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Benni
Es gibt Menschen, die ihr Leben lang Kind bleiben und das in einem guten Sinne. Diese Menschen wollen die Lektionen des Lebens nicht lernen, denn sie erkennen, dass sie dadurch nicht weiser werden, sondern lediglich schlechtere Menschen. Denn das, was wir Erwachsenwerden nennen, bedeutet in Wahrheit doch meistens nur anzufangen, sich und andere anzulügen und sich allgemeines Fehlverhalten schönzureden. Ich glaube, Benni konnte das nicht. Er war eine zu reine Seele. Oder er war einfach ein bisschen doof. Ich weiss es nicht. Jedenfalls sah ich ihn wirklich zufällig zum letzten Mal. Im ersten Moment erkannte ich ihn gar nicht, wie er da abgerissen und dreckig vor mir in der Schlange im Rewe beim Rudolfsplatz stand. Er war dem ganzen Punk-Ding treu geblieben, dabei waren Punks damals längst aus dem Stadtbild verschwunden. Aber Benni stapfte noch immer in Springerstiefeln und mit bekritzeltem Militärrucksack durchs Leben.
Dort im Rewe sprach ich ihn nicht an. Zunächst wollte ich, aber dann erinnerte ich mich daran, wie wir uns das letzte Mal über den Weg gelaufen waren, ebenfalls zufällig. Ein Kumpel hatte mich zu einem kleinen Gig auf einem Bauwagenplatz in Köln-Mülheim eingeladen. Ich fragte meinen neuen Mitbewohner, ob er Lust hätte, mitzukommen. Und so stand ich dann am Abend neben dem blassen und schmächtigen Jasper am Eingang dieses Bauwagenplatzes. Der abgerissene Typ, der den Eintritt kassierte, hatte sich irgendwelche Kugeln unter die Haut seines Handrückens operiert oder operieren lassen, was abartig aussah. Abartig war auch der Dreck. Das ganze Areal versank in Matsch und ich konnte nicht begreifen, wie man dort hausen konnte. Musste ich auch nicht. Ich war nur da, um mir das Konzert anzusehen und dann wieder nach Hause zu fahren, zu meinem WG-Bett und meinem eigenen Elend, das innerlicher Art war.
Wir waren kaum ein paar Meter in dieses Fort vorgedrungen, da haute mich unvermittelt jemand an. Benni! Ich hatte ihn seit fast zehn Jahren nicht mehr gesehen und wir umarmten uns, glaube ich. Er wohnte nicht auf dem Platz, sondern war auch nur für das Event da. Doch hätte er mir gesagt, dass er dort der Hausmeister oder Brandschutzbeauftragte oder was auch immer war, ich hätte es sofort geglaubt. Er freute sich ehrlich, mich zu sehen, obwohl er völlig abgelöscht wirkte. Ich weiss nicht, ob er besoffen war oder zugedröhnt, ganz klar im Kopf war er jedenfalls nicht. Viel zu erzählen hatte er auch nicht. Vielleicht war es ihm peinlich, seinen offensichtlich nicht gerade auf der bürgerlichen Erfolgsspur verlaufenden Lebensweg vor mir auszubreiten. Ich hielt mich ebenfalls zurück, denn jedes Wort von mir hätte die ohnehin schon immense Kluft zwischen uns noch weiter aufgerissen. So gingen uns nach zwei Minuten die Worte aus, was mir einerseits Leid tat. Andererseits war ich erleichtert, als er sich mit einer Floskel verzog, nachdem wir Nummern ausgetauscht hatten.
Jasper und ich gingen anschließend in eine Art Wellblechhalle, wo mein Kumpel, ein hünenhafter, langhaariger Kerl, Typ Peter Steele, bereits mit zwei anderen Typen mechanisch seine selbstkomponierten Metal-Stücke vor einer Hand voll Punks herunterschrammelte. Ich kaufte Jasper und mir an der improvisierten Bar ein Bier und war gerade dabei, mich auf den Ort einzugrooven, da baute sich einer der Punks vor Jasper auf und piekste ihn in die schwache Brust. Was denn einer wie er hier wollte, fragte er. Sie würden Leute wie ihn hier nicht mögen. Natürlich war das eine unnötige Provokation. Doch andererseits musste ich einräumen, dass Jasper mit seinen Handballschuhen und dem hell karierten Germanistenhemd wirklich so gut in diese Szenerie hineinpasste wie eine Suppenschüssel in ein Handschuhfach. Sein verschüchterter Gesichtsausdruck machte es nicht besser. Es war Benni, der den sich anbahnenden Streit abbügelte, und danach blieben wir unbehelligt. Doch auf dem Nachhauseweg sah ich Jasper an, dass er das Ganze völlig zu Recht als Demütigung empfunden hatte. Ein kurzer Besuch eines Bauwagenplatzes hatte ausgereicht, ihm die Grenzen seiner Existenz aufzuzeigen. Er musste lediglich bei einem Typen mit Metallkugeln unter der Haut ein Ticket lösen und betrat dann eine Welt, in der er im Grunde völlig hilflos war.
Benni hingegen bewegte sich durch diese Rohheit wie eine Echse durch den Dschungel, was erstaunlich war, da er nicht aus völlig verkorksten Verhältnissen kam. In keinster Weise. Er kam aus denselben Verhältnissen wie ich. Und trotzdem wunderte es mich keine Sekunde lang, Benni dort getroffen zu haben. Genau wie sein Bruder hatte er schon als Kind etwas in sich, was sich nicht durch Herkunft oder Prägung erklären ließ. Es war etwas, das fast diabolisch wirkte und ihn dazu brachte, die verrücktesten Dinge zu tun. Aber seltsamerweise tat er diese Dinge mit einer kindlichen Freude, ohne jede Boshaftigkeit oder jeden Argwohn. Ganz im Gegenteil. Er wirkte naiv und unschuldig, heiter belustigt, während er potenzielle Katastrophen in Gang setzte, die wahrscheinlich nur durch Zufälle nicht in wahre Katastrophen mündete – wie damals, als er mit seiner Mutter und seinem Bruder bei uns zu Besuch war und in meinem Regal das Feuerzeugbenzin entdeckte. Kurz darauf spritzte er es ins Regal und zündete es an. Danach zündelte er auf der Terrasse weiter, bis mein Vater im Zimmer darüber eine Stichflamme sah und wutentbrannt heruntergerannt kam, um uns die Leviten zu lesen. Da waren wir vielleicht elf oder zwölf.
Das waren die Anfänge und es wurde nicht besser. Ein paar Jahre danach stibitzte Benni bei einer Geburtstagsparty seiner Mutter ein paar Flaschen Wein und wir betranken uns oben in seinem Zimmer, während unsere Eltern unten feierten. Einige Zeit später waren wir wieder bei ihnen zu Besuch und dieses Mal hatte Benni Gras da und baute uns einen Joint. Wir hörten Die Toten Hosen, was damals immer mit dem Statement begleitet wurde, dass das ja keine echten Punks waren. Irgendwann sagte Benni, dass er mir etwas zeigen müsste. Und dann holte er ungelogen eine echte Knarre aus einer Schublade, einen schweren, silbernen Revolver. Ich hatte keine Ahnung, wo er die herhatte und was er damit wollte. Er behauptete, im Wald bereits damit geschossen zu haben. Vielleicht stimmte das, vielleicht war das gelogen. Konnte ich nicht sagen. Aber dass dieses Ding echt war, da bestand kein Zweifel.
Zu dieser Zeit wurde allen Beteiligten klar, dass die Schule und Benni nicht zusammengehörten. Er begann, stattdessen eine Artistenkarriere im Zirkus anzustreben, besuchte auch irgendwelche Zirkuscamps. Im Nachhinein ist es recht logisch, dass sich das als Schnapsidee entpuppt hat, doch damals schien es gar nicht so abwegig zu sein, denn Benni war einer dieser kleinen, kräftigen Jungs, die aus dem Stand Rückwärtssaltos hinlegen und auf Händen laufen konnten. Und passabel jonglieren konnte er auch.
Kurz nach der Sache mit der Knarre verloren sich unsere Wege, worüber ich ehrlich gesagt froh war. Es war mir irgendwo klar, dass sich Bennis Verrücktheit noch weiter steigern musste und dass er mich mitreissen würde, wenn ich nicht das Weite suchte. Selbst mein Stiefbruder, der selbst alles andere als ein Kind von Traurigkeit war und auf allerhand Abwegen gewandelt ist, erinnert sich noch heute an diesen einen verrückten Freund von mir mit seinem Bruder.
So war Benni, walking trouble mit bester Laune, ein törichter Mephisto, der dich lächelnd zum Untergang verführen wollte. Das bestätigte sich auch damals nach der Begegnung auf dem Bauwagenplatz. Ein paar Tage später, mitten in der Woche, klingelte nachts mein Handy. Ich sah, dass es Benni war, und ging nicht ran. Er sprach auf die Mailbox. Er wäre gerade mit dessen Freundin bei seinem Bruder, der ja ganz in der Nähe wohnte. Sie würden etwas trinken und feiern, ob ich nicht vorbeikommen wollte. Aus Instinkt oder Feigheit reagierte ich nicht auf die Nachricht.
Und aus denselben Gründen sprach ich ihn dort im Rewe nicht an. Ich weiss nicht, ob er mich erkannt und ebenfalls nichts gesagt hat. Aber ich bezweifle es. Er wirkte völlig in sich gekehrt und von der Welt entfremdet, gescheitert an seiner eigenen Kinderseele, die sich nicht verstellen wollte, und an seinen Dämonen, die ihn am Ende zu sich geholt haben. Wie seine Mutter kürzlich meiner Mutter erzählt hat, ist Benni von einer Rheinbrücke in den Tod gesprungen.
Ich will nicht ins Paradies, wenn der Weg dorthin so schwierig ist, singen Die Toten Hosen in meinem Lieblingssong von ihnen. Benni wollte auch nicht ins Paradies. Er wollte sich und die Welt anzünden. Und je älter ich werde, desto mehr frage ich mich, ob ich nicht eigentlich dasselbe will.