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Berlin, Rimnicu Vilcea

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08.10.2005
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Berlin, Rimnicu Vilcea

Wie an den Tagen zuvor war ich wahllos in das obere Abteil eines Doppeldeckers gestiegen, um mich in der Stadt zu verlieren. Ich lies meinen Blick aus den Fenstern und dann über die Köpfe auf den Bänken vor mir schweifen, bis ich an ihr hängen blieb. Ihre Haare fielen, zu einem dicken Zopf zusammengebunden, über einen schmalen, sehnigen Rücken. Ihr Körper war hoch gewachsen und wirkte fast instabil, ihre Haut zart und unverbraucht.
Nach einem verregneten Frühling war es heiß geworden. Der Fahrtwind drang unter mein Hemd und lies es flattern wie eine Fahne im Wind. Der Bus fuhr durch breiter werdende, von renovierten Altbauten gesäumte Straßen. In den Erdgeschossen reihten sich Geschäfte und Kaufhäuser aneinander. Menschen strömten aus allen Richtungen in ihre Eingänge und kamen mit gefüllten Taschen wieder heraus.
Ich lehnte mich zurück und spürte eine freudige Erregung. Nachts waren es die Lichter der Stadt, die mir ein Gefühl der Weite gaben, am Tag war es die unüberschaubare Masse von Menschen, in die ich erleichtert eintauchen konnte. Der Berliner Asphalt war wie ein weicher, federnder Boden, der mich springen lies, höher und höher, gelöst von der Ordnung, die meinem Leben bis dahin einen Halt gegeben hatte.
Bei aller Euphorie, die mich leicht und zuversichtlich machte, begann ich damals aber auch noch etwas anderes zu empfinden, ein unvertrautes Unbehagen, das wie ein leise keimender Samen in mir wuchs. Im Schatten der Freude machte sich eine Angst in mir bemerkbar, die nicht klar zu fassen war. Ich stellte mir nur immer wieder vor, dass mich jemand entdecken, mit dem Finger auf mich zeigen und beim Namen nennen könnte. Dabei kannte mich fast niemand, bis zu der Begegnung mit Christina waren es nur die Kollegen aus dem Ingenieursbüro, der Vermieter meiner kleinen Wohnung und die Nachbarin, der ich unvorbereitet auf dem Hausflur begegnet war. Ich versuchte mich zu überzeugen, war doch frei, zu tun und lassen, was ich will, hatte doch nichts zu verbergen, wollte weder eine Bombe legen, noch den Mädchen in den Parks auflauern. Und es war auch nichts Unrechtes dabei, in den Cafes zu sitzen, den Menschen und ihrem Treiben zuzusehen und vielleicht auf die eine oder andere Gelegenheit zu warten, eine Frau anzusprechen, um sie dann verstreichen zu lassen. Und wenn ich es getan hätte – ich wäre doch nicht aufdringlich gewesen, hätte jede abweisende Geste sofort akzeptiert und mich zurückgezogen.
Ich rückte ein wenig nach links und sah, dass sie ein schmales Gesicht mit einem schönen dunklen Teint hatte. Kurz später drehte sie ihren Kopf zum Fenster und ich sah ihr Profil, das unbedeutend aussah, wie bei vielen anderen jungen Frauen. Das Leben hatte noch keine Spuren auf ihren Zügen hinterlassen.
Sie war ein gefügiges Opfer. Ich zog sie zart an mich, fühlte dabei ihren sanften, unsichern Widerstand, ließ es nicht zu, dass sie sich wehrt, presste sie an mich und schob dann meine Hand fest an ihren Rippen aufwärts bis auf ihre Brust, um sie zu greifen wie ein Raubtier seine Beute.
Es war wie ein erster Schimmer von Licht am Ende eines dunklen Tunnels, als es plötzlich möglich schien, es zu tun und nicht wie sonst zu verbannen, in das Reich der Phantasie. Ich wollte sie haben, war unerwartet entschlossen, wollte einmal ein Mann sein, der keinen Zweifel an seinen Absichten lässt. Und sie war wie ein leeres Blatt Papier, auf dem ich schreiben und Narben hinterlassen wollte. Als ich aber den Entschluss gefasst hatte, zu ihr zu gehen, schien die Entfernung fast unüberwindlich. Wie entrückt ging die Schritte dennoch und setzte mich neben sie. Sie rückte ein Stück, damit ich genügend Platz hatte, nahm aber sonst keine weitere Notiz von mir und blickte aus dem Fenster.

„Entschuldigung“, sagte ich und erinnerte mich daran, dass ich in ähnlicher Weise begann, wenn ich jemanden nach dem Weg fragte. Christina drehte ihren Kopf zu mir und sah mich an.
„Es ist heiß, ich möchte gerne ein Eis essen, aber nicht allein. Darf ich dich einladen.“ Eis essen war etwas für Kinder, dachte ich und fühlte mich gescheitert.
„Wieso mit mir?“, sagte sie und blickte mich fragend an.
„Warum nicht?“, brachte ich heraus. „Ich habe dich gesehen und finde dich interessant.“ Ich fragte mich, ob ich lüge und kam mir so erbärmlich niedlich vor.
Christina überlegte kurz. Dann sah sie mir wieder direkt in die Augen und sagte: „Na ja, OK, warum nicht? Aber ich viel Zeit habe ich nicht.“
Noch immer etwas steif lehnte ich mich zurück und erkannte den Bahnhof Zoo, dessen Vertrautheit mich erleichterte. Wir stiegen aus, ohne noch etwas zu sagen. Draußen wandte ich mich von ihr ab, um nach einem Eiscafé Ausschau zu halten. Christina entdeckte neben der Gedächtniskirche einen Mann hinter einer Art Tiefkühltruhe. Ich bat sie zu warten, ging zu dem Verkäufer und kaufte statt hausgemachten Eis überteuerte Kugeln aus fabrikfertigen Plastikeimern.
Weiter wortlos setzten wir uns auf die Steintreppe vor der Gedächtniskirche.
„Ich hoffe, es schmeckt dir“, sagte ich, um das Schweigen, das sich wie eine eiserne Ketten um meinen Hals gelegt hatte, zu brechen.
Christina war unbefangen.
„Bestimmt, danke“ sagte sie und ich fragte mich, ob sie die Spannung zwischen uns nicht spüren konnte. „Seit wann bist du in Berlin?“
„Erst seit 2 Wochen“, antwortete ich und fügte wieder wie ein Kind hinzu: „Aber ich war vorher schön öfter hier.“
„Und wie gefällt es dir?“
Christina sah mich so offen und freundlich an, dass ich fast erstarrte.
„Berlin gefällt mir gut. Man muss sich daran gewöhnen, dass überall Stadt ist, aber dafür gibt es viele Möglichkeiten“. Meine Worte wurden immer nichts sagender.
„Wo kommst du denn her?“
Ich komme aus einer Kleinstadt in der Nähe vom Bodensee. Du kennst sie bestimmt nicht.“
„Sag doch mal.“
„Villingen-Schwenningen. Kennst du nicht, oder?“
Christina lachte. „Du hast Recht“, sagte sie und stupste mich freundschaftlich am Arm. Die Berührung traf mich unerwartet. Sie überraschte und lähmte mich. Es war, als hätte sie ein inneres Gefäß zerstört, in der sich meine Lebenskraft befand, die jetzt durch Rissen und Löcher lief. Ich zog mich so weit es ging zurück und stellte die nahe liegende Fragen. Ich fühlte mich nicht mehr.
„Das ist auch nicht so interessant. Erzähl mir lieber, wo du herkommst“, brauchte ich heraus.
„Meine Eltern kommen aus Rumänien, aber wir sind schon kurz nach meiner Geburt nach Ost-Berlin gezogen.“
„Und wie bist du dann in den Westen gekommen?“
„Ich wohne immer noch im Osten.“
„Das kann nicht sein“, sagte ich, „wie kommt es dann, dass du hier im Westen mit dem Bus durch die Gegend fährst?“
Christina reagierte nicht auf meine Sachlichkeit. Sie lachte wieder auf eine mir unbekannte frische Art und verunsicherte mich immer weiter. „Mein Vater ist Diplomat und deshalb kann ich ohne Probleme vom Osten in den Westen reisen. Und zurück.“
„Warum bleibst du nicht im Westen?“ Ich wusste nicht, ob ich ihr glauben soll.
Christina war immer noch vergnügt. „Es gefällt mir im Osten und außerdem kann ich jederzeit hierher kommen“.
Es gab keinen Grund für ihre Offenheit, aber sie war ungebremst freundlich. Sie war liebevoll, ja, liebevoll. Es schien keinen Vorbehalt in ihr zu geben und kein Misstrauen. Ich fragte mich, ob es sein konnte, dass ihr Vertrauen noch nie missbraucht worden war und fühlte mich so schäbig. Sie berührte mich immer wieder mit ihrem Zeigefinger oder boxte mich in den Oberarm und rang nach Erklärungen dafür. Vielleicht war es die fremde Kultur, vielleicht war sie nur naiv und dumm. Ihre Lebensfreude aber lies mich wie ein Kartenhaus in mich selbst zusammenfallen. Langsam, aber mit immer größerer Macht überkam mich eine heftig pochende Melancholie und lähmte meine Glieder. In meinem Körper fühlte es sich an, als wäre eine Armee von Soldaten auf der Flucht ins Innerste, von einem übermächtigen Feind verfolgt und bombardiert. Mein Gesicht war wie eingefroren und das Sprechen fiel mir schwer. Mit einer letzten Anstrengung fragte ich Christina nach ihrer Telefonnummer, als könne ich so ein unbestimmtes Unheil noch abwenden. Christina schrieb die Adresse eines Mannes auf einen kleinen Zettel, bei dem sie zur Untermiete wohnte. Ein Telefon gab es dort nicht. Sie schlug vor, dass ich ihr schreibe.
„Ich habe noch eine Verabredung“, sagte ich und ging, ohne mich noch einmal umzusehen. Wie getrieben und doch erleichtert lief ich durch die Menschenmenge, als gäbe es diese Verabredung wirklich. Im Bahnhof setzte ich mich auf eine Bank. Wie hatte Christina eine solche Traurigkeit in mir lostreten können, die wie eine Lawine alles Lebendige unter sich begräbt.

Ich blieb nicht lange in Berlin. Nach wenigen Wochen schon bekam ich ein überraschendes Angebot und zog wieder in die Nähe meiner Heimatstadt. An Christina dachte ich immer seltener, nach einigen Jahren hatte ich ihr Gesicht und ihren Namen vergessen. Der Eindruck aber, den ihre Offenheit und ihre Berührungen auf mich gemacht hatten, blieb in mir lebendig. Ich hatte einige längere Beziehungen und manche kürzere Liebschaften. Es gab schöne Zeiten, Streit und Trennungen. In den guten Zeiten wurde ich vielleicht sogar geliebt. Ich selbst aber hatte die Überzeugung entwickelt, dass Beziehungen nicht mehr als Tauschgeschäfte sind. Was ich mit Christina erlebt hatte, wiederholte sich im Kleinen. Momente des Glücks, der innigen Verbundenheit machten mich traurig. Ich habe damit gelebt und aufgehört, nach Bedeutungen zu fragen.
Um mich herum hatten die meisten Freunde und Bekannten geheiratet und Kinder bekommen. Sie waren deswegen nicht glücklicher als ich, allenfalls weniger einsam. Nach vielen Jahren harter Arbeit fehlte es mir finanziell an nichts. Ich hätte mich zur Ruhe setzen und ein sorgenfreies Leben führen können. Glücklich aber war ich nicht. Ich fühlte mich leer. Da ich nicht wusste, was mir fehlt, wandte ich mich an einen Psychoanalytiker – einen alten Mann, der die Energie eines 17jährigen hatte. Über mehrere Jahre besuchte ich ihn drei Mal in der Woche. Im Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter stand ich in dem Garten mit den beiden dicken Eichen und wartete auf meine Stunde. Er fasste mich nicht mit Samthandschuhen an. Es ging es um meine Eltern, Großeltern, meinen Bruder, meinen Beruf, mein Geld, meinen Geiz und meine gescheiterten Beziehungen. Die Themen waren wie Schleifen, die uns zuletzt zu Christina und dem Abgrund führten, in den ich vor der Gedächtniskirche in Berlin gefallen war. Nach dem letzten Termin hatte sich mein Leben kaum verändert, und doch hatte ich eine Art Frieden geschlossen – Frieden damit, dass immer etwas fehlt. Und ich konnte traurig sein. Das klingt nach wenig. Für mich war es viel.
Einige Wochen später, an einem dieser Abende, an denen ich die Sonne hinter meinem Haus untergehen sah, machte ich mich auf die Suche nach meinem alten Notizbuch und fand es. Ich fand auch die Ost-Berliner Adresse und tippte den Namen und die Anschrift des Mannes bei dem Christina angeblich gewohnt hatte, eines Stefan Kollmann, in mein elektronisches Telefonbuch. Es gab tatsächlich einen Eintrag. Ich nahm all meinen Mut zusammen und wählte die Nummer.
Als ich nach Christina fragte, war Stefan Kollmann sofort hellwach.
„Christina? Ja, Christina. Natürlich erinnere ich mich an sie, aber wie lange ist das her? Es müssen bald zehn Jahre sein. Auch ich würde auch gerne wissen, was aus ihr geworden ist.“
Ich war von mir selbst überrascht, erzählte plötzlich meine ganze Geschichte, von der Begegnung mit Christina und den Jahren danach, von Traurigkeit und Leere. Dann erfuhr ich, dass Christina bei ihm zur Untermiete gewohnt hatte und mit Nachnamen Amanar hieß. Die Geschichte mit dem rumänischen Vater stimmte, war aber auch für ihn undurchsichtig geblieben. Er hatte nie eine Liebesbeziehung mit Christina gehabt, war aber mir ihr befreundet gewesen und meinte, sie sei ein besonderer Mensch. Nach ihrem Auszug hatte sie ihn noch einige Male besucht, dann aber hatte ihre Spur sich verloren. Nur vom Hören wusste Stefan Kollmann, dass Christina in Berlin zuletzt in einem Architekturbüro gearbeitet hat. Dann soll sie einen Mann aus einer adeligen Familie in Mühlheim an der Ruhr geheiratet und ein Kind bekommen haben. Später dann soll sie nach Rumänien gezogen sein und sich mit Leib und Seele der Malerei verschrieben und die schönsten rumänisch-orthodoxen Ikonen der Neuzeit gemalt haben.
Nach dem Telefongespräch mit dem Mann aus Berlin folgte eine Zeit der Recherchen, aber ich konnte weder eine Adresse noch eine Telefonnummer finden. Ich rief bei adligen Familien in Mühlheim an der Ruhr an, aber niemand kannte Christina. Schließlich wendete ich mich an die rumänische Botschaft und bekam nach weiteren Umwegen einen Hinweis vom Büro des rumänisch-orthodoxen Patriarchen in Bukarest. Einige Wochen später befand ich mich in einem Flugzeug auf dem Weg in ein Land, von dem ich bis dahin kaum Notiz genommen hatte. Meine Reise sollte mich nach Rimnicu Vilcea, einer Stadt in den Bergen Rumäniens führen, wo Christina eine Ausstellung ihrer Ikonen eröffnen sollte.

Nach einem dreistündigen Flug nahm ich mir am Bukarester Flughafen ein Taxi. Der Fahrer war klein und seine Haut wie die Schale einer alten Kartoffel verschrumpelt. Er sprach gebrochen Englisch, hatte aber kein Interesse an einem Gespräch. Stattdessen stellte er das Radio an, im dem orientalisch klingende Musik gespielt wurde. Wir fuhren an vielen Baustellen und erst kürzlich fertig gestellten mehrstöckigen Bürogebäuden vorbei. Am Straßenrand waren große Tafeln angebracht, auf denen für Apartments, Autos, Zigaretten, Hotels und Marmelade geworben wurde. Erst als wir Bukarest verlassen hatten, war der Blick auf die Landschaft frei. Manchmal schlängelten sich die Straßen in Kurven durch kleinere Berge, dann war das Land wieder flach. Die Bäume wuchsen wild und schräg, wie verschmutzte Kinder, die bis zum Einbruch der Dunkelheit auf der Straße spielen. Die Felder waren durch lose zusammen gezimmerte Bretter eingezäunt. In den Dörfern waren alte Männer und Frauen zu sehen, die auf Bänken sitzend schwiegen oder redeten und den vorbeifahrenden Autos hinterher sahen. Manche lehnten an ihren lehmfarbenen Häusern, die, je weiter wir ins Landesinnere fuhren, kleiner und ärmer wirkten. Fast überall waren kleine Gärten zu sehen. In den größeren Orten gab es Plätze, wo man anhalten und in kleinen Schuppen etwas zum Essen bestellen konnte. Tische und Stühle standen draußen, Kinder spielten im Staub zwischen den Buden und manchmal sah man neben den rauchenden Männern Frauen mit geflochtenen Zöpfen. Einmal hielten wir. Mein Fahrer ging zu einer alten Frau, die hinter einer verschmutzen Glasvitrine stand und lies sich Gebäck und Zigaretten geben. Ich war ihm gefolgt, stand vor der Vitrine und sah mich um. Neben die alte Frau hatten sich zwei Mädchen mit ungekämmten Haaren gestellt, Töchter oder Enkelinnen. Sie sahen mich aus ihren wilden Gesichtern unverblümt an und ich wusste nicht, ob sie freundlich waren oder spotteten. Der Fahrer sprach mit der alten Frau und fragte mich dann, ob ich mit einem der Mädchen auf ein Zimmer gehen möchte. Die Mädchen beobachteten mich aus ihren verrückten Augen und warteten auf eine Reaktion. Ich sagte Nein, hatte das Gefühl, mich dafür entschuldigen zu müssen und warf ihnen noch einen vorsichtigen Blick zu. Sie lachten.

In Rimnicu Valcea reihen sich schmutzige Hochhäuser aneinander. Der Geruch von Urin drang durch die offenen Fenster des Taxis. Auf den Bürgersteigen saßen Männer unter Bäumen. Neben sich hatten sie Türme aus grünen Wassermelonen aufgebaut, einige von ihnen halbiert, so dass man das leuchtend rote Fruchtfleisch sehen konnte. Mein Fahrer brachte mich in ein kleines Hotel, in dem man sich bemühte, die Gäste den Schmutz der Stadt vergessen zu lassen. Die Eingangshalle war mit einem roten Kunstteppich ausgelegt. Hinter der Rezeption stand eine junge Frau mit braunen Augen und blondierten Haaren, die ihr Handy zur Seite legte, als sie mich sah. Sie lächelte und gab mir den Schlüssel für das reservierte Zimmer.
Ich ruhte mich aus. Bestimmt eine Stunde lag ich auf einer weichen Matratze und rührte mich nicht. Die verschlossenen Fenster konnten den Straßenlärm nicht zurückhalten. Plötzlich fühlte ich mich frei und erinnerte mich daran, dass es mir damals in Berlin ähnlich gegangen war. Hier war ich vollkommen unbekannt und auch in Deutschland wusste niemand von meiner Reise.
Am nächsten Tag ließ ich mich zu der Eröffnung von Christinas Ausstellung bringen, die, wie ich erfuhr, im Nebengebäude der Kirche zu finden war. Ich ging zuerst in die Kirche, atmete die weihrauchgeschwängerte Luft ein und blickte auf den Altar, der sich hinter einer schweren schwarzen Gittertür befand und, abgetrennt vom Kirchenschiff, das Zentrum eines eigenen Raums bildete, in dem zwei Priester in einen monotonen Sprechgesang vertieft waren. Ich setzte mich auf eine Bank und beobachtete, wie sich vor Ikonen Menschen in Warteschlangen stellten und den Heiligen auf den Bildern zarte Küsse gaben. Ich hatte nie an etwas glauben wollen und war stolz darauf gewesen. Plötzlich erschien mir mein Atheismus so naiv wie die Küsse der Gläubigen. Ein Gefühl der Ehrfurcht überkam mich. Verunsichert verließ ich die Kirche und ging in das Nebengebäude. In einer alten Halle mit kargen weißen Wänden standen große Bilder von Männern mit kräftigen Bärten und Frauen mit sanften Gesichtzügen vor goldenem Hintergrund.
Etwa 30 Männer und Frauen in Anzügen und Kleidern hatten sich versammelt und hörten der Ansprache eines Priesters mit der Figur eines Baumstamms zu. Danach sprach ein Mann mit Pomade in den Haaren, und ich stellte mir vor, dass es der Bürgermeister war. Neben ihm erkannte ich Christina, die während der Reden gleichmütig vor sich auf den Boden blickte. Manchmal fiel ihr Name und sie lächelte sanft. Anders als die Besucher der Ausstellung trug sie keine festliche, sondern schlichte Kleidung, eine Leinenhose, deren Beine gerade auf den Boden fielen, und eine grobmaschiges, beigefarbenes Hemd, dass auch ein Mann hätte tragen können. Ihr Gesicht war jung und schön geblieben, aber obwohl Lachfalten ihm einen glücklichen Ausdruck verliehen, wirkte Christina tief in sich versunken. Als die Ansprachen beendet und die Ausstellung eröffnet war, wollten viele Frauen und Männer mit ihr sprechen. Sie stellten Fragen und machten Komplimente. Christina hörte ihnen zu, nickte manchmal zart und vermied viele Worte. Sie war sehr still und doch anziehend präsent. Ich ging umher und sah mir die Bilder an. Auf den ersten Blick wirkten sie wie jene, die ich kurz zuvor gesehen hatte. Dann aber fiel mir auf, dass die Gesichter der Heiligen lebendiger als die in der Kirche waren. Sie trugen feine Züge und drückten auf eine eigentümliche Weise zugleich Verzweiflung und Erhabenheit, Demut und Stolz aus. Die Augen der gemalten Männer und Frauen wirkten tiefgründig, traurig, voller Sehnsucht. Als ich mich von einem Bild, auf dem ein abgemagerter junger Mann mit langen Haaren und zum Himmel ausgestreckten Armen zu sehen war, umdrehte, um nach Christina Ausschau zu halten, ging sie direkt an mir vorbei und unsere Blicke trafen sich. Es war einer dieser seltenen Blicke, die einem durch Mark und Bein gehen. Sie wandte sich zum Weitergehen, hielt dann aber doch inne und sah mich nochmals an, wie damals in Berlin, nur ruhiger und fester. Sie sagte etwas auf Rumänisch. Ich antwortete auf Deutsch.
„Kannst du dich erinnern?“
Sie sah mich voller Neugier an.
„Deine Bilder sind bewegend. Man weiß nicht, ob die Heiligen glücklich oder traurig sind.“
Christina lachte wortlos zustimmend, freudig wie ein Kind, das in einem Versteck gewartet hat, bis es gefunden wird. Ich lachte auch – über all meine Angst. Dann verabschiedete ich mich.

 

Hallo doktore,

der Inhalt deiner Geschichte hat mir gut gefallen. Zufällige Begegnungen, die manchmal ein Leben lang eine Rolle spielen - warum auch immer.

Deine Umsetzung des Ganzen hat mir allerdings nicht so zugesagt. Stellenweise wirkte mir deine Geschichte zu berichtend, so nach dem Motto "erst war dies, dann das, dann jenes". Meist konnte ich nicht mit deinem Erzähler mitfühlen. Natürlich gibt es das, dass man alles stehen und liegen lässt, um nach Rumänien zu fahren, aber die Motivation deines Erzählers hast du mir nicht plausibel gemacht. Auch den Abschied kann ich nachvollziehen, dass, was er tun wollte, hat er getan. Dennoch hast du mir zu wenig gezeigt, was er hier empfand. Gelungen fand ich einige deiner Formulierungen über Beziehungen.

Den gesellschaftlichen Aspekt deiner Geschichte hast du kaum beleuchtet, zu welcher Zeit sie spielt (es ist am Anfang noch von West- und Ost-Berlin die Rede) wurde mir zu spät und nicht präzise genug deutlich.

Es sind auch noch einige Flüchtigkeitsfehler in deiner Geschichte, ein paar Beispiele, den Rest findest du selbst:

Aber ich viel Zeit habe ich nicht.“
Das erste ich ist überflüssig
Ich bat sie zu warten, ging zu dem Verkäufer und kaufte statt hausgemachten Eis überteuerte Kugeln aus fabrikfertigen Plastikeimern.
hausgemachtem
Erzähl mir lieber, wo du herkommst“, brauchte ich heraus.
brachte
Da ich nicht wusste, was mir fehlt, wandte ich mich an einen Psychoanalytiker
fehlte

Liebe Grüße und noch viel Spaß hier,
Juschi

 

liebe juschi, vielen dank, dass du dir die mühe gemacht hast . . . ja, die geschichte ist sehr "berichtend". deine kritik finde ich sehr treffend. es ist die erste von mehreren geschichten, die ich geschrieben habe. ich denke, ich habe inzwischen dazugelernt. ich scheue mich noch vor dem aufwand, sie ganz neu zu schreiben . . ., auf der anderen seite bin ich von der idee überzeugt . . . mal sehen - - das ganze braucht wohl ne völlig andere form - vielleicht schreibe ich alles als gedanken des protagonisten während der autofahrt in rumänien . . . mit dem schluss wollte ich so etwas sagen wie: der protagonist wollte sich noch einer vergewissern, dass es diese ungehemmte lebendigkeit tatsächlich gibt. die kurze begegnung mit christina hat im gericht, um sich zu vergewissern und er konnte - gewissermassen (und nach längerer vorbereitung durch die psychoanalyse) geheilt - wieder nach hause fahren. danke nochmal - doktore

 

Hallo Doktore,

ich habe die ersten Zeilen deiner Geschichte sehr gerne gelesen. Du verstehst es, die Atmosphäre in Berlin authentisch, ja nahezu naturalistisch darzustellen; fast glaubt man Passagier des BVG-Busses zu sein und gemeinsam mit dem Protagonisten das bunten Treiben in den Straßen zu beobachten.

Ab dem vierten Absatz Deiner Geschichte habe ich das Geschriebene allerdings mit zunehmendem Unwillen gelesen. Dies hat mehrere Gründe: Deine krampfhaften Versuche, literarisch wirken zu wollen ("leise keimender Samen", "Schatten der Freude", ein "Lebenssaft", der "läuft") stellen in meinen Augen einen Stilbruch dar. Es wäre ästhetisch wertvoller gewesen, den naturalistischen Stil beizubehalten, stattdessen bemühst Du jedoch stereotype Metaphern, die Deinen Text in eine bedenkliche Schieflage bringen und viel eher von literarischen Dilettantismus als von stilistischer Raffinesse zeugen.

Erschwerend kommen einige Unzulänglichkeiten im psychologischen Profil Deines Protagonisten hinzu: die Angst entdeckt zu werden (Absatz 4) wirkt genauso unmotiviert wie der Abschied von Christina, nach der sich der Protagonist schließlich Jahre seines Lebens gesehnt hat. Eine Identifikation mit dem Protagonisten wird durch diese groben Fehler in der Figurenkonfiguration unterlaufen.

Es ist außerdem fragwürdig, ob die Tochter eines Diplomaten tatsächlich zur Untermiete wohnt, in einer Wohnung, die nicht einmal über einen Telefonanschluss verfügt...

Generell wirkt es so, als hätte Dich nach den ersten Zeilen die Lust am Schreiben verlassen. Der Telegrammstil, mit welchem die Lebensgeschichte Christinas heruntergeleiert wird, ist hierfür genauso Indiz wie die zahlreichen syntaktischen, orthografischen und grammatikalischen Fehler.

Ich kann Dir deshalb nur raten, die Geschichte trotz des sehr großen Aufwands, den dies bedeuten wird, gründlich zu überarbeiten. Die Grundidee halte ich für originell, aber absolut ausbaufähig.

Liebe Grüße

FrozenFire

 

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