Ben & ich
"Du suchst dein Heil in der Flucht, mein Sohn, das ist nicht der richtige Weg", klagt die Handschrift meines Vaters mich an. "Deine Probleme lösen sich nicht, wenn du wegläufst. Irgendwann holen sie dich wieder ein, egal, wie gut du dich versteckst."
Jeder seiner Sätze ist wahr, natürlich. Mein Vater ist wie die meisten Väter: stark, mächtig und schlau, zumindest hat er immer diesen Eindruck auf mich gemacht. Bei meinem Vater kommt noch sein Alter hinzu, das bewirkt, dass er nicht nur schlau, sondern in meinen Augen sogar weise ist. Als ich geboren wurde, war mein Vater fünfzig, meine Mutter fünfundzwanzig. Liebe schert sich nicht um Lebensjahre, diesen Satz habe ich mal irgendwo gelesen und er ist wahr.
Jetzt ist mein Vater fünfundsiebzig, sein Bart ist weiß geworden, aber er raucht seine Pfeife und sagt wahre Dinge wie eh und je. Der Unterschied ist, dass die Dinge heute noch ein bisschen mehr Wahrheit enthalten als früher. So hat er auch dieses Mal recht, wenn er sagt, ich könne vor meinen Problemen nicht davonlaufen. Aber das weiß ich selbst. Und mein Vater ist zwar weise, aber nicht allwissend. Ich laufe nicht vor meinen Problemen davon, ich nehme nur Urlaub von ihnen. Es gibt Menschen, die würden sagen, dies sei dasselbe. Aber ich gehöre nicht dazu. Ich weiß, dass ich irgendwann zurückkommen und mich allem stellen muss. Und das werde ich auch, irgendwann, wenn ich in Ruhe und mit Abstand nachgedacht habe.
Der Wind zerzaust meine Haare, die schon wieder viel zu lang geworden sind. Ich rieche das Salz des Meeres und höre das Kreischen der Möwen über mir. Wenn ich nach unten in das schäumende Wasser blicke, wird mir schwindelig. Wenn ich nach oben in das endlose Blau des Himmels schaue, auch.
Der Brief meines Vaters zittert leicht in meinen Händen, vom Wind, aber auch, weil ich meine Hände selbst heute nicht still halten kann. Irgendwie hat mein Vater es geschafft, den Brief in meinen großen blauen Wanderrucksack zu schmuggeln, obwohl ich diesen doch die ganze Zeit im Blick hatte. Jetzt lese ich zum dritten Mal, was er mir geschrieben hat, und bereue nichts. Nichts, von dem, was ich getan habe und soviel Unglück gebracht hat, auch über mich selbst, und nicht, dass ich gegangen bin.
Mein Körper ist gefüllt mit einer unbändigen Wut, so stark, dass sie mich zu zerreißen droht, und gleichzeitig mit Mitleid. Auch dieses kraftvoll und zerstörerisch. Wahrscheinlich bin ich nur deshalb noch nicht geplatzt, weil sich die beiden Gefühle gegeneinander aufheben. Wut und Mitleid, eine paradoxe Gefühlsmischung, vor allem, wenn sie sich auf dieselbe Person- in meinem Fall auf eine ganze Gruppe- richten.
Ich versuche mich abzulenken, an etwas Schönes zu denken, an etwas, dass keine Verknüpfung zu Negativem zulässt. Eine Blume, zum Beispiel. Das Bild eines Gänseblümchens taucht vor meinem geistigen Auge auf und ich klammere mich daran fest, will diese harmlose, natürliche Schönheit nicht mehr gehen lassen. Doch die Blume hält meinem Klammern nicht stand, wird welk und verliert ihre Blütenblätter, lässt sich leicht ablösen durch ein anderes Bild: Ben. Sein hübsches, glattes Gesicht mit dem dunklen Lächeln. Die Kontur seiner Lippen. So schön, dass ich für einen Moment das Gefühl habe, über die Reling des Schiffes in das tosende Wasser zu fallen, weil mein Bauch sich so sehr verkrampft, dass ich vor Schmerz aufstöhne. Doch meine Gedanken stört das nicht, sie ziehen mich weiter mit auf schmerzhafte Reisen, zu denen ich nicht bereit bin. Bens Lippen auf meinen. Die Blumenwiese, die Sonne, er, ich. Wir beide. Die Erinnerung an meine Gefühle in diesem Moment steht wie plastisch vor mir: Glück, Wärme, Liebe, Licht.
Es war ein schöner, warmer Tag Ende Juni. Die Sonne knallte vom Himmel, als wollte sie den Regen der vergangenen Wochen wieder gut machen, die Blumen streckten ihre Blüten gen Himmel und das Gras unter unseren Körpern war weich wie das Fell der Kaninchen, die gar nicht weit von uns frech herumrannten. Es roch nach Blumen und nach Sommer, der Himmel war blau wie mit Wasserfarbe angemalt und man hörte nichts außer dem leisen Summen der Insekten und dem fröhlichen Zwitschern der Vögel. Alles, was ich ansah, war Ben, und auch er hatte nur Augen für mich. Ich fühlte mich so voll mit guten Gefühlen, dass ich fast fürchtete, gleich überzulaufen. Und für Ben war es genauso, das wusste ich, ohne dass er es laut aussprechen musste. Ich sah es in seinen Augen und las es in seinem Lächeln. Wir waren verliebt bis über beide Ohren, ich in ihn und er in mich.
Wir kannten uns schon lange flüchtig aus der Schule, waren jahrelang in derselben Stufe gewesen, hatten aber kaum jemals ein paar Worte gewechselt. Eine Woche zuvor hatten wir uns zufällig im Supermarkt getroffen und uns zum ersten Mal richtig unterhalten: Ach ja, zusammen Abi gemacht, und, wie geht´s dir so? Wir machen mal was zusammen, hatten wir beschlossen, und dies von nun an jeden Tag getan, denn schon am nächsten Tag im Freibad funkte es zwischen uns. Fallen in love for the first sight.
Da lagen wir nun im Gras, zogen uns langsam gegenseitig aus und liebten uns schließlich, so zärtlich, wie ich es noch nie vorher erlebt hatte. Alles passte. Es war der richtige Zeitpunkt, der richtige Ort und der richtige Mann, das spürte ich in jeder Zelle meines Körpers.
In unserer glückseligen Realitätsvergessenheit bemerkten wir nicht die Schritte, die sich näherten, und nicht die sich unterhaltenden Stimmen. Aber wir hörten den Schrei. Es war der Schrei einer Frau, so spitz, so hoch und so entsetzt, dass wir erschreckt voneinander abließen und aufsahen. So sahen sich die zwei feindlichen Parteien an, und für einen kurzen Moment schien die Welt wieder in Gut und in Böse eingeteilt zu sein. Doch das diffuse Gefühl, dass wir, Ben und ich, in diesem Fall die böse Seite repräsentierten, zumindest aus der Sicht der anderen, war nicht angenehm.
Uns gegenüber standen ein Mann, zwei Kinder und die noch immer schreiende Frau, auf der anderen Seite (scheinbar durch Welten getrennt), saßen wir, das "Böse", Ben und ich, die hastig versuchten, ihre Blöße zu verdecken. Die Familie des Bürgermeisters, erkannten wir. Der Bürgermeister galt als ruhiger, eher wortkarger Mann, was seine Frau allerdings durch eine stets zu schnelle und vor allem spitze Zunge wettmachte und alles in der Luft zerriss, was ihr vor die Augen kam. Diese Frau also schrie noch immer, und niemand hinderte sie daran. Auch sonst schienen alle wie gelähmt, zu geschockt zum Handeln. Die Szene wurde bestimmt von Blicken. Die Kinder blickten verstört, weil sie die Situation nicht richtig einschätzen konnten und weil ihre schreiende Mutter ihnen Angst machte. Das Gesicht des Bürgermeisters war wie immer neutral, so frei von allen Gefühlsregungen wie nur möglich. Die Frau schrie weiter, Mund und Augen weit aufgerissen. Es war ein surrealer Moment. Wir hörten das Schreien, aber gleichzeitig ließ sich die Geräuschswelt der Natur nicht beirren, die Vögel pfiffen weiter und auch die summenden Bienen waren nicht störbar. Als der Schrei plötzlich endete, erschraken wir fast, so laut war die beruhigende Stille, die einsetzte. Die Familie des Bürgermeisters stapfte von dannen, betont wütend kleine Pflanzen und Gräser zertretend. Übrig von der Frau blieb nur die Erinnerung an ihr rotes Gesicht, den Schrei und ihr am Ende noch in unsere Richtung gezischtes "Das wird Konsequenzen haben!". Wie immer hatte sie es verstanden, sich in Szene zu setzen.
Ben und ich saßen im Gras und blickten uns an. "Das wird Konsequenzen haben!", kreischte Ben plötzlich und gab damit den Startschuss, so stark zu lachen, dass wir uns im Gras rollten und uns die Tränen die Wange hinunter liefen. Doch es war kein fröhliches Lachen, es war zu laut und zu hysterisch, und wir konnten gerade noch rechtzeitig damit aufhören, bevor es in Weinen umschlug. "Die Leute werden sich das Maul über uns zerreißen", stellte Ben endlich fest. "Na und, die können uns doch mal!", entgegnete ich und er nickte. Dann zogen wir uns an, suchten unsere im Gras verstreuten Sachen zusammen und gingen Hand in Hand nach Hause.
Die Einstellung meiner Eltern war die der typischsten 68er-Vertreter, sehr links, sehr liberal und sehr tolerant. Ich erinnere mich noch gut daran, was sie sagten, als ich ihnen von der Begebenheit mit der Bürgermeisterfamilie erzählte. "Manchmal brauchen die Leute ein bisschen Zeit, um sich an Neues zu gewöhnen, aber früher oder später finden sie sich mit allem ab", verkündeten sie einen ihrer mir bereits wohlbekannten Weisheiten. Dass dieser Satz ziemlich naiv war, war mir schon früher aufgefallen, aber in dieser Situation machte das nichts und wir ließen uns davon beruhigen.
"Alles wird gut!", versuchten meine Eltern uns zu trösten, weil unsere anfängliche "Leckt uns am Arsch"-Haltung völlig verschwunden war und zwei verängstigte Häufchen Elend zurückgelassen hatte.
"Ihr kennt die Leute hier nicht so wie ich", war alles, was mein Freund sagte, und damit hatte er wohl recht. Er war nicht wie wir ein Zugezogener, er war in diesem Ort aufgewachsen und lebte schon sein ganzen Leben lang hier. "Ach, Menschen sind doch überall gleich!", war die Meinung meines Vaters, er öffnete unbekümmert den Kühlschrank und holte eine Flasche Wein heraus. "Nach einem Glas Wein sieht alles ganz anders aus!", behauptete er.
Mein Blick schweift in Richtung Wasser, für einen Moment wird mir schwindelig. Dann plötzlich erscheinen Bens Augen in der kreiselnden und sich wirr drehenden Flüssigkeit und wenig später der Rest seines Gesichtes. Nichts als Erstaunen spricht aus seinem Blick. "Was ist passiert?", scheint er mich zu fragen.
Ich weiß es nicht, Ben.
Du bist derjenige, der gegangen ist, nicht ich.
Ich starre weiter ins Wasser, in dem ich noch immer sein Gesicht sehen kann, das Gesicht, das mir so viel bedeutet hat, das ich mir stundenlang ansehen konnte, weil es in meinen Augen so viele Geheimnisse barg, das Gesicht, das am Ende so leer war, so frei von allem.
Die auf unsere Begegnung mit der Bürgermeisterfamilie folgende Zeit war die Hölle auf Erden. Natürlich hatte die Frau des Bürgermeisters ihre Arbeit sauber und schnell erledigt- drei Stunden nach unserer "Entdeckung" wussten sämtliche dreitausend Einwohner des Dorfes Bescheid. Am Anfang war das Gerede harmlos, das übliche Getuschel. Man sah uns nicht mehr in die Augen, flüsterte hinter vorgehaltener Hand. Wir trugen es mit erhobenen Häuptern. "Es gibt nichts, wofür wir uns schämen müssten!", versicherten wir uns gegenseitig so oft, als galt es, uns noch selbst davon zu überzeugen, und das war wohl auch so.
Doch was wir für eine dumme, vergängliche Sensation gehalten hatten, wurde langsam größer statt kleiner. Die Menschen redeten immer scharfzüngiger, immer böser, anstatt die Sache langsam wieder auf sich beruhen zu lassen und sich für etwas Neueres, Spannenderes zu interessieren, wie sonst immer bei Gerede solcher Art. Wir hatten die Leute unterschätzt. Die stolzen Christen unseres Dorfes , denen ihre Nächstenliebe fast auf die Stirn tätowiert war und die jeden Sonntag aufs Neue beteuerten, alle Menschen seien gleich und man solle auch seinen ärgsten Feind lieben - diese Menschen waren wohl nachtragender und vorurteilsbehafteter, als wir gedacht hatten.
"Sie fühlen sich nicht ernst genommen", erklärte mein weiser Vater. "Ihre alten Werte, alles, was ihnen beigebracht wurde, wird untergraben, und das ohne ihre Erlaubnis. Es verletzt und verwirrt sie." Wir versuchten Verständnis aufzubringen, Ben noch ein bißchen mehr als ich. "Versuch, sie zu verstehen. Unsere Art von Liebe ist neu für sie. Sie müssen sich daran gewöhnen. Gib ihnen Zeit." Ben zuliebe versuchte ich tatsächlich, das Gerede geduldig zu ertragen und redete mir ein, dass ich mich nicht darum kümmern müsse, weil es mir nichts anhaben konnte. Ein Stück weit klappte es. Ich gewöhnte mir eine Art pseudo-weiser, nachsichtiger Arroganz an, die ich mir von meinen Eltern abgeschaut hatte.
Doch böses Gerede war nicht alles, was die braven Bürger des Dorfes zu bieten hatten. Eines Samstags saß ich mit Ben am Frühstückstisch, als wir den Postboten hörten. Ben ging zum Briefkasten und kam mit einem weißen Umschlag wieder. "Seltsam, kein Absender", stellte er fest und öffnete den Brief. Sein Gesicht wurde bleich, in seinen Augen stand Entsetzen. Er setzte sich und hielt mir den Brief entgegen. "Ihr widerlichen Tunten, verpisst euch!", stand da in aus Zeitungen ausgeschnittenen unregelmäßigen Buchstaben. Jemand hatte sich offensichtlich sehr viel Mühe dabei gegeben. Auch ich war schockiert, versuchte aber, es mir nicht allzu sehr anmerken zu lassen. "Ein dummer Kinderstreich!", erklärte ich, nachdem ich tief eingeatmet und so meine Stimme wieder zum Leben erweckt hatte. "Nichts, worüber wir uns Sorgen machen müssten." Doch vielleicht klang meine Stimme nicht so unbekümmert, wie ich gerne wollte.
Ben schüttelte nur den Kopf, stand auf und begann, hastig unsere Frühstücksteller zusammen und in die Spüle zu stellen, um sie dort mit fahrigen Bewegungen abzuwaschen. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, aber sein kaum merklich zuckender Rücken gab mir Auskunft genug. Ich ging zu ihm und drückte mich an ihn. "Ich weiß nicht, ob ich das kann!", flüsterte mein Freund. Seine Stimme klang nass. "Zu zweit können wir es!", entgegnete ich. Auch mir war zum Heulen zumute, aber es gab mir ein gutes Gefühl, dass sein Rücken sich ein wenig entspannte. Wir blieben so stehen, bis es uns beiden besser ging, dann machten wir da weiter, wo wir vor der Ankunft des Briefes aufgehört hatten- beim Frühstück-, und versuchten, den Vorfall so schnell wie möglich zu vergessen.
Einige Wochen danach - wir hatten es fast geschafft, den Brief vollständig zu vergessen, nachdem ihm kein weiterer dieser Art gefolgt war- liefen Ben und ich gemeinsam die Straße von seiner Wohnung hinunter zum Supermarkt. Wir waren verhältnismäßig gut gelaunt, zufrieden, fast glücklich. Unsere Beziehung war schön- wir befanden uns noch immer im Zustand des tiefsten Verliebtseins- und außerdem schien es uns, als habe das Gerede über unsere Begegnung mit der Bürgermeisterfamilie etwas nachgelassen.
Es war einer der letzten wirklich schönen Tage im Sommer, noch liefen alle in T-Shirts und kurzen Hosen herum, aber daran, dass die Sonne jetzt, am Nachmittag, schon tief stand, konnte man deutlich erkennen, dass der Herbst in nicht mehr allzu ferner Zukunft lag.
Also liefen wir verhältnismäßig fröhlich die Straße hinunter, schön brav nebeneinander und mit ordentlichem Abstand, wie sich das gehört. Schließlich wollten wir die Leute ja nicht unnötig verschrecken oder gar provozieren.
"Mist, ich habe mein Handy zuhause vergessen!", sagte Ben, dann hörte ich nur noch "Scheiß Schwuchteln!" und alles wurde schwarz.
Wie lange ich bewusstlos war, weiß ich nicht, aber ich weiß, dass es mir ziemlich schlecht ging, als ich wieder aufwachte. Mein ganzer Körper tat weh, mein Kopf sogar so sehr, dass ich den Versuch, mich aufzurichten oder gar ganz aufzustehen, schnell wieder aufgab. Mein Schädel fühlte sich an, als würde jemand rhythmisch mit einem Hammer darauf schlagen. Dieser jemand wollte offensichtlich nicht, dass ich mich bewegte: wenn ich still lag, ging es mir besser.
Ich versuchte, mich wenigstens so zu drehen, dass ich Ben sehen konnte, der mir in diesem Moment einfiel. Um zu erkennen, dass wir beide verprügelt worden waren, reichte mein Verstand noch, und mein schmerzender Körper teilte mir mit, dass ich als Folge dieser Prügelei schon bessere Zeiten erlebt hatte.
Doch meine Schmerzen waren offensichtlich nichts verglichen mit denen meines Freundes. Verschwommen- meine beiden Augen waren vollkommen zugeschwollen- sah ich, wie Ben zusammengekrümmt auf dem harten Asphalt lag, leise wimmernd und stöhnend. Ich versuchte, seinen Namen zu rufen, aber ich bekam keinen Ton heraus, nur ein kaum hörbares Krächzen. Ich weiß noch, wie ich es noch einige Male erfolglos probierte und wie verzweifelt ich war. Doch nach mehreren Versuchen senkte sich erneut ein schwarzes Tuch über die Welt und ich war wieder bewusstlos.
Als ich erwachte lag ich in einem sehr weichen, weißen Bett und realisierte, dass ich mich in einem Krankenhaus befand (in das uns meine Mutter hatte einliefern lassen, als sie uns auf dem Weg zu einer Freundin auf der Straße liegend entdeckt hatte, wie ich später erfuhr). Das Zimmer war halb dunkel und gab mir ein gutes, beruhigendes Gefühl. Der Versuch, meinen Kopf zu drehen (um den sich plötzlich ein Verband befand, wie ich erstaunt feststellte), wäre fast erneut daran gescheitert, dass ich einen Haufen sich drehender Sterne sah, aber ich versuchte, mir die Sterne als einen romantischen Nachthimmel vorzustellen, biss meine Zähne zusammen und blickte nach rechts. Dort lag Ben in einem genauso weißen Bett wie ich, ebenfalls einen weißen Verband um den Kopf. Er ließ die Zeitschrift, die er bis eben offensichtlich sehr interessiert gelesen hatte, sinken und blickte mich an. "Hallo Süßer!", sagte er. "Gut geschlafen?" Ich gab ihm ein Lächeln als Antwort- zu mehr reichte meine Kraft noch nicht-, schloss die Augen und schlief beruhigt wieder ein.
Unsere physischen Wunden verheilten schnell- unsere Seelischen nicht. Nur wenige Tage nach dem "Unfall" konnten wir unter der Auflage, uns zu schonen, nach Hause entlassen werden und bald weiterleben wie bisher, aber den Vorfall zu vergessen war nicht möglich.
Die Frage nach den Tätern quälte uns, natürlich, - um uns über das Motiv zu wundern, war keiner von uns naiv genug- und schließlich erreichte uns ein sehr hartnäckiges Gerücht. Bens Mutter erzählte, sie habe von der Apothekerin gehört, der wiederum eine Freundin gesagt hätte,... es seien die "Kämpfer" gewesen. Mir sagte das gar nichts, doch Ben wusste mehr darüber und erzählte, die "Kämpfer" seien eine Gruppe Jugendlicher, aus ordentlichen, mittelständischen Familien stammend, die über Tag brav zur Schule oder ihrer vielversprechenden, zukunftsreichen Ausbildung gingen, um später ordentliche, mittelständische Bürger wie ihre Eltern zu werden. Abends trafen sie sich, ihrer Golfs mit getunten Motoren ordentlich in einer Reihe geparkt, um zu rauchen und sich zu betrinken. Manchmal und besonders am Wochenende waren sie auf örtlichen Zeltpartys zu finden, wo sie sich prügelten- mit so vielen Leuten gleichzeitig wie möglich und am liebsten mit Ausländern. Wenn die "Kämpfer" in der Gruppe auftraten - was sie fast ausschließlich taten- bewegten sie sich hart an der Grenze zur Illegalität, oft auch darüber. Doch wir waren doch alle einmal jung, und überhaupt, wer wollte denn solch vielversprechenden jungen Menschen durch eine Vorstrafe die Zukunft versauen?
Doch das wichtigste Indiz, dass es die Kämpfer waren, die uns verprügelt hatten, war, dass sie gegen alles und jeden waren, der nicht war wie sie. Solche Menschen machten sie sehr böse, sie verstanden sie nicht und wollten es auch nicht. Besonders verhasst waren ihnen Minderheiten wie Ausländer, Behinderte und Homosexuelle - zu denen wir uns ja auch zählen mussten. Es war also ziemlich wahrscheinlich, dass die Kämpfer ihren Hass an uns ausgelassen hatten, noch dazu, weil es das einzige Gerücht war, das sich dermaßen hartnäckig hielt.
Aber offensichtlich waren die Bürger des Dorfes trotz allen gegenteiligen Beteuerungen doch recht einverstanden mit der Tat der Kämpfer, denn schon bald danach erreichten uns Drohbriefe. Sie kamen nicht nur viel gehäufter als der erste, der ja vorerst der einzige geblieben war, sondern waren auch ungleich viel schärfer und bösartiger. Mehrmals pro Tag bekamen wir Botschaften wie "Ihr solltet euch nicht mehr so sicher fühlen- wir bringen euch um!", "Für Abschaum wie euch sollten die Kreuzzüge wieder eingeführt werden!" und "Euer Tod wird qualvoller sein, als ihr euch in euren schrecklichsten Träumen ausmalen könnt!"
Wir gingen zur Polizei, aber dort wurde uns nicht viel Hoffnung gemacht. "Es ist sehr schwer, die Herkunft solcher Briefe zu ermitteln, wenn nicht gar ganz unmöglich", erklärte uns ein weißhaariger Polizist, der aussah, als warte er sehnsüchtig auf seine Pensionierung, mit bedauerndem Gesichtsausdruck.
Als wir die kleine, spärlich beleuchtete Wache verließen, konnte ich Ben kaum davon abhalten, die gläserne Eingangstür des Reviers vor Wut einzutreten. "Scheiße!", schrie er, ein Wort, dass man aus seinem Munde selten bis nie hörte. "Die können uns doch damit nicht einfach alleine lassen!"
Aber sie konnten. Was mich betraf, meine Wut war schon längst in Traurigkeit umgeschlagen. Mein Freund und ich hatten gewissermaßen die Rollen getauscht: Nun war er der Wütende und meistens Optimistische, während ich den Kop hängenließ wie er am Anfang der ganzen unangenehmen Geschichte. Die täglichen Drohbriefe und der Hass, der aus ihnen sprach, machten mich fertig. Obwohl wir aufgehört hatten, Briefe ohne Absender zu öffnen, wusste ich doch genau, was darin stand, und tagtäglich zu sehen, wie sich der Mülleimer damit füllte, war nicht gerade erheiternd.
Ich konnte mich dem nicht mehr stellen, meine Kraft war zuende. Es geschah oft und immer öfter, dass ich morgens einfach im Bett liegen blieb, anstatt mit dem Auto die halbe Stunde bis in die nächstgrößere Stadt zu meinen Vorlesungen zu fahren, weil ich mich nicht wieder der ermüdenden Wahrheit stellen wollte und konnte, dass ich als Schwuler in einem Dorf lebte, in dem ich genau dafür gehasst wurde. Ich war einfach müde, und dieser Zustand änderte sich auch in den kommenden Wochen nicht, im Gegenteil, es wurde immer schlimmer.
Ich ließ alles schleifen, meine Wohnung und auch ich selbst sahen aus wie der letzte Dreck, Menschen, die sich nicht gerade bei mir meldeten, hörten nichts mehr von mir, und zur Uni zu gehen hatte ich ganz aufgegeben. Um es kurz zu sagen: es ging mir glänzend!
Ab und zu kam Ben vorbei, um mir einen Tritt in den Hintern zu verpassen. Eine besonders gute Gesellschaft war ich nicht, ich weinte viel, redete sogar von Selbstmord und ging meinem Freund damit irgendwann ziemlich auf die Nerven, glaube ich. Am Anfang verstand er, warum es mir so schlecht ging, und tröstete mich, so gut er konnte, und später verstand er es auch noch, aber er tröstete mich nicht mehr. Nüchtern betrachtet war er schließlich in der selben Lage wie ich und ließ sich auch nicht so gehen. Doch obwohl ihn mein Selbstmitleid nervte und er mir das auch sagte, kam er jeden Tag, manchmal mehrmals. Heute weiß ich, dass er mich damals am Leben hielt, in dem er mir zeigte, dass ich ihm zwar momentan an meinem Leben einiges nicht passte, aber ich ihm trotzdem wichtig war, so wichtig, dass er vorbeikam und sich um mich kümmerte, obwohl ihm das bestimmt nicht viel Spaß machte. Er gab mir das Gefühl, dass jemand da war, der mich liebte, und das war damals das Wichtigste für mich, obwohl ich mir das so nicht eingestehen konnte.
Dass ich ihn liebte wie er mich, war irgendwo hinter meinen trübseligen, depressiven Gedanken verschwunden; was ich in meinem traurigen Dauerhalbschlaf wahrnahm, war, dass er mich störte. Er störte mich, wenn er die Vorhänge vor meinen Fenstern wegzog und so das angenehme Dämmerlicht beseitigte, und er störte mich, in dem er laut durch meine Wohnung trampelte und in der Küche das Radio auf volle Lautstärke drehte, um mich aus meiner lethargischen Stille zu reißen.
Eines Tages, als ich mich einmal wieder nachts hin und her wälzte und nicht schlafen konnte, weil ich den ganzen Tag im Bett lag und mein Körper nicht mehr ausgelastet war, kam mir der Gedanke, dass ich doch ohne Ben viel besser dran wäre. Er ist doch überhaupt erst die Ursache des ganzen Übels!, fiel mir siedendheiß ein. Ich würde keine Drohbriefe mehr bekommen und von den Bewohnern des Dorfes wieder akzeptiert werden. Und überhaupt, was war denn an Männern so toll? Ich konnte doch mal mit der blonden Eva, meiner Kommilitonin ausgehen! Das wäre überhaupt viel gesellschaftsversträglicher.
Ich beschloss, mich von Ben zu trennen.
"Nein!", schrie er, als ich es ihm sagte, in seiner Wohnung, in seinem Schlafzimmer, in dem wir so oft zusammen gelegen hatten. Er schrie so laut, dass ich dachte, die Fensterscheiben fliegen heraus (ja, zu so viel Galgenhumor war ich in dieser Situation fähig!), bevor er sagte: "Das kannst du doch nicht ernst meinen. Das ist doch eine Kurzschlusshandlung. Du bist doch im Moment nicht du selbst. Wir lieben uns doch!" "Ich liebe dich nicht mehr und ich meine es ernst", antwortete ich ruhig und ging. Seine Rufe hinter mir her ignorierte ich, genauso, wie ich seine Versuche in den folgenden Tagen ignorierte, mit mir zu reden.
Ben ist für mich gestorben, redete ich mir so lange ein, bis ich es selbst glaubte. Ich liebe ihn nicht mehr und kann auch ohne ihn glücklich sein, sogar viel glüclicher. Ich war begabt darin, mir etwas einzureden. Nach der Phase der brutalen Ehrlichkeit, die mich soweit getrieben hatte, dass ich nichts mehr auf die Reihe bekam, folgte nun die Phase des Selbst-Anlügens. Damit würde ich glücklich werden, beschloss ich.
Beim Gedanken daran wird mir kalt. Aber auch so ist es ziemlich kühl geworden hier oben an Deck der Fähre, seit die Sonne untergegangen ist. Ich ziehe meinen Pullover enger um mich und beschließe, mich in das Restaurant der Fähre zu begeben, um dort einen Kaffee zu trinken.
Das Restaurant ist voll. Alle Arten von Menschen sind vertreten, Junge und Alte, Schwarze und Weiße, Dicke und Dünne. Sie trinken und essen, lesen, rauchen und unterhalten sich. Man hört viele verschiedene Sprachen, die zu einem angenehmen hintergründlichen Rauschen verschwimmen, wenn ich aufhöre, mich darauf zu konzentrieren. Die Atmosphäre gefällt mir, und ich beschließe, hierzubleiben und mir einen Platz zu suchen, was sich jedoch als schwierig erweist. Doch schließlich entdecke ich einen freien Sitz einer älteren Dame gegenüber, die mich prompt in ein Gespräch verwickelt, sobald ich Platz genommen habe.
"Are you on holiday?", fragt sie mich. Ihr Englisch klingt unrein, der Dialekt hört sich an, als sei sie Polin oder so etwas, denke ich.
"No, I´m going to visit mein sister in England", antworte ich und beginne, ihr von meiner fünf Jahre älteren Schwester zu erzählen, die gleich nach dem Abitur England für sich entdeckte, sich in einen Engländer verliebte und seitdem dort lebt. "We don´t see each other very often", erkläre ich und ernte einen verständnisvollen Blick.
Dann beginnt sie zu erzählen, vom Krieg und dass sie schon so lange einmal in das Land reisen wollte, in dem ihr neunzehnjähriger Bruder gefallen ist, als sie selbst noch ein kleines Mädchen war. Ich höre ihr zu und lächele an den passenden Stellen. Die Unterbrechung von meinen traurigen Gedanken tut ganz gut, und diese Frau hat offensichtlich ein starkes Mitteilungsbedürfnis.
Sie erzählt lang und ausführlich. Es ist anstrengend, ihrem gebrochenen Englisch zuzuhören, also lehne ich mich zurück, trinke meinen Kaffee und nehme in Kauf, nicht jedes Wort zu verstehen. Die grobe Geschichte bekomme ich trotzdem mit.
Doch obwohl ihre Erzählung eine gewisse Spannung hat und sie gut und mit Leidenschaft berichtet, kann ich nicht verhindern, dass meine Gedanken unter dem beruhigenden Klang ihrer Stimme wieder zu meiner eigenen Geschichte abschweifen.
Nachdem ich mich von Ben getrennt hatte, entwickelte ich die Fähigkeit mich zu belügen bis zur Perfektion. Mit nicht nur negativen Folgen, wie ich ehrlicherweise zugeben muss. Ich redete mir ein, es ginge mir total gut, und dieser falsche Optimismus brachte mich dazu, wieder aufstehen und so etwas wie einem geregelten Tagesablauf nachgehen zu können. Ich besuchte meine Vorlesungen wieder, holte mit strengster Disziplin alles nach, was ich versäumt hatte, entschuldigte mich bei allen, die von mir vernachlässigt worden waren, und brachte meine Wohnung wieder in Ordnung. Auch sonst tat ich alles, um vor mir und den anderen den Eindruck meines perfekten Wohlergehens zu errichten und aufrecht zu erhalten.
Meine Eltern machten sich trotz oder gerade wegen meiner Beteuerungen, mir gehe es so gut wie lange nicht mehr, Sorgen um mich, vor allem, weil sie nicht glauben konnten, dass ich Ben auf einmal nicht mehr liebte.
Ich weiß nicht, ob ihre Sorgen je verschwanden. Aber eines Tages reichten mir ihre sorgenvollen Blicke, sodass ich ihnen gegenüber den Satz "Seltsam, wie das Leben manchmal so spielt..." anbrachte(Schließlich hatten sie mich mein ganzes Leben lang mit Weisheiten für jede Art von Problemen bombardiert). Ihre schulterzuckende "Du musst wissen, was du tust"-Reaktion machte mich zumindest glauben, ich hätte sie beruhigt.
Auch, als ich ihnen eines Tages Eva, meine blonde Kommilitonin, als meine neue Freundin vorstellte, zuckten sie mit keiner Wimper.
Dass Eva mich mehr als nur mochte, hatte ich schon lange gewusst, und nun beschlossen, das zu meinem Vorteil zu nutzen. Eva war hübsch und charmant- die perfekte Vorzeigefreundin. Wir hatten den gleichen Humor und konnten uns gut unterhalten, weil wir uns für ähnliche Themen interessierten - und wenn es mit ihr nicht klappte, dachte ich, dann sowieso mit keiner Frau.
Während ich also testete, ob ich mich nicht vielleicht "umerziehen" könnte, ließ ich mich so oft wie möglich mit meiner hübschen Freundin an besonders belebten Orten im Dorf sehen - es sollten alle wissen, dass ich "normal" geworden war.
Von Zeit zu Zeit begegneten wir Ben, der uns mit weidwundem Blick anstarrte und ein taubes Gefühl in meiner Seele hinterließ. Doch ich verscheuchte den Gedanken an das schwarze Loch in meinem Herzen, in das eigentlich Ben gehörte, und gab Eva, die von alldem nichts mitbekam, einen Kuss, wie zum Beweis, dass ich Ben nicht mehr brauchte.
So hätte es meiner Meinung nach ewig weitergehen können, denn wenn man sich einredet, man sei glücklich, und nur fest genug daran glaubt, wird es irgendwann ein Stückchen Wahrheit. In meinem Fall kam noch der nicht unbedeutende Effekt dazu, dass die Drohbriefe seit ich mit Eva zusammen war viel weniger geworden und schließlich ganz weggeblieben waren. Das gab mir ein ausnahmsweise einmal echtes Hochgefühl, dass meinem herbeigelogenen Glück den Glanz von Echtem verlieh.
Doch dieser Zustand hielt nicht an. Eines Tages passierten zwei Dinge unabhängig voneinander, die meine erlogene Welt zum Einsturz brachten.
An dieser Stelle werden meine Gedanken plötzlich unterbrochen, als ich eine warme Hand auf meiner spüre. Ich brauche einen Moment, um in ihrer Besitzerin die alte Frau von der Fähre nach England zu erkennen. "Own problems?", fragt sie und lächelt so verständnisvoll, dass ich prompt ein schlechtes Gewissen bekomme, weil ich mir ihre Geschichte nicht zuende angehört habe. Ich nicke leicht mit dem Kopf und lächele entschuldigend.
Plötzlich öffnet die alte Dame ihre Tasche, kramt darin herum und erstaunt mich sehr, als sie einen Discman und Kopfhörer herauszieht. "Mozart", erklärt sie, während sie das Gerät zu mir hinüberschiebt. Die Art, wie sie den deutschen Namen ausspricht, rührt mich.
"Listen!", fordert sie mich auf. "It will bring your sad thoughts away and let everything seem a little brighter." Erstaunt und ergriffen setze ich mir die Kopfhörer auf und schalte das Gerät ein. Auf einen prüfenden Blick von mir antwortet die Frau mit einem verschwörerischen Zwinkern und führt ihre Strickarbeit fort. "Listen!", wiederholt sie.
Ich folge ihrer Aufforderung und lausche der für mich eher ungewohnten Musik. Schon bald merke ich, wie die Frau Recht behält, und beginne, mich zu entspannen.
Doch an Ben und meine Geschichte mit ihm muss ich trotzdem denken.
Eines Tages kam Eva zu mir nach Hause, sie schien ziemlich aufgeregt zu sein und verlangte, auf der Stelle mit mir reden zu können. "Leute in der Uni haben mich voll komisch angeguckt, als ich erzählt habe, dass ich mit dir zusammen bin", sprudelte sie heraus, kaum, dass sie meine Wohnung betreten hatte. "Weißt du, was sie gesagt haben? Dass du gar nicht auf Frauen stehst, dass du schwul bist und sogar einen Freund hast, der Ben heißt! Wie kommen die auf so einen Blödsinn?"
Ben. Ich hatte den Gedanken an ihn die ganze Zeit so weit wie möglich ausgeblendet, weil er einfach zu weh tat.
Aber jetzt konnte ich ihn nicht aufhalten. Meine Augen begannen zu brennen und meine Stimme zitterte, als ich Eva die ganze Wahrheit zu erzählen anfing, aber ich war verzweifelt bemüht, nicht vor ihr zu heulen anzufangen. Während ich ihr die ganze Geschichte beichtete, wurde mir immer bewusster, wie sehr ich meinen Freund vermisste, und der Kloß in meinem Hals wuchs und wuchs. Mein tapferes Schild aus Lügen war zusammengebrochen.
Als ich zuende erzählt hatte, knallte Eva mir eine.
Dann stürmte sie aus der Wohnung, aber nicht, ohne mir vorher noch "Du verlogenes Schwein!" an den Kopf zu werfen.
Als sie weg war, fühlte ich mich miserabel. Nun hatte ich nicht nur keinen Freund, sondern auch keine Freundin mehr. Es wahr so absurd, dass mir fast zum Lachen zumute war. Gleichzeitig hatte ich aber ein total schlechtes Gewissen, dass ich Eva so ausgenutzt hatte. Denn obwohl mir die rein körperliche Beziehung mit ihr nichts bedeutet hatte, hatte ich doch auch nicht darunter gelitten, und auf der anderen Seite das fast Platonische, unsere langen Gespräche, mit ihr zu lachen, unsere Unternehmungen, sehr genossen. Ich liebte Eva nicht, aber ich mochte sie sehr, und es tat mir leid, dass sie so verletzt und wütend gegangen war und ich auch noch daran schuld war.
Den Rest des Tages verbrachte ich im Bett, wie in den schwärzesten Phasen meiner Depression. Ich grübelte über alles nach, vor allem über Eva und darüber, wie ich wieder gutmachen konnte, was ich ihr angetan hatte. Außerdem weinte ich, ich weinte fast die ganze Zeit, über mich selbst, der ich so blöd sein konnte, alle Menschen die mir lieb waren, vor den Kopf zu stoßen, besonders Ben, meine große Liebe, und darüber, wie sehr ich ebenjenen vermisste.
Plötzlich klingelte es an der Tür, und als ich sie öffnete, stand genau der davor, über den ich die ganze Zeit nachgedacht hatte: Ben. Schlagartig wurde mir bewusst, wie ich aussehen musste, mit zerknitterten Kleidern und roten Augen. Aber er schien es nicht zu bemerken.
"Hallo", sagte er leise. "Kann ich reinkommen?"
Überwältigt trat ich schweigend zur Seite. Ich hatte Ben schon lange nicht mehr so nahe gesehen und war nun erschrocken, dass ich mir um mein Aussehen wirklich keinerlei Gedanken machen musste, denn es war Ben, der wirklich schlecht aussah. Sein schönes Gesicht war bleich und seine Augen blickten stumpf und glanzlos. Seine Wangen waren ausgehölt und die Haut spannte sich über die Knochen darunter. Auch sonst war er dünn geworden und seine Haare glänzten fettig. Es ging ihm nicht gut - obwohl ich nichts lieber verleugnen und wegschieben wollte als das, konnte ich nicht darüber hinwegsehen.
"Deine Mutter schickt mich, wir haben uns zufällig getroffen", begann Ben ohne Umschweife. Seine Stimme klang blechern. "Ich wollte eigentlich gar nicht kommen, nur damit du weißt, dass die Idee, zu dir zu kommen, nicht auf meinem Mist gewachsen ist." Ich nickte.
"Sie mache sich Sorgen um dich, sagte deine Mutter, und auch um mich. Du wirktest scheinbar so glücklich, aber ich würde dir fehlen, meinte sie. Und dass du mir fehltest, würde man ja wohl sehen... Wie auch immer, was mit mir ist, ist nicht von Bedeutung. Es geht dir aber wohl gut oder? Trotz allem, was deine Mutter sagt? Es ist wichtig, dass du glücklich bist, weißt du."
Ich saß da und fragte mich, ob Ben wirklich meinte, was er sagte, wenn er so sicher behauptete, mir würde es ja wohl gut gehen, angesichts dessen, dass ich aussehen musste wie ein Monster.
Dann begannen mir die Tränen die Wangen hinunter zu laufen, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte, weil Ben so krank aussah und sich doch nur dafür interessierte, dass es mir gut ging... Die Liebe, die daraus sprach, blieb nicht einmal mir verborgen, und dass ich diesen Menschen fortgeschickt hatte, brach mir das Herz.
"Scheiße!", brachte ich schließlich schluchzend heraus. "Scheiße, wie kommst du denn auf die Idee, dass es mir gut ginge? Du fehlst mir so, ich liebe ich doch!"
Einige schmerzhafte Minuten später fühlte ich plötzlich seine Arme meinen Körper umfassen. Schweigend blieben wir so, bevor Ben schließlich mein Gesicht mit seinen Küssen trocknete und mich ins Schlafzimmer auf das Bett zog.
Später, als wir miteinander geschlafen hatten, redeten wir endlich. "Es tut mir so leid" und "Ich liebe dich", sagte ich immer wieder, als er erzählte, wie unglücklich er ohne mich gewesen sei. Wir redeten lange, über ihn, über mich, über uns beide und wie alles so weit hatte kommen können. Dann ging er.
"Wir wollen unser Glück am Tag unserer Versöhnung doch nicht zu sehr strapazieren", erklärte er mit einem Augenzwinkern.
An diesem Abend lag ich noch lange wach. Ich war so glücklich - echt glücklich - wie zuletzt an dem Tag mit Ben auf der Wiese, bevor die Familie des Bürgermeisters uns gefunden hatte. Die Welt schien auf einmal wieder viel heller und freundlicher als noch ein paar Stunden zuvor. Und bei Eva werde ich mich gleich morgen in aller Form entschuldigen, nahm ich mir fest vor.
Erneut holt mich die Hand der alten Frau aus meinen Gedanken. "We are in England in a minute", teilt sie mir lächelnd mit, nachdem ich die Kopfhörer abgesetzt habe.
"Thank you", bedanke ich mich, gebe ihr die Musik zurück und beginne, meine Sachen zu packen.
Schließlich sehe ich an der Seite der Frau draußen im Dunkeln an der Reling England und den mit vielen hellen Lichtern beleuchteten Fährhafen immer größer werden. Der Wind bläst uns die Haare ins Gesicht.
Wir blicken uns an und lächeln. "Seltsam, wie das Leben manchmal spielt!", wiederhole ich in Gedanken den Satz, den ich schon einmal an ganz anderer Stelle ausgesprochen habe. Die Wege der alten Frau und mir wurden für einige Stunden zusammengeführt und werden sich jetzt, in einem Land, dass weder meine noch ihre Heimat ist, wieder trennen. Trotzdem und vielleicht genau deshalb teilen wir ein tiefes Verständnis für den anderen und werden diese Begegnung wohl nicht so schnell vergessen.
Am Tag nach Bens und meiner Versöhnung saß ich überglücklich in einer meiner Vorlesungen, als plötzlich meine Mutter mit roten Augen den Raum betrat und mich zu sprechen verlangte.
Ben war tot.
Er war in seinem kleinen roten Toyota gegen einen Baum gefahren und daraufhin darin verbrannt.
Selbstmord, beschloss die Polizei, die von allen Seiten hörte, Ben sei es wegen unserer Trennung sehr schlecht gegangen. Unsere Versöhnung war außer mir niemandem bekannt und ich wurde als nicht glaubwürdig eingestuft, weil ich wochenlang unter einem schweren Schock stand und eine Zeitlang nicht zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden konnte.
Noch dazu hatte die Polizei Bens Tagebuch gefunden und der letzte Satz darin, der einzige Eintrag für den Tag unserer Versöhnung lautete: "Es reicht, ich kann das nicht mehr." Auf die Idee, dass dies der Hinweis auf ein klärendes Gespräch sein könnte, kam niemand und wollte vielleicht auch niemand kommen. Es gab ein Motiv und damit war es Selbstmord gewesen, basta. Der sehr einfache Fall von Benjamin Klausmeyer war gelöst und damit abgeschlossen.
Doch es war mir egal. Ich war nicht dabei gewesen und konnte nicht wissen, ob es Mord oder ein Unfall gewesen war, und für mich hatte das auch keinerlei Wichtigkeit. Ben war tot. Niemand konnte das ändern.
Wir spüren ein leichtes Ruckeln, als das Schiff anlegt und die Gangway herunter gelassen wird. Ich kann meine Schwester stehen, die ruhig direkt unter einer Laterne steht und nach mir Ausschau hält.
Die Menschenmenge setzt sich in Bewegung, hinunter vom Schiff. Ich lasse mich mitziehen, meine Schwester fest im Blick.
Als wir das Land erreicht haben, drückt die alte Frau zum Abschied flüchtig meine Hand- mehr ist nicht nötig-, dann liege ich endlich in den Armen meiner Schwester.
Und kann zum ersten Mal seit Bens Tod weinen.