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- 03.07.2004
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Bergsommer
Ich sitze auf einer kleinen Wiese. Vor mir fällt der Fels steil ab in eine Klamm. Vom gegenüberliegenden Berg sind leichte Glockenklänge zu hören. Die weißen Knäuel am Hang sind Schafe, die dort das frische Frühlingsgras rupfen. Die Sonne scheint von einem wolkenlosen tiefblauen Himmel, die Bienen fliegen summend von Blüte zu Blüte, ein kleiner Käfer krabbelt über meine Hand und kitzelt mich.
Ich sitze hier, gefangen in meinen Gedanken und nehme meine Umgebung kaum wahr. Du hast mich verlassen. Was soll nun werden ohne dich. Du wirst nicht wiederkommen. Warum kann ich nicht zu dir gehen. Es wäre nur ein kleiner Schritt, aber ich scheue zurück. Sehe meinen zerdrehten blutenden Körper in der Klamm liegen. Nein, das wäre keine Lösung.
So bleibe ich sitzen, gefangen in meinen Gedanken. Zwanzig Jahre sind wir im Urlaub gemeinsam hierher gefahren in die kleine Pension, die von Irmtraud, deiner besten Schulfreundin, geführt wird. Auch dieses Jahr bin ich gefahren, wie ein alter Esel, der aus der gelernten Routine nicht mehr ausbrechen kann. Ich will es auch gar nicht. Aber ohne dich ist es dunkel an diesem hellen fröhlichen Frühsommertag.
Mehr unbewusst merke ich, dass sich jemand nähert und neben mich setzt. Ich schaue nicht hin. Du bist es gewiss nicht und andere Menschen interessieren mich nicht. Wir waren einander genug. Wir waren so eng miteinander verbunden, wir wussten auch ohne Worte voneinander, konnten schweigend miteinander lachen. Diese Nähe gibt es nur einmal und dann nie wieder.
Ich spüre, wie die Wärme des Menschen neben mir mich immer tiefer durchdringt, rieche den Körper neben mir und erinnere mich an lange vergangene Jugendzeiten. Ich höre sanftes, ruhiges zufriedenes Atmen neben mir. Träume ich oder ist jemand zu mir gekommen? Wer sollte denn mich alt und einsam gewordenen Mann suchen? Ich schaue weiter ins Tal und sehe nicht hin, wer da neben mir sitzt. Ich möchte es nicht wissen. Ich habe Angst. Angst vor dem Alleinsein, aber auch Angst vor dem Unbekannten neben mir.
'Geh weg', will ich sagen, aber über meine Lippen kommt nur die Frage, die mich den ganzen Morgen bewegt "Warum?"
"Damit du wieder leben kannst."
Tief in mir antwortet deine sanfte dunkle Stimme, ruhig und klar. Ich erinnere mich an Herbstabende auf der Terrasse, wenn wir zusammen ein Glas Wein tranken und auf die Berge schauten. Ich fange an zu weinen. Die Tränen laufen mein Gesicht herunter und fallen auf zarte Kamillenblätter. Nun bin ich schon so viele Monate allein, aber weinen konnte ich bisher nicht. Dann höre ich wieder deine Stimme:
"Wir haben uns eingesponnen in unseren Kokon und langsam wären wir erstickt. Zerbrich dein Gefängnis und sieh."
Etwas in mir platzt auf, wie ein Same, der seine Schale sprengt um an das Licht zu kommen. Langsam drehe ich den Kopf und schaue in Irmtrauds Gesicht. Der volle Mund lächelt mich an, die Augen blitzen beinahe übermütig, und es wird hell. Das Eis in mir beginnt zu schmelzen, ich kann meinen Blick gar nicht vor ihr lösen und frage :
"Wieso bist du hier?" Meine Stimme klingt rauh und eingerostet und ich merke, dass ich rot werde wie ein kleiner Schuljunge.
Ihre helle Stimme klingt wie die Glöckchen der Schafe gegenüber: "Ich weiß es nicht genau. Ich habe geträumt, deine Frau hätte mich gerufen."
Ich muss erst einmal schlucken. Ich habe mich immer nach den klugen Ratschlägen meiner Frau gerichtet, das werde ich auch jetzt tun und tief in meinem Herzen höre ich ihr fröhliches Lachen.
"Wenn ich nicht so alt wäre, würde ich jetzt herumspringen wie die Lämmer drüben am Berghang."
Ein warmer weicher Körper schmiegt sich an mich: "Du hast genau das richtige Alter."
Nein, ich werde noch nicht herumspringen. Erst muss ich diese köstliche Frucht, die mir jetzt ganz nahe ist, schmecken. Später ist noch Zeit genug.