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Berlin-Tegel oder Erinnerungen an meine Kindheit

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25.10.2006
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Berlin-Tegel oder Erinnerungen an meine Kindheit

Sommer 2044, unser Seniorenklub macht einen Ausflug. Wir wurden mit dem Bus zum Tegeler See gefahren, und haben dort eine wunderschöne Dampferfahrt gemacht. Kein Dampfer mehr wie in meinen Kindertagen, mit Schornstein und gemütlichen Brummen der Motoren. Die Dampfer von heute fahren lautlos mit Sonnen- und Windenergie.
Nach 4 Stunden Fahrt über den See haben wir wieder an der Tegeler Promenade angelegt, und jetzt sind noch 3 Stunden Zeit bis der Bus uns wieder abholt.
Ich habe als Kind hier in Tegel bei meinen Großeltern gewohnt und werde jetzt mal in die Treskowstraße gehen und nachsehen ob das Haus, in dem wir gelebt haben, noch steht.
Da ich gerade 90 geworden bin, bin ich nicht mehr ganz so schnell zu Fuß wie früher, aber ich denke, die 3 Stunden Zeit die ich habe, werden reichen.

Tatsächlich, da steht es noch, dass Haus Nr. 25. Zwar hinter einen Bauzaun aber das Tor steht offen. Am Zaun ein Schild „Baustelle – betreten verboten – Eltern haften für ihre Kinder“. Da meine Eltern schon lange nicht mehr leben, kann ich doch wohl ganz unbesorgt die Baustelle betreten. Ich gehe vorsichtig hinein und sehe mich um. Kein Mensch zu sehen. Noch immer hat das Haus die schwarz-graue Fassade wie in meiner Kinderzeit, alte Holzfenster und die riesige Eingangstür. Ich drücke die schwere Eingangstür auf, und da ist er, der Geruch nach Altbau und Kohleofen, Eintopfgerichte und Waschküche. Langsam gehe ich durch den großen Eingangsbereich. Links in der Mitte ist der Aufgang zum Treppenhaus. Hier, im Vorderhaus, hat meine Freundin aus Kindertagen gewohnt. 1 Stock, rechts, Wohnung mit Bad. Wir lebten im Hinterhaus, 2 Treppen und nur mit Toilette, wobei dass schon gut war. Hier gab es auch noch Wohnungen, die hatten ihre Toilette im Treppenhaus, in einem kleinen Eckschrank.

Ich bin an der nächsten großen Tür angekommen. Diese führt auf den Hof und zum Hinterhaus. Vor ungefähr 83 Jahren habe ich auf diesem Hof mein erstes Geld verdient.
Meine Freundin und ich sind auf dem Hof immer im Kreis gegangen und haben gesungen. Ich kann mich sogar noch an einen Teil des Liedes erinnern: „ich bin nur ein armer Wandergesell“. Das ist mit der Zeit einem Nachbarn so auf den Geist gegangen, dass er jeder von uns zwei Groschen geschenkt hat, nur damit wir aufhören zu singen (für Nichtberliner: ein Groschen war ein Zehnpfennigstück). Zwei Groschen waren viel Geld für uns. Dafür wurde dann Naschkram beim Bäcker gekauft. Leider hat das nur einmal geklappt. Bei der nächsten Gesangsdarbietung unsererseits wurde nur noch aus dem Fenster gebrüllt, wir sollten doch endlich ruhig sein.
Das Radfahren habe ich auch auf diesem Hof gelernt. Auf Opas altem Herrenrad. Im Stehen, weil ich viel zu klein war um auf dem Sattel zu sitzen und mit den Füßen die Pedalen zu erreichen. Hat mir eine Menge Stürze und blaue Flecken gebracht bis ich es konnte.

Die Blumenbeete die es hier früher im Hof gab, sind verschwunden, nackter platter Boden ist übrig geblieben. Ich stehe vor dem Hinterhaus und sehe hoch zur 2. Etage. Da ist unser Balkon. Viele Stunden habe ich auf ihm verbracht und mit meinen Stofftieren gespielt. Ich möchte gerne hoch in die alte Wohnung, aber leider ist die Tür zum Hausflur abgesperrt. Ein Blick durch das Fenster in der Eingangstür zeigt mir das Treppenhaus. Immer noch Holzstufen, belegt mit kackbraunem Linoleum und Eisenbeschlägen am Stufenrand. Das Treppengeländer aus Holz, auf dem man so schön runterrutschen konnte, ist verschwunden. Hier komme ich nicht weiter.

Kann ich es mir zumuten die Kellertreppe runter zu gehen? Rechts außen am Haus führt sie hinab. Ich versuche es einfach. Das Geländer ist wacklig und verrostet. Aber mutig steige ich die 20 Stufen hinab.
Die Kellerwand war früher übersäht mit Weberknechten. Wir nannten sie Schneiderspinnen. Es hat mir immer Spaß gemacht sie abzusammeln, und anderen Kindern in den Kragen zu stecken. Damals hatte ich noch keine Angst vor Spinnen. Heute sind sie mir nicht mehr so angenehm, aber die Umweltverschmutzung hat auch hier ihren Beitrag geleistet. Keine Spinne weit und breit. Na bitte, ich bin heil unten angekommen. Die Tür ist verzogen und klemmt, aber mit Geruckel und Geduld bekomme ich sie doch auf.

Ich gehe hinein ins Abenteuer meiner Kinderzeit. Ob der Strom noch angeschaltet ist? Ohne Licht gehe ich nicht weiter. Ein Griff, und die nackten Glühbirnen gehen an. Es war immer aufregend in den Keller zu gehen. Kahle Steinwände, die Glühbirnen, die nur wenig Licht geben, und dann der unheimliche Gang. Lang erstreckt er sich unter dem Haus. Links und rechts zweigen kleinere Gänge ab, in denen befinden sich die einzelnen Kellerverschläge. Aus allen Richtungen waren seltsame Geräusche zu hören. Es klickte und klackte, raschelte und schlurfte. Ich hatte Angst wenn ich alleine in den Keller musste, aber ich wollte auch immer wieder runtergehen. Der Keller war Abenteuer und Aufregung für mich.
Unser Kellerverschlag lag im mittelsten Gang. Ein riesiges altes Schloss vor der Tür. Der Schlüssel war groß und lang und mit einem Bart der mehr Zähne hatte als ich.
So da bin ich, dass hier war unser Keller. Die Tür hängt schief in den Angeln. Ich öffne sie und gehe rein. Ein Ding der Unmöglichkeit. Da stehen tatsächlich noch der alte Schrank und die Kartoffelmiete von damals. Alle späteren Mieter haben also hier nichts verändert.
In einer Ecke steht ein alter Stuhl mit Korbflechtsitz, da setzte ich mich drauf und lass meine Gedanken zurückwandern.

Die Kartoffelmiete, jedes Jahr im Herbst wurden viele Kilo Kartoffeln gekauft und hier unten eingelagert. Immer schön eine Schicht Kartoffeln, dann mit einem Pulver bestreuen damit sie nicht so schnell keimen, dann die nächste Schicht Kartoffeln, und so weiter und so weiter. Das war meine Aufgabe und ich kam mir immer sehr wichtig vor. Wobei das Pulver nicht nur auf den Kartoffeln landete. Wenn ich damit fertig war, hatte ich mindestens genauso viel Pulver am Körper wie ich auf die Kartoffeln gestreut hatte, und ich kann feststellen, bis heute sind auch mir noch keine Keime gewachsen.

Der alte Schrank, hoch bis an die Kellerdecke, und 2 Meter breit. Braunschwarz mit weißen Flecken auf den Türen die wie Schimmel aussahen. Große Flügeltüren, innen Regale im Abstand von ca. 30 cm. In diesem Schrank standen die Leckerein. Oma hat das ganze Jahr über Obst eingekocht und eingeweckt. Da gab es Äpfel, Birnen, Kirschen und Pflaumen, als Früchte eingelegt und zu Mus gekocht. Erdbeeren und Brombeeren eingedickt als Marmelade. Kürbis, der immer schrecklich sauer war. Und für die Erwachsenen gab es den selbst gemachten Eierlikör und Holunderbeerwein.
Jeden Sonntag musste ich in den Keller gehen und 1 Glas Obst zum Nachtisch holen. Jedes Mal sagte Oma zu mir „lass das Glas nicht fallen“. Das ist mir nur einmal passiert, aber von da musste ich mir diesen Spruch immer und immer wieder anhören.

An der anderen Kellerwand waren Holz und Kohlen aufgestapelt. Holz haben mein Opa und ich in einem Korb, und die Kohlen in einem Metallbehälter hoch geholt. Hinter dem Holz saßen Spinnen, dick und fett. Aber die dickste Spinne hatte ihr Netz am Kellerfenster gesponnen. Da saß sie wie eine fette Königin die ihr Reich bewacht. Vor diesem haarigen Monster hatte ich wirklich Respekt. Am schlimmsten war es, wenn ich in den Keller kam und sie nicht in ihrem Netz saß. Wo war sie dann? Hing sie an der Decke? Bereit auf meinem Kopf zu landen? Immer ging mein Blick als erstes zu ihrem Netz. Da halfen auch nicht Opas Beteuerungen, dass die Spinne mir nie etwas tun würde. Ich hatte Angst vor ihr.
Nun sitz ich hier, bin steinalt, und die Spinne ist schon lange tot.

Immer mehr aus meiner Kindheit fällt mir ein. Da waren zum Beispiel die Spaziergänge mit Opa. Wir haben sie Kinorunde genannt. Damals gab es in Tegel 3 Kinos. Einmal in der Woche sind wir nacheinander zu jedem Kino gegangen und haben die Filmbilder in den Schaukästen angesehen. Am ersten Kino gab es einen Süßigkeitenautomaten aus dem ich mir etwas ziehen durfte. Wie leicht war ich als Kind doch glücklich zu machen.
Langsam wird es Zeit, dass ich mich wieder auf den Weg mache. Es herrscht immer noch Ruhe auf der Baustelle, vielleicht komme ich ja ungesehen wieder hier raus. Du meine Güte, die Treppe nach oben ist plötzlich doppelt so hoch und steil. Es ist mühselig nach oben zu steigen. Geschafft, das Tageslicht hat mich wieder. Nun noch raus auf die Straße und ab zum Treffpunkt. Noch ein letzter Blick auf das Haus. Bis zum 12. Lebensjahr habe ich bei Oma und Opa hier in Tegel gelebt. Es ist schön, dass ich noch einmal hier war.

 

Hi Z-P,
danke für deine Kritik. Ich schreibe noch nicht sehr lange. Gerade wegen der Kritik habe ich mich entschlossen auf "kurzgeschichten´.de" zu veröffentlichen. Wie soll man sich verbessern wenn einem niemand sagt wo die Schwächen und Fehler sind.
Viktoria

 

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