Berlin in 5 Stunden 15
Ich fühle mich wie ein Rennpferd kurz vor dem Start. Nervös scharre ich mit den Füßen, eingepfercht unter dreißigtausend Anderen. Im letzten Startblock stehe ich, da wo die langsamen Läufer dicht aneinander gedrängt auf den Startschuss warten.
Der Nieselregen hat nachgelassen. Der dampfende Atem der Läufer hängt schwer in der feuchten Berliner Morgenluft. Es riecht nach feuchtem Straßenstaub – und nach menschlichen Ausdünstungen. Angstschweiß. Die Stimmung im Startblock ist ruhig, zu ruhig. Dreißigtausend müssten mehr Lärm machen.
Der Mensch am Mikro, vorne an der Startlinie, der das Startkommando geben wird, sollte uns vielleicht mehr einheizen und anfeuern. Die ersten paar Tausend sind schon unterwegs. Die Afrikaner haben bestimmt schon vier bis fünf Kilometer hinter sich.
Ich lasse mich noch einmal mit meiner Digi-Cam fotografieren. Vor dem Lauf – während des Laufs – nach dem Lauf. Die typische Fotoserie, wie langweilig. Vielleicht gibt’s heute mal was Besonderes zum Knipsen.
Zum Pinkeln gehe ich später, da sind jetzt zu viele Gitter links und rechts der Straße. Zu viele Leute hinter den Gittern, die uns teils neugierig, teils verwundert ansehen. Wie kann man nur so wahnsinnig sein und 42 Kilometer laufen wollen, durch halb Berlin, bei diesem Sauwetter? Ich frage mich das längst nicht mehr. Es ist das dritte Mal, kenn mich schon aus jetzt. Mit den Gefühlen, mit der Stimmung. Aber das erste Mal in Berlin. Berlin. Der Marathon. Der größte Marathon in Deutschland. Das Brandenburger Tor. Noch viereinhalb Stunden. Für mich. Dann will ich durch sein. Will unbedingt. Das ist der Plan. Kann ich das auch umsetzen?
Dann der Startschuss. Zwanzig Minuten nach dem ersten Block, zwanzig Minuten Vorsprung für die Topläufer. Selbst wenn ich mit denen zusammen losgelaufen wäre – nicht der Hauch einer Chance. Dabei sein ist alles. Goal is to finish. Marathoni. Finisher. Geiles Gefühl. Man hat ihn kaum gehört, den Schuss, höchstens einen kleinen Knall. In München schießen sie offensichtlich mit Kanonen. Die Zuschauer klatschen, viele Läufer auch. Anfeuerung. Selbstmotivation. Aufwärmen.
Ganz schön kühl heute. Aber bald wird mir warm. Bald werde ich schwitzen, wie immer. Der Regen ist jetzt ganz vorbei. Am Anfang geht es langsam. Man kann nicht überholen und kann nicht überholt werden. Zu viele Menschen auf engstem Raum. Da, in der Mitte der Straße, eine Verkehrsinsel ! Vorsicht, nicht gegen den Randstein laufen, oder drüberstolpern. Ellenbogen werden eingesetzt. Ich habe schon schlimmere Rempler erlebt. Wir sind die Gruppe der wahren Helden. Da geht es nicht um Minuten, geschweige denn um Sekunden. Sieger ist, wer durchkommt. Vier Stunden, fünf Stunden, mehr ? Egal, dabei sein ist alles – und finishen, unbedingt finishen, unbedingt durch das Brandenburger Tor laufen.
Dann mach ich schließlich doch die Pinkelpause, gleich auf dem ersten Kilometer. Lieber jetzt, wo noch Bäume da sind. Man sollte vielleicht nicht unbedingt an den Reichstag pissen. Wäre unhöflich. Dann das Zwei-Kilometer-Schild. Wie ist die Zeit? Liege noch im Plan, 30 Sekunden zurück. Das war die Pinkelpause. Bis jetzt geht alles sehr gut, gutes Gefühl, guter Rhythmus. Ich muss nur ein bisschen auf die Zeit achten. Und auf das Tempo. Nicht zu schnell am Anfang. Den Puls kontrollieren. Hundertfünfundvierzig, hundertfünfzig, mehr nicht. Kapazitäten für später aufheben, ab dreißig Kilometer, da hat man Reserven bitter nötig. Hab ich oft geübt, oft trainiert, die langen Läufe. Stundenlang, total langsam. Den Körper auf die langen Distanzen vorbereiten. Kann nicht schief gehen. Aber die vielen Läufer, mehr als in München. Man kann wirklich nicht überholen. Muss auch nicht sein. Jetzt noch nicht.
Dann der Reichstag. Da will ich ein Bild von mir machen lassen. Ich, wie ich am Reichstag vorbeilaufe. Patriotismus oder Angeberei ? Egal, so oft komm ich auch nicht hierher. Vor lauter Laufen und Schauen und Überlegen, wo der beste Platz ist, finde ich niemanden der mich fotografiert. Schon sind wir am Reichstag vorbei. Egal. Weiterlaufen. Hab den Reichstag ohnehin schon im Kasten. Und mich auch. Kann ich am Computer selbst zusammenbasteln.
Es läuft wirklich hervorragend. Die Stimmung ist jetzt wesentlich besser. Viele Zuschauer am Straßenrand, die Berliner feuern uns jetzt ganz toll an. Leistung lohnt sich, das spürt man, so nahe am Reichstag, bei den berufsmäßigen Leistungsträgern der Republik. Schmunzeln, Weiterlaufen. Gute Stimmung, gute Verfassung, gutes Publikum, gute Strecke. Das wird der Mega-Lauf. Noch ungefähr fünfunddreißig Kilometer bis zum Brandenburger Tor.
Scheiße!
Was ist das?
Hab ich mir den Fuß verknackst?
Was ist das für ein komischer Schmerz? Das brennt plötzlich auf dem Fußrücken wie die Hölle. Verdammt, der Schuh muss zu eng gebunden sein. An der Stelle hatte ich doch noch nie Schmerzen. Mann, das muss aufhören, das tut verdammt weh. So kann ich keine fünfunddreißig Kilometer mehr laufen. Jetzt ganz ruhig werden. Muss irgendeine Stelle am Straßenrand suchen, den Schuh neu binden. Das muss der Schuh sein. Sicher zu eng gebunden. Oder die Socke hat eine Falte gemacht.
Ich bleibe stehen, binde den Schuh auf, ziehe die Socke gerade, dehne und strecke den Fuß vorsichtig, dann wieder zubinden und langsam weiterlaufen. Na ja, geht so einigermaßen. Sieben, acht Kilometer hab ich jetzt schon, müsste knapp eine Stunde sein.
Mist, das wird nicht besser. Was soll ich machen? Soll ich einen Sanitäter suchen, kleine Massage, kurze Pause, jetzt schon? Ich muss auf jeden Fall langsamer laufen. Versuchen, den rechten Fuß nicht zu sehr zu belasten. Dann krieg ich aber Probleme mit der geplanten Zeit. Was sagt die Uhr? Vergleich mit der Marschtabelle, die ich am rechten Handgelenk trage. Jetzt müsste ich ungefähr 1 Stunde und, …, Mist, schon zwei Minuten verloren. Bei 8, 9 Kilometer. Das kann ich noch aufholen. Aber nicht mit den blöden Schmerzen.
Ich überlege was das sein kann, welche Art von Verletzung, ob es ein Dauerschaden werden könnte. Kann das irgendwann auf den Kreislauf gehen? Kollaps, Totalzusammenbruch?
Mensch, reiß die zusammen, du Arsch. Du hast dich nicht ein Jahr lang gequält und verausgabt, dich total eingestellt auf diesen Marathon, dass du jetzt schon nach einem Viertel der Strecke aufgibst. Das ist jetzt eine reine Motivationsfrage. Der Wille ist jetzt gefordert. Schmerz gegen Motivation. Durchhalten. „Quäl dich du Sau“ - Fällt mir gerade so ein, saublöder Spruch von irgendwem auf irgendeiner Tour de France ausgespuckt.
Soll ich mich hier aufarbeiten und totlaufen? Das ganze soll doch bloß Spaß sein. Ich krieg doch kein Geld dafür. Musste sogar 60 Euro abdrücken, dass ich durchs Brandenburger Tor laufen darf. Blödes Symbol. Aber ich bin nun mal hier. Ich will da durch. Also, jetzt mal langsam. Konzentrieren und die Situation analysieren.
Wann tritt der Schmerz auf? Wie muss ich mich bewegen, damit er weniger wird, oder ganz verschwindet. Wie wirkt sich das auf meine Psyche aus und wie wirkt es sich körperlich aus?
Mein Motivationsengel kämpft gegen den Gib-auf-Teufel. Der Engel gewinnt für den Moment.
Weiterlaufen.
Langsam kriege ich die Situation in den Griff. Ich darf nur nicht zuviel an den Schmerz denken. Ich muss positiv denken. Ich muss daran denken, was ich schon geschafft habe, nicht was noch vor mir liegt. Jetzt sind es schon fünfzehn Kilometer, geht schon irgendwie. Bald ist die Hälfte rum, dann kann ich noch einmal die Zeit kontrollieren und entscheiden wie es weitergehen soll, besser gesagt, weiterlaufen soll.
Aber ich muss auch die Zeichen meines Körpers richtig und rechtzeitig erkennen. Und ich muss den Mut haben, aufzuhören. Wenn es sein muss, aber es muss nicht sein. Jetzt nicht. Noch nicht. Die geplante Zeit kann ich getrost vergessen. Aber eine Zeit unter fünf Stunden wäre noch drin. Wenn ich so in diesem Rhythmus weiterlaufe.
Ich merke nun, wann der Schmerz immer kommt und wie er sich darstellt. Man gewöhnt sich langsam dran. Man kann reagieren, man kann ihn einordnen. Es tut jetzt nicht mehr so sehr weh, es ist mehr ein permanentes, leicht brennendes Gefühl, das sich jetzt auch vom Fußrücken, also vom Spann auf die Sohle verschoben hat.
Warum ist es ein brennender Schmerz? Entzündungen brennen. Kann man so plötzlich, mitten im Laufen, eine Entzündung kriegen? Eine akute Entzündung ? Was kann da entzündet sein? Kann man an einer Entzündung sterben?
Vielleicht fällt mir der Fuß im Ziel ab, total schwarz und verfault. Stinkendes, lebloses Fleisch. Vielleicht amputieren sie. Was für ein Organ, was für eine Sehne oder welcher Muskel ist betroffen?
Ich muss diese verdammten negativen Gedanken loswerden. Muss mich mehr auf den Lauf konzentrieren, und auf die Umgebung. Ich laufe schließlich durch Berlin, Tausende laufen mit mir, noch mal so viele stehen am Straßenrand und unterstützen uns. Also, zusammenreißen.
Zwischenziele setzen. Bald hab ich die Halbdistanz geschafft. Priorität hat jetzt – durchkommen. Möglichst gesund durchkommen. Es geht ja. Wenn ich auf bestimmte Art und Weise laufe, spüre ich keine Schmerzen. Aber dieser Kampf zerrt an den Nerven, beeinträchtigt die Widerstandskraft und schließlich auch die Kondition.
Ich merke wie ich langsamer werde, die Schritte werden schlurfender, die Beine müder, und doch muss ich laufen, laufen, laufen….
Ein Akt des Willens spielt sich jetzt ab, gegen jede Vernunft? Dann endlich, die halbe Distanz ist geschafft.
21 Kilometer.
Fotografen über der Messlinie. Viele Zuschauer. Applaus, Bravorufe.
„Weiter so! Das Schlimmste habt ihr hinter euch!“
Aufatmen, auch die anderen Läufer, man spürt es, wollen es jetzt noch mal wissen. Noch ein neugieriger Blick auf die Uhr. Gar nicht so schlecht. Wenn, also nur mal angenommen, wenn, rein hypothetisch, wenn ich so weiterlaufe, ich meine jetzt ginge es ja wieder, dann schaffte ich es unter fünf Stunden. Vielleicht sogar so schnell wie im letzen Jahr.
Man kann natürlich nicht einfach einen Halbmarathon mit zwei multiplizieren und so auf die Marathondistanz hochrechnen. Ab 21 Kilometer geht der Marathon erst richtig los. Jetzt trennt sich die Spreu vom…, wieder so eine dumme Phrase, aber sie stimmt ja. Der Energiespeicher des Körpers wird zunehmend leerer und die Reserven müssen mobilisiert werden. Das erfordert auch ein hohes Maß an Disziplin und Konzentration. Nicht einfach drauflos rennen jetzt, gut einteilen jetzt.
Nächstes Etappenziel ist der Kurfürstendamm. Da ist mein Hotel, da bin ich gestern schon zum Aufwärmen entlanggelaufen. Die Gegend kenne ich. Von da sind's dann nur noch etwas mehr als zehn Kilometer. Die zehn lauf ich fast in jedem Training, meistens mehr, ein Kinderspiel.
Ich beobachte jetzt auch wieder mehr die anderen Läufer, viele überholen mich jetzt. Die haben keine Probleme, sehen noch ganz gut aus, lächelnde Gesichter, manche reden mit anderen Läufern, erzählen sich ganze Opern, diese Quatschtanten. Das konnte ich noch nie. Laufen und reden.
Außer mir sind noch einige andere Schlurfer unterwegs. Die werden von mir eiskalt überholt.
Eine kleine Läuferin, knapp vor mir, stellt sich als besonders zäh heraus. Trotz meiner Verletzung versuche ich, an sie heranzukommen. Die läuft einen guten Rhythmus, vielleicht kann ich eine Weile in ihrem Windschatten mitlaufen, dann links raus, überholen, davon spurten.
Man hat so seine Vorstellungen, seine Phantasien. Die kommen meist um diese Zeit, haben nichts mit meiner körperlichen und geistigen Verfassung zu tun. Ich fühle mich jetzt mental besser, die Schmerzen sind nun fast so was wie ein Normalzustand.
Und diesen Marathonzwerg vor mir, nehme ich mir jetzt vor. Bald bin ich auf gleicher Höhe mit ihr. Wir schenken uns keinen Blick – sieh deinem Feind niemals in die Augen. Als sie merkt, dass ich sie überholen will, zieht sie plötzlich wieder an. Was soll das? Gib auf, Mädchen, lass mich vorbei, quäl dich doch nicht unnötig. Die Kleine ist verdammt zäh.
Ich versuche, sie aus den Augenwinkeln zu taxieren. Bisschen jünger als ich, wesentlich kleiner, aber drahtiger. Südländischer Typ. Vielleicht Italienerin. Sind einige Italiener im Feld. Italiener sind meistens klein – und drahtig.
Ich versuche, auf gleicher Höhe zu bleiben, sie versucht sich wieder vor mich zu schieben. Sie hat gemerkt was ich vorhabe und will mein Vorhaben durchkreuzen. Ein Spiel. Ein grausames und lächerliches Spiel das wir zwei uns da liefern, unbemerkt von allen anderen Läufern, von Zuschauern, Presse, Funk und Fernsehen. Wen interessiert schon der Kampf zwischen Platz 22754 und 22755?
Das geht jetzt so eine Weile dahin, mal bin ich ein paar Zentimeter vor ihr, mal liegt sie in Führung. Das geht an die Substanz. Das müsste jetzt nicht sein, in der Situation. Aber mein männliches Ego übersteuert jede Vernunft. Vorsintflutlicher Jagdinstinkt. Beute jagen, stellen, reißen. Das Neandertaler-Prinzip. Dann schaffe ich es irgendwann, ziehe an ihr vorbei, lasse sie hinter mit. Ich höre noch einige Zeit ihr fauchendes Atmen, dann wird es leiser.
Hat ihre Vernunft oder meine Sturheit gesiegt? Hat sie, die Klügere, nachgegeben?
Ich bin ziemlich ausgepowert, habe den Schmerz vergessen, aber viel Energie verloren. Das war es dann wohl. Noch ein paar hundert Meter vielleicht, dann ist es aus, Ende, vorbei. Schlacht gewonnen – Krieg verloren.
Ich werde mit dem Besenwagen oder mit der U-Bahn oder mit dem Notarzt zum Brandenburger Tor gefahren. Wenn alles vorbei ist, werde ich mich durchschleichen, durch dieses mistige Symbol, wenn alle weg sind, wenn mich keiner mehr sieht. Wenn keiner sieht, dass ich ein Nicht-Finisher bin, ein Aufgeber, ein Vor-dem-Ziel-Stehenbleiber. Dass ich keine Medaille um den Hals hängen habe. Das mein Blick nicht hell von Stolz sondern dunkel und gebrochen ist. Verdammter Stolz.
Dann fehlen mir ein paar Meter dieses traurigen Films. Ich weiß, dass ich meine Füße immer noch voreinander setze. Oder besser, ich schiebe den einen Fuß am Boden schleifend vor den anderen, mit nicht zu weitem Abstand, denn das schmerzt höllisch in den Oberschenkeln. Wenn ich die Füße zu weit vom Boden hebe schmerzt es fürchterlich in den Knien. Wenn ich die Beine zu schnell auseinander bewege schmerzt es unglaublich in den Adduktoren. Wenn ich stehen bleibe schmerzt es überall. Wenn ich weiterlaufe schmerzt es überall. Also laufe ich weiter. Irgendwie, ich nehme kaum noch die Leute links und rechts neben mir wahr.
Lediglich ein Läufer, eigentlich auch ein Geher, so wie ich, fällt mir auf. Der muss einen ähnlichen Stil wie ich laufen, denke ich. Etwa so, wie man über eine Eisfläche läuft, wenn man keine Schlittschuhe anhat und vermeiden will, auf den Hintern zu fallen. So ähnlich dürfte ich auch aussehen. Wirklich so schlimm ? Ich überhole den Typen, demzufolge bin ich noch in besserer Verfassung als er.
Dann kommt tatsächlich der Punkt auf diesen 42195 Metern, an dem es die Meisten erwischt. Wenn der Mann mit dem Hammer an jeder Ecke lauern kann, bei mehr als 30, 32 Kilometern.
Vorteil, ab jetzt kann langsam rückwärts gezählt werden - 10, 9, 8, Kilometer.
Nachteil, es kann jetzt wirklich jeden Augenblick vorbei sein.
Es übersteigt irgendwie meine Vorstellungskraft, dass ich noch laufe, dass ich mich noch vorwärts bewege.
Dann kommt irgendwann der Potsdamer Platz. Zwischen den Hochhäusern hallen die Schmerzenschreie der Gequälten, die es bis hierher ausgehalten haben, hallt das Trappeln der Füße derer die noch wirklich laufen, hallen die Rufe, das Gelächter und Gejohle des Mobs. Der Mob, er treibt dich weiter. Nur nicht hier umfallen, nicht hier aufhören.
Parallel zur Leipziger Straße läuft die Straße Unter-den-Linden, die direkt zum Ziel führt. Dass heißt, die Strecke, die ich jetzt vom Potsdamer Platz aus noch geradeaus Richtung Osten bis zu Spandauer Straße laufen muss, muss ich anschließend in umgekehrter Richtung wieder zurücklaufen. Ein Wahnsinn. Welches kranke Gehirn hat sich das ausgedacht?
Irgendwann geht es dann nach links, kurz vor dem Alex. Da beginnt es wieder zu regnen. Die Siegesengel weinen. Ich hebe mir meine Tränen für später auf.
Dann Karl-Liebknecht-Straße, in der Verlängerung wird sie zur Unter-den-Linden. Ungefähr zwei Kilometer von hier in westlicher Richtung vermute ich das Brandenburger Tor. Man kann es von hier aus fast riechen, spüren, sich vorstellen, hören, fühlen – aber nicht sehen.
Die Straße macht einen leichten Bogen nach rechts und das Tor steht am Ende des Bogens. Ich stehe am Anfang des Bogens.
Nein, ich stehe nicht, ich laufe.
Nein, ich laufe nicht, aber irgendetwas bewegt mich nach vorne, irgendeine fremde Kraft treibt mich in Richtung dieses Scheißtores, durch das 28023 Männlein und Weiblein, jeder mindestens so verrückt wie ich, unbedingt durch wollen. Die Meisten sind bereits durch.
Nun versuche ich mit Stil und Würde die letzten paar hundert Meter hinter mich zu bringen. Die Zuschauer, die solange ausgeharrt haben, bis auch noch der letzte Sechs-Stunden-Läufer durchs Ziel taumelt, sollen mich anständig und aufrecht dieses Thema abschließen sehen. Ich will nicht heulend und zitternd, kotzend und jammernd, auf Knien, wie ein jämmerlicher Wurm durchs Ziel kriechen. Ich will laufen, laufen, laufen.
5:15:54 zeigt die Uhr, als mein Körper irgendwie jenseits der Ziellinie ankommt, kurz nachdem er durch das mehrfach erwähnte Tor geschwebt ist. Möglicherweise hinübergetragen von einer fremden Macht, gebeamt von Scottie, oder mittels eines Arschtrittes eines der vielen Helferlein, die sich im Zielbereich aufhalten.
Später reicht man mir eine Medaille, einen Plastikregenumhang und zwei Flaschen mit irgendeiner farbigen Flüssigkeit, die ich gierig leere.
Noch etwas später esse ich einen Powerriegel, schaue meine Medaille an, lächle alle 22033 Läufer die das Ziel vor mir erreicht haben , und alle 5989 Läufer, die noch nach mir kamen freundlich an, nicke zufrieden und stelle fest, dass ich überhaupt keine Schmerzen im rechten Fuß habe.