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Berlin

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10.03.2020
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Berlin

Ich will ehrlich zu dir sein – wir haben uns auseinander gelebt. Woher ich das weiß? Nun, ich vermisse dich nicht mehr. Zum ersten Mal.

Vor dir gab es andere. Ich habe mich ausprobiert, aber erst, als ich bei dir ankam, hatte ich das Gefühl, auch wirklich ankommen zu können. Du hast mich aufgenommen mit allen meinen Macken – du hattest ja selbst genug davon. Aber ich konnte dich lieben, genau so, wie du warst und habe mich bei dir das erste Mal Zuhause gefühlt.

Ja, Berlin, du warst für jeden Teil von mir ein Zuhause. In dir habe ich gelitten, gelacht, Scheiße gebaut, bin vor mir selbst weggerannt und hab mich doch meistens irgendwie wieder eingeholt. Und du warst bei allem dabei und für mich da, hast keine Fragen gestellt, hattest aber immer ein offenes Ohr für mich. Wenn andere Städte schliefen, hast du dich mit mir durch die Nacht gekämpft. Du wolltest nie zuerst ins Bett und hast mich machen lassen, bis ich vor Erschöpfung umgefallen bin. Dann hast du ohne mich weiter gemacht und hast mich trotzdem am nächsten Tag in alter Frische begrüßt. Zu oft hast du mich an mich selbst erinnert und vielleicht hat mich das so zu dir hingezogen. Beide verletzt, beide exzessiv, auf der Suche und immer wenn ich von dir getrennt war hast du mir gefehlt. Du hast mir gefehlt, auch wenn woanders der Himmel und die Häuser weniger grau waren. Auch wenn die Menschen woanders fröhlicher und freundlicher waren, es weniger gestunken und mich weniger überfordert hat – es war doch immer ein erleichterndes Gefühl wenn ich wieder bei dir sein konnte. Bis jetzt.

Jetzt ist es anders und auf einmal bist du mir zu laut, zu präsent, irgendwie immer da. Plötzlich fühle ich mich von dir bedrängt und denke immer öfter „Lass mich heute mal in Ruhe, ich will alleine sein.“ und habe dabei ein schlechtes Gewissen. Dir habe ich so viel zu verdanken, wir gehören zusammen und doch beschleicht mich das Gefühl, dass du mir vor allem geholfen hast, mich von mir selbst abzulenken. Immer wenn ich drohte den Halt zu verlieren und tief zu fallen, warst du da, hast mich mit offenen Armen und unendlichen Möglichkeiten empfangen, meinem Kopf und den Ängsten zu entfliehen. Aber vielleicht hätte ich fallen müssen. Vielleicht hätte ich gebraucht, dass du mir Grenzen setzt, meinen Scheiß nicht länger mitmachst – aber so bist du nicht und so wollte ich dich auch nicht haben.

Aber dann habe ich die Richtung gewechselt und dir nicht Bescheid gesagt. Du bist immer weiter gerast, ohne zu merken, dass ich langsamer wurde und einen anderen Weg eingeschlagen habe. Einen Weg, an dessen Ende schon jemand mit offenen Armen auf mich wartete: ich. Du wärst das fünfte Rad am Wagen gewesen, darum ließ ich dich gehen und als ich schließlich nach dir sah, lagen gefühlte Ozeane zwischen uns.

Und auf einmal vermisse ich dich nicht mehr. Auf einmal bist du einfach nur noch eine Stadt. Denn ich bin umgezogen und habe ein Zuhause bei mir selbst gefunden. Dort ist es ruhig, warm und friedlich und ich brauche dich nicht mehr. Du kannst mir nichts mehr geben, ich will deinen kopfausschaltenden Wahnsinn und deinen ruhelosen Hunger nach mehr nicht mehr, denn ich habe schon alles, was ich brauche. Ich habe jetzt mich.

Ich will ehrlich zu dir sein – Unsere Zeit ist gekommen, so wie jede Zeit kommt. Ich sehe dir mit warmen Erinnerungen hinterher und weiß, dass dir mein Verlust nicht wehtun wird. Wahrscheinlich bemerkst du ihn nicht einmal. Denn während ich dir noch zum Abschied winke machst du dich schon mit einer anderen suchenden Seele auf in die Nacht.

 

Hallo @hesa,
ich hab den gerne gelesen, deinen Abschiedsbrief an Berlin (inkl. Abrechnung). Dieses Herauswachsen aus einer Beziehung und die einhergehenden Emotionen hast du treffend geschildert, wenn auch für meinen Geschmack etwas kurz. Was zu einer Kurzgeschichte noch fehlen würde, ist vor allem eine Handlung. Wie kam es zu dieser Abkehr, weshalb ist die einstige Liebe verblasst? Zeig uns diese Entwicklung szenisch oder anhand von Dialogen und lass mich als Leser das miterleben. Da geht noch was.
Peace, linktofink

 

Hallo @linktofink,

danke für Dein Feedback! Das mit dem besseren Aufbau der Szene ist ein guter Hinweis. Vielleicht muss das Ende spezifischer sein. Ich mache mir da mal Gedanken und schreibe noch ein bisschen um. :) Danke!

 

Ein Text mit Herz(blut)!

Hola @hesa,
die Art, wie Du schreibst, spricht mich an. Bedacht statt flach und oberflächlich, angenehm und ausgereift; und ein bisschen Herzziehen, durchs Älterwerden nicht etwa nachlassend – nur die Richtung verändernd.
Was Dir linktofink geschrieben hat, ist auch aus meiner Sicht völlig in Ordnung, doch ich bin vielleicht weniger anspruchsvoll. Na klar – Luft nach oben ist immer, dennoch empfand ich kein Manko bei Deinem Thema. Mir gefiel, wie Du als fairer Kumpel Berlin, aber auch Dich selbst zeichnest, die guten wie auch die weniger guten Seiten. Es ist das Reflektieren, was einen Menschen groß macht und reif. Und die Entwicklung eines jungen Menschen nachzuzeichnen, ist mMn ausreichend Stoff für eine Kurzgeschichte. Mir hat der Text besonders viel gegeben, weil ich ein ähnliches Verhältnis mit einer anderen Stadt hatte. Ich finde, Du hast dieses Thema prima in Szene gesetzt.

Wenn andere Städte schliefen K hast du dich mit mir durch die Nacht gekämpft. Du wolltest nie zuerst ins Bett und hast mich machen lassen, bis ich vor Erschöpfung umgefallen bin. Dann hast du ohne mich weiter gemacht und hast mich trotzdem am nächsten Tag in alter Frische begrüßt.
Das ist ganz großartig!

Bis auf zwei, drei fehlende Kommas hab ich nichts zu meckern:

aber erst K als ich bei dir ankam K hatte ich
Wenn andere Städte schliefen K hast du dich
als ich schließlich nach dir sah K lagen
meine(n) Scheiß

Nur hier komme ich nicht zurecht, obwohl klar ist, was der Autor meint.
Einen Weg, an dessen Ende schon jemand mit offenen Armen auf mich wartete: ich.
Hat Spaß gemacht, Deinen Text zu lesen. Bist sicherlich auch im RL ein guter Kumpel.

José

 
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Hallo @hesa

Der Text hat einen guten Rhythmus, ist flüssig zu lesen und hat eine witzige Grundidee. Vielleicht ist es aber gerade diese Grundidee, die verantwortlich dafür ist, dass der Text doch ziemlich spurlos an mir vorübergezogen ist. Du verwendest ja - sehr bewusst, nehme ich an - das gängige Beziehungsvokabular, viele Floskeln, dich vermissen, bei dir ankommen, immer ein offenes Ohr, offene Arme, sich bedrängt fühlen, den Halt verlieren etc. und überträgst es auf die Beziehung zu einer Stadt.
Das Problem dabei ist, dass der Text dadurch derart allgemein bleibt, dass ich weder über Prot (hat manchmal Scheisse gebaut, sich durch die Nächte gekämpft, Ängste gehabt und am Ende die Richtung gewechselt) noch über die Stadt (hat Macken, graue Häuser und stinkt) wirklich etwas erfahre. Der Text wird dadurch zu einer Blaupause, die ich über die Beziehung zu meiner Stadt legen könnte. Aber das will ich nicht, denn meine Stadt ist konkret, sie hat einen Fluss, in dem man im Sommer schwimmen kann, im benachbarten Quartier gibt es eine Kebab-Bude, wo die Corona-Regeln locker gehandhabt werden, und diese Frau, die Tag für Tag vor dem Einkaufszentrum steht und ein Strassenmagazin mit der immer gleichen Bemerkung anpreist, es sei sehr gut geschrieben. In deinem Text erkenne ich Berlin nicht wieder, das könnte jede beliebige grössere Stadt sein, ebenso wie die Person, die spricht, nichts Besonderes an sich zu haben scheint. Ich finde schon, dass ein literarischer Text ins Universelle zielen kann, vielleicht sogar muss. Aber dieses Ziel lässt sich meines Erachtens nur über den Weg des Konkreten erreichen. Da der Text aber sehr kurz ist und aufgrund der Grundidee viele Floskeln enthält, gab es da für mein Empfinden nichts, wo ich einhaken konnte. Das Herzziehen, von dem josefelipe spricht, das hast du schon gut rübergebracht, für mich war es insgesamt aber doch zu wenig, um mich wirklich zu ergreifen.
Ich bin gespannt auf weitere Texte von dir, denn die Art, wie du schreibst - elegante Syntax, geschmeidige Sprache - gefällt mir sehr.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 
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Hallo @josefelipe,

danke für deine netten Worte! Ich habe mich ehrlich gefreut, dass du dich in meinem Text wiedergefunden und ihn gemocht hast – das hört man natürlich gerne.

Danke auch für die Hinweise zu den Kommata...da hab ich in der Eile echt ein paar unterschlagen. :)

Ich wünsche dir einen schönen Tag und frohes Schreiben, wir lesen uns sicher bald wieder!
Hesa

Hallo @Peeperkorn,

danke für Deine Nachricht und dass Du Dir die Zeit genommen hast, mir deine Gedanken dazu zu erklären. Das weiß ich zu schätzen.

Das Problem dabei ist, dass der Text dadurch derart allgemein bleibt, dass ich weder über Prot (hat manchmal Scheisse gebaut, sich duch die Nächte gekämpft, Ängste gehabt und am Ende die Richtung gewechselt) noch über die Stadt (hat Macken, graue Häuser und stinkt) wirklich etwas erfahre. Der Text wird dadurch zu einer Blaupause, die ich über die Beziehung zu meiner Stadt legen könnte.
In deinem Text erkenne ich Berlin nicht wieder, das könnte jede beliebige grössere Stadt sein, ebenso wie die Person, die spricht, nichts Besonderes an sich zu haben scheint. Ich finde schon, dass ein literarischer Text ins Universelle zielen kann, vielleicht sogar muss. Aber dieses Ziel lässt sich meines Erachtens nur über den Weg des Konkreten erreichen.
Ich kann verstehen, dass Du Dir mehr Besonderheit in der Beschreibung der Stadt gewünscht hättest. Ich finde es gar nicht so schlimm, dass diese Schilderung auch auf andere Städte zutrifft – so können auch Leser*innen ihre Erfahrungen mit anderen Städten damit assoziieren. Ich denke aber, wenn der Text länger und nicht "nur" ein kurzer Moment der Einsicht wäre, würde es sicher Sinn machen, mehr in die Tiefe zu gehen und ein expliziteres Bild aufzubauen.

Danke für deine Rückmeldung und hab einen schönen Tag.
Wie lesen uns sicher bald.
Hesa

 

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