft. Deshalb möchte ich ihn namenlos lassen.

Es war gerade Vorweihnachtszeit, als ich meine befristete Stelle als Helferin in einem Kiezcafe in Friedrichshain antrat, ein Cafe, in dem man auch übernachten konnte und wo ich ihm, um den es hier gehen soll, über den Weg lief.

Es war der beste Job, den ich je hatte, und ich hatte endlich mal das Gefühl, etwas Nützliches zu tun. Ich hatte viel Arbeit, aber ich ging nach Feierabend regelrecht ungern nach Hause, besonders weil dann immer die Intellektuellenrunde eintraf, jedenfalls nannte ich sie so, zu der er natürlich auch gehörte. Ob da alle die Doktortitel hatten, mit denen sie sich schmückten, möchte ich mal dahin gestellt sein lassen, aber es war interessant ihnen zuzuhören. Ich staunte über ihre Belesenheit und was für ein Wissen sie hatten. Da konnte ich nicht mithalten. Es ging um Literatur, Kunst, Politik, Philosophie, Weltgeschichte. Er führte natürlich immer das große Wort und entpuppte sich als laufendes Literaturlexikon. Ich fragte mich bloß, warum Leute, die so klug waren, so in der Misere steckten.

Übrigens, die meisten von unseren Besuchern hassten Weihnachten. Ich schmückte einen riesigen Plastiktannenbaum, den wir aus einer Ecke hervorgesucht hatten, was bei den Anderen wenig Begeisterung auslöste und nur verdrängte Erinnerungen weckte. Er nahm sich aber auch merkwürdig hier aus.

Politiker, Zeitungsreporter, Radio und Fernsehen gaben sich die Klinke in die Hand, nicht nur zur Weihnachtszeit, aber jetzt besonders, weil sich da mit einmal alle für die Obdachlosen interessieren. Sie stürzten sich regelrecht auf uns. Irgendwie taten mir die Reporter auch leid. Sie hatten selbst Angst um ihren Job und blickten verunsichert auf die verwahrlosten Gestalten in der trostlosen Umgebung, mit denen sie nichts anzufangen wussten und die ihnen vielleicht auch irgendwie Angst machten und waren heilfroh wieder gehen zu können, wenn sie die Geschichte im Kasten hatten.
Da wandelt man auf einem schmalen Grad zwischen Authenzität und Bloßstellung. Auf diesem schmalen Grad wandele ich gerade selbst, während ich das hier schreibe.

Wenn das Fernsehen kam, machten sich die meisten von den Gästen dünne. Wer will schon zugeben, dass er in der Scheiße steckt. Sie hatten ja auch ein Leben in dem Ex-Arbeitkollegen und Familienmitglieder vorkamen. Wenn ich mal in eine Schieflage kommen sollte, möchte ich auch nicht abgefilmt werden, wie ich nach einer warmen Mahlzeit anstehe. Um so lieber gab unser Chef, der selbst aus der Obdachlosenszene kam, Interviews. Dieser Chef war ein wiedersprüchlicher Typ. In ihm stritten sich ein Engel und ein Teufel. Aber ich kam mit ihm sehr gut aus, er ließ mir viel Entscheidungsfreiheit. Er war Menschenkenner und hielt mich wohl für jemanden, die in jedem nur das Gute sieht. Insgeheim belächelte er mich wohl.

Oft gingen die Anderen zu Weihnachtsfeiern, meist fanden die in Kirchen statt, wo der Pfarrer mit seiner Tochter Bouletten briet. Ich bekam viele angeknickte Weihnachtsmänner geschenkt. Die von uns, die die Obdachlosenzeitung verkauften, machten in der Weihnachtszeit gute Geschäfte, besonders gut lief es wohl auf dem Weihnachtsmarkt am Alex.
Ich verstand mich übrigens mit den Meisten sehr gut. „Sie ist eine von uns.“ hörte ich mal zufällig im Vorbeigehen, als sie über mich redeten. Und ich wusste nicht, ob mir das jetzt gefallen sollte.

Schon immer wollte ich was über ihn schreiben. Den Anstoß gab eine Begegnung mit Jemandem von damals, den ich auch im Kiezcafe kennengelernt hatte. So habe ich erfahren, dass er vor ein paar Jahren verstorben ist. Er war einer der interessantesten Typen, die mir je über den Weg geflattert sind und wie Flattern muss man sich seine Art zu Gehen vorstellen. Ich sehe ihn noch mit wehendem weißen Haar in seinem offenen Mantel mit dem Pelzkragen neben mir herlaufen, unaufhörlich schwatzend, unter Mißachtung des Verkehrs auf der Straße. Ständig bückte er sich und hob etwas von der Straße auf. Ich konnte ihn einmal gerade noch am Schlawittchen packen, ehe er vor ein Auto lief. Er überlebte auch einen Unfall, hatte danach aber Einschränkungen.

Und bevor ich jetzt in Rührseligkeit verfalle und etwas über Alkoholismus, Messietum, Schizophrenie und so weiter schreibe, kam mir die Idee über die Lieblingsfilme- und Bücher, die dieser Film- und Literaturfreak verehrt hat und über die er ständig sprach, zu schreiben. Kein Tag verging, an dem er nicht wenigstens einmal die Gräfin Cosel oder den Zauberberg erwähnte.

Übrigens alle Rührseligen sind brutal, ist mir mal aufgefallen. Traut ihnen nicht!
Wahrscheinlich treten diese beiden Charaktereigenschaften immer als Duo auf. Ich habe immer eine tiefe Abneigung gegen Sentimentalität gefühlt. Wahrscheinlich liegt das daran, dass meine Mutter, die mich jahrelang brutal „vermöbelt“ hat, öfter solche falsch sentimentalen Anwandlungen hatte, so dass bei mir jetzt immer die Alarmanlagen angehen, wenn ich so etwas höre.

Ich muss ihn gar nicht weiter beschreiben. Diesen Zweck erfüllt der Film „Leolo“, für mich einer der genialsten Filme auf der Welt, viel besser. Ich hab ihn mal Anfang der Neunziger in einem besetzten Haus gesehen. Man sah eine Pute gackernd in der Badewanne sitzen. So in dem Stil ging es weiter, und schon bald riefen die ersten Autonomen „Aufhören, Aufhören“. Wir stimmten ab, und mit einer Stimme Vorsprung wurde der Film fortgesetzt.

Autonome, Studenten, die nach Wohnnungen suchten und Wehrdienstverweigerer aus Westberlin kamen im Frühjahr 90 aus Kreuzberg nach Friedrichshain rüber und besetzten hier Häuser, in manchen Straßen waren es ganze Straßenzüge. Diese Häuser, in denen junge Leute eine andere Form des Zusammenlebens erprobten, zogen natürlich von den Leuten aus der Umgebung diejenigen an, die auch nicht ganz so ins System paßten.
Leider bekam man zu den Hausbesetzern, die aus allen Regionen Westdeutschlands stammten, nur schlecht Kontakt. Sie wollten wohl unter sich bleiben. Es war wie ein Versprechen, das nicht eingelöst wurde. Im Osten hatten wir uns wohl zu romantische Vorstellungen von der Hausbesetzerszene, die zum Großteil aus bürgerlichen Intellektuellen bestand, gemacht. Wir sprachen die selbe Sprache, aber wir stammten aus zwei Staaten, die vierzig Jahre voneinander getrennt waren.
Lange Rede, kurzer Sinn. Es war eine Enttäuschung.

Zurück zu mir und dem Videoabend. Bald musste auch ich gehen. Der Film wühlte mich so dermaßen auf, dass ich nicht mehr weiterkucken konnte. Aber bald danach kam er im Fernsehen, und ich nahm eine Videokassette auf. Die Videokassette, die ich auch im Kiezcafe vorführte. Der Einzige, der durchhielt, war er. Er erkannte sich selbst in dem „Dompteur der Worte“ wieder. Das ist ein Stadtstreicher, der die Liebesbriefe, die die Anderen weggeworfen hatten, auf der Straße aufsammelt und bei sich hortet.
Sogar vom Äußeren sahen sie sich ähnlich. Wie dieser Mann trug auch er meist ein flatterndes Jacket und hatte weißes, zurückgekämmtes Haar. Von seinem Messietum gar nicht zu reden.

Ich weiß nichts über die Ursachen des Messiesydroms, aber mir ist schon klar, dass es eine Krankheit ist, deren Wurzeln tief in der Kindheit liegen. Ich wußte nicht, wie ich ihm helfen konnte und warum er eigentlich nicht jede Woche seine Theraphiestunden hatte. Wahrscheinlich ließen die, die davon gewußt hatten, es einfach so laufen, weil sie sich dachten, dass man daran nichts ändern kann.

Als ich ihn einmal besuchen wollte, brauchte er eine halbe Stunde, um mir die Tür zu öffnen. Als ich in die Wohnung trat, wurde mir auch klar warum. Im Flur hatte er nur einen schmalen Gang freigeräumt, links und rechts war Papier gestapelt. Eigentlich war in der Wohnung nur eine Mulde in seinem Bett frei, in die er sich, aber auch nur wenn er sich zusammengekrümmte wie ein Embryo, reinlegen konnte. Alles Andere, auch die Toilette, Herd, Waschbecken war verschüttet. Kein Tageslicht drang ein, da die Fenster zugestelllt waren. Das Oberlicht dagegen konnte man nicht mehr schließen, so dass, jetzt im Winter, kalte Luft eindrang.

Der Strom war abgestellt, nur eine kleine Kerze spendete Licht, was sehr gefährlich war, da bergeweise Papier aufgestappelt war. Ich bekam Angst um mein Leben. Wie sollte man hier rauskommen, wenn es zu brennen anfing. Die Wohungstür war mit Gerümpel zugestellt.
Vielleicht ist da mit der Zeit bei vielen Sozialarbeitern eine falsche Toleranz entstanden, denn dieser Zustand war lebensgefährlich, auch für die anderen Mieter.

Seine Lieblingsbücher waren der „Zauberberg“ von Thomas Mann, und heiß liebte er auch das Buch über die Gräfin Cosel von Josef Kraszewski. Was er wohl in ihr sah? Er war fasziniert von dieser Frau.
Die Ärmste, die 49 Jahre in einem Turm eingesperrt war, stammt aus einem armen Adelsgeschlecht und war wohl so eine Art gehobene Kinderprostituierte an den Fürstenhöfen, wohl mit Duldung ihrer Eltern und hatte schon mit sechzehn ihr erstes Kind bekommen. Zum Dank für ihre Dienste hat sie wohl eine Mitgift erhalten und ist verheiratet worden mit einem Mann, der schon eine Mätresse hatte. Dann kam August, und wie der mit ihr verfuhr ist Geschichte. Seine anfängliche Liebe schlug ins Gegenteil um.

„Das stelle ich mir lustig vor. Der Arme.“ denke ich. „Da muss er ja den Zauberberg auswendig lernen, und der ist bekanntlich nicht dünn.“ Aber es geht nicht anders. Jeder muss sein Lieblingsbuch im Kopf haben, ehe es die „Feuerwehr“ verbrennt. „Hierbei handelt es sich um „Fahrenheit 451.“ wird jetzt den Filmkennern unter uns sofort auffallen. „Und damit habt ihr habt recht.“ Aber warum ausgerechnet dieser Film einer der absoluten Lieblingsfilme von ihm war, kann ich auch nicht nachvollziehen, auch wenn Oskar Werner darin genial war. Der Titel des Films bezieht sich auf die Temperatur, bei der sich Papier selbst entzündet.
Wenn ich da an das viele Papier denke, dass aufgestapelt in seiner Wohung lag.

Übrigens, Jemanden, der den Faust auswendig konnte, habe ich mal beim Trampen kennengelernt. Ich sagte unvorsichtigerweise zu ihm: „Lass mal hören.“ Der Fahrer freute sich das er eine Probe seiner Kunst geben konnte, und meine Freundin und ich mussten, Nonstop, die ganze Autofahrt über, den ersten Teil vom „Faust“ über uns ergehen lassen.

Seine Liebe zur „Fahrenheit“ wurde nur wurde nur noch getoppt von der zu den „Gärten der Finci Contini“. Das kann ich allerdings schon eher verstehen. Aber ich fand es verwunderlich, dass er sich dermaßen in das Schicksal reicher italienischer Juden reinsteigerte, die sich gegenüber dem Faschismus in Sicherheit glaubten und die Gefahr verdrängten, was sich leider als Irrtum entpuppte. Der, um den es hier geht, verdrängte ebenfalls völlig seine Realität.

Völlig geschockt hatte mich die traurige Liebesgeschichte. Erst kämpft Giorgio ewig um Micol, und als er denkt, dass das Glück zum Greifen nahe ist, löst es sich plötzlich in Luft auf.
Er will Micol seine Liebe endlich gestehen und klettert deshalb nachts über die Mauer des Parks, der das schloßähnliche Anwesen ihrer Eltern umgibt.
Gärten spielen übrigens eine große Rolle in der rabbinischen Mythologie und versinnbildlichen den Garten Eden und symbolisieren Fruchtbarkeit.
Ihr riesiger, alter Hund, der immer bei ihr ist, kommt ihm entgegen und begrüßt ihn. Doch ein Anderer, den er gut kennt, ist ihm zuvorgekommen. Durch die hellerleuchteten Fenster der „Hütte“ kann er eine Frau und einen Mann sehen, die sich lieben. Er hatte die Beiden immer nur für Freunde gehalten. Es läuft wohl schon lange was zwischen ihnen. „Sie liebt mich nicht.“ muss er sich eingestehen, und sie sehen sich niemals wieder.

Als ich mir den Film jetzt noch einmal ansah, um herauszufinden warum „Er“ so davon begeistert war, wurde mir klar, dass mir mal das Gleiche passiert ist, aber nicht in den Gärten der Finci Contini, sondern hier in der Nähe. In einem dunklen Park beobachtete ich ein Pärchen, das sich küsste. Sie waren so mit sich beschäftigt, dass sie mich nicht bemerkten. Der Mann beugte sich zu der Frau runter, die sehr klein war. Wegen seiner Größe musste er sich tief nach unten beugen. Die Frau kannte ich gut. „Aber wer ist wohl der Mann?“ überlegte ich. Ich konnte ihn in der Dunkelheit nicht erkennen. Ein Verdacht stieg in mir auf. „Sollte das etwa...? Das kann nicht sein.“ Ich war genauso arglos wie Giorgio in den „Giardinos“.
„War da nicht etwas mit Adam und Eva im Garten Eden?“ kam es mir in den Sinn.

Außerdem ist nirgendwo sein Hund zu sehen. Und den hatte er ja vor kurzem noch dabei gehabt. Sein Hund war schon 15 Jahre alt, so groß wie ein Pferd und er besaß ihn, seit er ein Welpe war. Ich komme auf die Idee, dass er vielleicht den Hund in seinem Auto eingeschlossen hat und schaue in jedes Auto, das in der Nähe geparkt ist.
Inzwischen sind die Beiden aus dem Park verschwunden.
„Ich habe mich wohl geirrt.“ denke ich und fahre mit meinem Fahrrad bis zur Lichtenberger Brücke.
Ich halte an und schaue auf die Gleise unter mir und auf die Züge, die nachts zum Bahnhof Lichtenberg fahren. Für viele ist das das ultimative Großstadtfeeling. Mein Atem gefriert in der Luft. Dieses Jahr ist der Frühling spät dran. Die Rummelsburger Bucht ist noch vereist. In einer Woche ist Ostern.

Übrigens mein „Held“ hatte nicht nur gute Seiten. Als er das erste Mal bei mir war und im Regal die Gesamtausgabe von „Die Suche nach der verlorenen Zeit“ von Proust sah, fragte er mich allen Ernstes, ob ich das überhaupt gelesen habe. Das war schon frech. Wie viele Intellektuelle hielt er Andere für dumm. Das steht übrigens auch bei Proust.
Und dann seine Bemerkung über meine Lampe, über die ich mich geärgert habe. Er machte er eine sehr abwertende Bemerkung über das Design meiner Deckenlampe. Auf die Idee mir diese Lampe, die nicht billig war, anzuschaffen, bin ich gekommen, als ich kurz nach der Wende einen Kreuzberger Szenetyp mit Rastalocken kennenlernte.
Man könnte es auch als eine andere Art der Wiedervereinigung bezeichnen.
Als ich morgens aufwachte, fiel mir auf, dass über mir die selbe Lampe hing wie im Schlafzimmer meiner Oma in ihrem kleinen Städtchen in Mecklenburg. Wenn sie mich zum Mittagsschlafen zwangen, zählte ich oft aus Langeweile die Striche auf dem Lampenmuster. Und ausgerechnet hier in Kreuzberg, ein paar Wochen nach Mauerfall, begegnete mir diese Lampe wieder. Das Design muss im Deutschland zwischen den Weltkriegen sehr verbreitet gewesen sein.
Da ich annahm, dass solche Lampen aus Omas Zeiten jetzt angesagt sind, legte ich mir auch so eine zu, als ich sie mal im Secondhandladen sah.

Ein Tick von ihm war auch, jeden für einen Juden oder für schwul zu halten. Vielleicht war er Beides.
Und was er wirklich über mich gedacht hat, möchte ich lieber nicht wissen. Mir ist da einiges zu Ohren gekommen. Aber ich konnte ihm sowieso nichts übel nehmen
Nun werde ich doch noch sentimental, obwohl ich geschrieben habe, dass ich den Sentimentalen nicht über den Weg traue. Aber es geht nicht anders. „Du fehlst uns Professor.“

Nachtrag: Ich war vor ein paar Jahren am 24.Dezember abends mal wieder im Kiezcafe. Ich wollte einen Stapel Zeitschriften abgeben, damit sie da über Weihnachten was zu lesen haben. Zu meiner Verwunderung war das Cafe jetzt, kurz vor zwanzig Uhr, immer noch nicht geöffnet. Und das am Heiligen Abend. Ich stand mit einer Truppe frierender, frustrierter Männer vor der Tür, obwohl drinnen Licht brannte. Als sie uns endlich reinließen und ich die Zeitschriften in eine Ecke legte, sah ich erstaunt, dass nichts Eßbares vorhanden war.
Ich hätte mit einem schönen Weihnachtsabendbrot mit heißen Würstchen und Kartoffelsalat, Heißgetränken, Glühwein ging ja nicht, während im Fernsehen die Haselnüsse von Aschenputtel liefen, gerechnet. Das wäre früher undenkbar gewesen, denn unser Chef, der das Cafe gegründet hatte, war eigentlich ständig da, und die Tür stand immer auf. Morgens um sieben wurde geöffnet und abends um zwölf wurde wieder abgeschlossen.
Und zu essen war immer jede Menge da. Leider musste er, der früher Zuhälter und Drogenhändler war, wegen Unregelmäßigkeiten gehen. Da kam wohl jemand nicht raus aus seiner Haut. Ich bin fast geneigt zu sagen: „Vergesst die Unregelmäßigkeiten. Er hat ja auch kein Gehalt bezogen, sondern bloß Stütze, hatte nie Urlaub. Dadurch hatten die Leute ein Cafe, das jeden Tag auf war und wo es das ganze Jahr über und nicht nur im Winter, Übernachtungsmöglichkeiten gab.

 

Hallo Frieda Kreuz,
ich wollte die Geschichte nur mal kurz überfliegen, fand den Anfang gar nicht so animierend, aber dann war ich auch schon drin und bin begeistert. Deine Schilderungen der Wendezeit, die treffenden Milieuszenen, deine liebevoll ironischen Bilder haben mich gepackt. Vielleicht trägt dazu bei, dass ich Friedridrichshain und Kreuzberg ganz gut kenne und zur Wendezeit öfter dort war. Hat den Lesegenuss sicher gesteigert.
Mehr kann ich jetzt gar nicht sagen, wollte aber unbedingt diesen ersten Eindruck hinterlassen.
Viele Grüße,
Jutta

 

Ich fragte mich bloß, warum Leute, die so klug waren, so in der Misere steckten.
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Da wandelt man auf einem schmalen Grad zwischen Authen[ti]zität und Bloßstellung.
...
Außerdem ist nirgendwo sein Hund zu sehen. Und den hatte er ja vor kurzem noch dabei gehabt. Sein Hund war schon 15 Jahre alt, so groß wie ein Pferd und er besaß ihn, seit er ein Welpe war.

Moin Frieda,

na, das mit dem Hund ist entweder einem Wundertier oder einem ausgestopften Hund zu verdanken, denn die Faustregel gilt, je größer der Hund, umso kürzer die Lebenserwartung, und die sinkt allgemein momentan durch mancherlei blödsinniger Überzüchtung, aber ich weiß – Du musst und willst das loswerden und dass Dein Leben keine kurze Geschichte, geschweige denn eine Kurzgeschichte, weißtu auch, und dennoch hab ich diesen Teil der Selberlebensbeschreibung durchgelesen (wiewohl meine Göttergattin zwischendurch mit den Einkäufen zurückkam und ein Lasttier brauchte, eben mich, und nicht nur um einer Kiste Bier (heute mal wieder Einbecker, Bockbier – bissken mehr Allohol als Pils - aus’m Harz) willen geschieht es auch.

Und – so ganz nebenbei – bei uns im Pott ist auch eine Hausbesetzerszene („...ela“, hierorts verewigt, und ich sind immer noch mehr als nur befreundet und „Eisenheim“ dürfte über den Ruhrpott hinaus ein Begriff sein).

Aber was Du unbedingt tun musst, ist Dich in die Grammatik einlesen. Selbst sinnvolle Neuerungen der Rechtschreibreform gelingen nicht wie etwa

„Das paßt ganz genau. Das Zitat stammt aus dem Lieblingsfilm von dem, um den es hier gehen soll, genauer gesagt aus dem Roman, nach dem der Film gedreht wurde.“ Ich wußte übrigens, …
aber dagegen
… fällt einfach kein anderer Name ein, der so dermaßen zutrifft. Deshalb möchte ich ihn namenlos lassen.

Nach neuerer, wie ich finde durchaus sinnvoller Regel, werden kurze Silben mit doppel-s geschrieben (also „passt, wusste, lassen“) und gedehnte Silben mit ß. Es ist der Gegensatz von Fuß und Fluss, ein erster Schritt (versuch mal selbst in dem Text).

Der zwote gilt Zusammensetzungen wie „wie viel“ oder „wieviel“, aber durch „viele“ – auch Dear, liebe Frieda, schon wieder ausgehebelt wird.

Tatsache ist, dass Deutsch eine lebendige Sprache sein will und damit ständig in Veränderung und deren Anpassung steckt. Dass dabei ein Englisch - wie am Händy - entsteht, ist entweder Ironie der Geschichte oder ein gehöriges Maß an Beschränktheit. Auch Blödsinn kann sich durchsetzen ... Also manchmal hab ich den Eindruck; dass die Sprachwächter in Mannheim auch Mehrheitsentscheide durchgehen lassen und das Wahlmedium so das ver/öffentlichte (aber keineswegs das gesprochene) Wort wird. Der Hammer für mich, als ich erfuhr, dass an einer Grammatik des gesprochenen Wortes gearbeitet wird.

Sollten wir zu einer chinesischen/Mandarinen Kolonie werden? Aber zurück zum hier und jetzt:

Wichtig ist zunächst und zuvörderst, dass einer verstanden wird in dem, was er sagt und schreibt.

Es gibt im Deutschen übrigens noch eine Grammatik, den „Wahrig“ (eben – wie der Duden – nach seinem Begründer genannt), dahinter steckt heute die Bertelmannstiftung und so gern ich den Wahrig auch hab, die Bertelmannstiftung ist mir ein kapitalistisches Gräuel, weil sie geschafft hat, das Gesundheitswesen zu amerikanisieren, anstelle der Pflegetage die Fallpauschale einzuführen. Wurde vordem der eine oder andere Patient ein oder zwei Tage „zur Beobachtung“ länger gehalten, so werden jetzt die teuren Fälle bevorzugt und vllt. sogar jemand etwas vorsorglich angedient, von dessen Krankheitsbild vordem kein Mensch wusste ...

Während Corona haben wir wahrlich Glück gehabt, dass noch nicht alle scheinbar überflüssigen Betten abgebaut sind.

Aber das tut alles nichts zur Sache:
Du musst unbedingt jemand in Deiner Umgebung finden, der gegenliest …

findet der

Friedel
aber lass Dear durch mich nicht das Wochenende verderben

 

Hallo Jutta,
an meinem ersten Satz muss ich noch arbeiten. Er wirkt wahrscheinlich langweilig und wenig einladend auf Leser.
Du schreibst, dass Du in der Wendezeit auch in Kreuzberg und Friedrichshain warst und Dich deshalb gut in das Beschriebene hineinversetzen kannst. Genauso wie Dir erging es meiner Mutter mit einem Buch von Jana Hensel/Zonenkinder, das ich ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. Als sie es nach einem halben Jahr endlich mal aufschlug, sie liest eigentlich nie etwas, fiel ihr Blick gleich auf das Wort Leipzig, wo sie studiert hatte, und sie las das Buch in einem Zuge durch. Auch Morphin wurde dadurch, dass er eine landwirtschaftliche Ausbildung absolviert hatte, dazu animiert meinen Text "Traktor" zu lesen. Man sucht wohl Bekanntes.
Übrigens, das Kiezcafe war in der Wühlischstraße, und der dunkle Park, wo ich das Pärchen beobachtet habe, war der Boxhagener Platz. Die Hausbesetzerkneipe, wo ich den Film "Leolo" gesehen habe, war das Supamolly.
Gruß Frieda

Hallo Frieder,
ich muss mich endlich mal dazu aufraffen, ein Rechtschreibprogramm durchlaufen zu lassen. Bloß, da kann man immer nur einzelne Teile eingeben und findet nachher den Anfang nicht mehr. Das mit der "Gratwanderung" finde ich ja lustig. Das kommt bestimmt daher, dass ich soviel über Grad Fahrenheit gelesen habe, und dann habe ich Grat und Grad verwechselt.
Eine frohen ersten Advent, hoffentlich nicht im Kiezcafe, wünscht Frieda.

 

Hallo Frieda Kreuz,

ein glänzendes Stück Zeitgeschichte, schnoddrig und gefühlsbetont, einfühlsam und sehr unterhaltend. Ich bin ein paar Mal um die Überschrift herumgeschlichen und ... ja, soll ich ... will ich ... aber dann kam es wie eine Schlittenfahrt durch die Zeit über mich. Herrlich. Als es noch Ost und West hieß, gaben wir ein Konzert in Kreuzberg, gleich nach der Wende eine Woche Kollwitzplatz und zehn Jahre später noch einmal ... ja, Du hast es gut getroffen. Kopf und Herz gehen Hand in Hand. Tolle Wortwahl, unkompliziert und - kurz: Ich hab´s gerne gelesen.
Gute Zeit - Detlev

 

Hallo Detlev,
nett, was Du schreibst. Wegen der Überschrift: Ich weiß natürlich, dass sie langweilig klingt. Es sollte an das Lieblingsbuch bzw. Film von meinem Helden, nämlich "Fahrenheit 451", das ist die Temperatur bei der Papier alleine brennt, erinnern. Er hat diesen Film wirklich extrem verehrt. Bei vielen, die ihn auch schon gesehen haben, wird es klingeln, wenn sie die Überschrift lesen.
Gruß Frieda

 

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