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Berufsrisiko
Es ist nur ein Job. Ein Job wie jeder andere. Sicher kein Allerweltsjob, aber das wäre ja auch langweilig.
Vorsichtig setze ich einen Schritt vor den anderen. Im Dunkeln glänzen die nassen Ziegel im Licht der Laternen. Das waren noch Zeiten, als man die Laternen einfach austreten konnte, durch einen gezielten Tritt gegen den Pfahl, und es war dunkel. Wenigstens für eine kurze Zeit. Gerade lange genug.
Heute geht das fast nirgends mehr. Nur nicht ausrutschen, denke ich mir. Bemooste Ziegel sind besonders glitschig. Nur niemals die Sicherung vergessen. Es geht mehrere Stockwerke in die Tiefe und am Boden wartet mitleidloser, harter Beton.
Ich hake mich mit dem Sicherungsseil an einem Geländer fest. Weit ist es nicht mehr, aber die Kletterei strengt an. Langsam geht mir die Puste aus.
Es ist immer das gleiche Spiel. Einige Meter über das nasse Dach kriechen. Innehalten, die Sicherung lösen. Ruhig liegen bleiben, abwarten ob jemand etwas gehört hat. Die Sicherung befestigen, noch einen Moment ruhig bleiben und weiter über die nassen Ziegel.
Ich muss aufpassen, dass ich mir in der Kälte der Nacht keine Grippe hole. Berufsrisiko…
Es ist nur ein Job. Andere werden Bäcker, Ärzte, Lehrer oder Metzger.
Nicht jeder kann damit leben, Tieren bei lebendigem Leib mit bloßen Händen die Kehle aufzuschlitzen und ihnen beim Ausbluten zuzusehen. Manche halten es für barbarisch und fangen an nur noch Pflanzen zu essen.
Nicht jeder kann gut mit Kindern umgehen und nicht Wenige fürchten sich vor der Jugend, die ihren sicheren Arbeitsplatz gefährdet.
Man muss seinen eigenen Platz finden, wenn man im System überstehen will. Jeder auf seine Weise.
Meinungsverschiedenheiten sind ganz natürlich, sage ich mir immer. Es gibt keine allgemein gültige Moral. Kein Gott und keine Kirche können beanspruchen, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben. Ich war schon immer der Meinung, Gesetze seien reine Willkür.
Natürlich hört man immer wieder das Klischee: Todesstrafe für Raubkopierer und Kinderschänder dürfen nach zwei Jahren guter Führung wieder als Erzieher arbeiten, aber darum ging es mir nie.
Nein, ich gehöre bestraft. Jedenfalls im Sinne des Gesetzes. Ich bin kein Fall von Ungleichbehandlung durch die Justiz. Keine gescheiterte Existenz, die das System in eine Sackgasse gedrängt hat. Ich tue das, weil ich es für richtig halte.
Das System muss mich einfach bestrafen, wenn es überleben will.
Wieder ein paar Meter näher. Die Ziegel knirschen unter meinem Gewicht. Aber ich bin fast da. Das Seil lösen. Abwarten.
Ein neuer Karabinerhaken am Geländer. Ich muss meinen Arm weit nach unten strecken, um es zu erreichen. Mit einem viel zu lauten Klicken rastet der Karabiner ein. Jetzt das Sicherungsseil. Ruhig in die Nacht lauschen. Irgendwo höre ich Autos auf einer großen Straße vorbeifahren, ganz entfernt die Sirenen eines Einsatzfahrzeuges. Kein Grund zur Beunruhigung.
Also weiter.
Meter für Meter krieche ich auf Händen und Füßen zum nächsten Balkon. Das müsste er sein. Ich löse die Sicherung. Nur noch einen Meter. Hastig klettere ich weiter.
Ein Ziegel löst sich unter meiner linken Hand und rutscht das schräge Dach herunter und gleitet über die Kante. Es fühlt sich wie eine Ewigkeit an.
Dann das laute Bersten des Ziegels auf dem Beton. Irgendwo fängt ein Hund an zu bellen. Licht. Im Nachbarshaus ist jemand aufgewacht. Ich presse meinen Körper so fest ich kann gegen das Dach. Atme ganz langsam.
Hinter einem der Vorhänge bewegt sich etwas. Das Gesicht einer Frau. Sie trägt ein Nachthemd, sieht sehr verschlafen aus. Ich kann nur warten und hoffen, dass sich meine schwarze Kleidung nicht vor dem Hintergrund abzeichnet.
Und der Hund bellt weiter.
Sie konnte wohl nichts erkennen, und das Licht ging bald wieder aus, aber der Hund bellte noch einige Minuten weiter.
Sonst mag ich Tiere. Diesen Hund kann ich auf den Tod nicht ausstehen.
Endlich ist Ruhe. Der Mond kommt hinter den Wolken hervor und leuchtet hell über der Stadt. Keine Sekunde zu früh. Ich liege wie auf dem Präsentierteller. Ich muss mich beeilen.
Direkt unter mir ist der Balkon. Langsam robbe ich näher an die Dachkante. Mit den Füßen voraus lasse ich mich herab. Ein rückwärtiger Klimmzug, bis ich mit den Füßen festen Halt auf dem Balkon habe. Das Geländer ist wackelig. Ich muss mich weiter herunter lassen. Durch die Glastür sehe ich schon im Dunkeln den Schreibtisch, wo die Unterlagen liegen müssen. Ein Kinderspiel, wenn man schon so lange dabei ist, wie ich.
Noch ein kleines Stückchen weiter nach unten. Nur noch ein bisschen.
Plötzlich spüre ich, wie das Dach über mir nachgibt und versuche um zu greifen. Ein Ziegel rutscht heraus. Ein weiterer folgt. Der Lärm ist mir jetzt egal. Irgendwie muss ich mich wieder hoch ziehen. Wie ein kleines Kind klammere ich mich an die Regenrinne. Kratze an den Dachziegeln nach einem halt. Meine Kraft lässt nach. Ich rutsche ab. Eine dumme Unachtsamkeit. So etwas darf mir einfach nicht passieren.
Wenigstens habe ich die Sicherung, denke ich.
Enge Straßen, Backsteinfassaden, hier und da ein paar Bäume, eine Vorstadtlandschaft eben. Berlin-Zehlendorf. Hier wurde ich geboren. Das kleine Einfamilienhaus, in dem ich gewohnt und in dessen Garten ich als Kind mit Sven und Peter fangen gespielt hatte.
Ich erinnere mich an einen Urlaub an der Nordsee mit meinen Eltern. Ich schmecke den salzigen Geschmack auf meinen Lippen, höre die Brandung des Meeres, als würde ich im Sand liegen und die Vögel über sich Kreisen sehen.
Segeln. Mit einem kleinen Segelboot mit einer Steifen Brise im Meer segeln. Es ist die Essenz der Freiheit.
Ich kann die Aula des Droste-Hülshoff-Gymnasiums vor mir sehen. Was wir den Lehrern da nicht alles für Streiche gespielt haben. Bei den wirklich schlimmen Sachen haben wir mich nie erwischen lassen. Damals waren Peter und Sven auch noch für jeden Spaß zu haben gewesen. Einmal waren wir nachts durch ein offen gelassenes Fenster in die Schule gestiegen und haben das ganze Lehrerzimmer verwüstet. Ich hatte nie wieder so einen Spaß in meinem Leben.
Und natürlich ist da Klara. Ihr langes blondes Haar wehte im Wind. Ich liebte ihr fröhliches Lächeln, ihr verrücktes, lebenslustiges Wesen.
Wir saßen fast jedes Wochenende zusammen am Baggersee und alberten rum, lagen auf einer großen, flauschigen Decke in der Sonne und entspannten uns vom Stress der Schule.
Ich habe sie wirklich geliebt.
Irgendwann ist es auseinander gegangen. Ich weiß, nicht wieso. Wir haben uns einfach entwickelt.
Damals war ich sechzehn. Ich wollte alles versuchen, alles probieren. Ich brauchte den Nervenkitzel. Nachts, bei Freunden durch ein Fenster ins Haus klettern und sie mit einem Sixpack Bier im Schlepptau zu wecken. Die verschlafenen Gesichter, ein Anblick für die Götter.
Irgendwann wagte ich mich an fremde Häuser. Das herum kraxeln war sehr anstrengend, aber ich wurde immer besser.
Auf der Abi-Feier bekam ich eine Auszeichnung. Die Nacht danach wurde zu einem der größten Gelage meines Lebens.
Und da ist meine Studentenwohnung, in der ich immer noch wohne. Unaufgeräumt, chaotisch, spärlich eingerichtet, bis auf den neuen Flachbildfernseher, den ich mir eigentlich gar nicht leisten kann. Als Student ist man nun mal arm. Nur deshalb begann ich mein Hobby zum Beruf zu machen.
Tony, ein dürrer Mann, mit kantigem Gesicht und Halbglatze. Er hat mir irgendwann meine ersten lukrativen Aufträge verschafft. Vorwiegend Industriespionage, aber das stört mich nicht. Das gehört auch dazu. Es gefällt mir nicht, aber es muss mir ja auch nicht gefallen. Das wird von niemandem erwartet.
Vor kurzem habe ich mich mit Peter und Sven auf einen Kaffee wieder getroffen.
Peter arbeitet jetzt in einem Chemielabor, Sven ist Journalist. Als ich ihnen erzählte, was ich mache, hielten sie mich für verrückt. Ich erklärte ihnen, dass es ums Prinzip ginge:
„Kein Mensch hat das Recht eine Haustür zu verschließen. Kein Mensch hat das Recht Geld zu besitzen.
Der erste Mensch, der einen Zaun um seinen Garten zieht ist Schuld am Krieg. Schuld daran, dass Menschen verhungern, währende wir hinter der Grenze im Überfluss leben. Einbrechen ist nur natürlich. Es basiert auf Grundbedürfnissen der Menschen. Ich tue nur das, was jeder selbst tun müsste.“
Sie wollten es nicht verstehen.
„Es kann nicht funktionieren, so wie du es dir vorstellst“, meinte Sven. „Menschen sind eben schlecht und selbstsüchtig. Du bist das beste Beispiel.“
„Hast du eigentlich überhaupt kein Rechtsverständnis?“, fragte Peter.
Vielleicht habe ich das nicht. Vielleicht doch. Wer kann das sagen?
Letzte Woche habe ich in der Stadt eine Frau angerempelt. Sie hatte rotbraunes langes Haar. Sie sah nicht schlecht aus, wenn auch nicht besonders. Sie war jung. Vermutlich eine Studentin. Das besondere lag in ihren Augen. Sie leuchteten förmlich. Ich konnte meinen Blick nicht von ihr lassen. Eine Weile stand ich da, ohne ein Wort zu sagen, bis sie in der Menschenmenge verschwand. Ich wünschte, ich hätte sie angesprochen. Es war ein unglaublich magischer Moment. Ich weiß nicht, warum ich gerade jetzt daran denke. Wahrscheinlich, weil Tony mir an dem Tag einen neuen Job gegeben hatte. Dokumente für eine neue, effizientere Antriebstechnik. Er hat mir viel Geld versprochen.
Meter für Meter kroch ich auf Händen und Füßen zum nächsten Balkon. Das müsste er sein. Dort würden mich die Dokumente erwarten, die Tony wollte. Ich löste die Sicherung. Nur noch einen Meter. Hastig kletterte ich weiter. Langsam robbte ich näher an die Dachkante. Mit den Füßen voraus ließ ich mich herab. Ein Ziegel rutschte heraus. Ein weiterer folgte. Meine Kraft ließ nach. Ich rutschte ab. Eine dumme Unachtsamkeit. So etwas durfte mir einfach nicht passieren.
Hatte ich an die Sicherung gedacht?
An dem Abend saßen Sven, Peter und ich noch eine Weile in einer Bar und plauderten. „Es ist schwierig mit dem Tod eines Menschen umzugehen“, meinte Sven. Seine Mutter war vor kurzem gestorben: „Aber mit dem Tod ist es nicht vorbei. Es gibt vieles was man heute nicht verstehen kann. Nahtoderfahrungen zum Beispiel.
Und es heißt, dass kurz bevor du stirbst dein Leben noch einmal an dir vorbei zieht.“
Ich erwarte den schmerzhaften Ruck der Sicherung um meinen Körper. Warte.
Und falle.