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Beschützer
Er setzt mich vor der Schule ab und sagt, das wars.
Sagt, für die nächsten sechs Stunden ist er mich los, das nervige Ding. Die ätzende kleine Schwester, die immer den falschen Fernsehsender sehen will, zur falschen Imbissbude gehen möchte.
Die Schwester, die selbst mit fünfzehn noch klein ist und mit zwanzig noch klein sein wird.
Mit dem alten Volkswagen, den unsere Eltern uns netterweise zurück gelassen haben, rollt er davon und ich weiß, dass ich mir nur einbilde, durch die schwarzen Auspuffgase erkennen zu können, dass er zurückblickt.
Die Mädchen aus meiner Klasse mögen die Jungs aus meiner Klasse. Ich kann nicht verstehen, wie man sich angezogen fühlen kann von Körpern nur aus Haut und Knochen, die sich doch so wenig von dem eigenen unterscheiden.
»Kommst du heute Abend?«, fragt mich Sandra, die wohl so etwas ähnliches ist, wie eine Freundin und erinnert mich daran, dass heute Freitag ist.
»Nein«, sage ich und denke an das eine Wort heute Morgen, etwas undeutlich durch das Müsli in seinem Mund. »Familienabend.«
Dass er alles ist, was von dieser noch übrig ist, weiß Sandra, verliert aber kein Wort darüber.
Manchmal bringt er Mädchen mit nach Hause.
Mir verbietet er dasselbe mit Jungs. Du bist zu jung, sagt er. Du bist noch ein Kind. Doch ich weiß, dass nicht das der Grund ist.
Wenn sie hier sind, die jungen Dinger, kaum älter als ich, doch mit all dem Make-up und Parfüm so viel älter wirkend, ist er anders. Ist er grob, befiehlt mir Dinge, weil er denkt, es tun zu müssen. Er ist der Ältere. Er ist der Mann im Haus, seit wir beide die einzigen darin sind.
Wenn sie hier sind, vergisst er abzuspülen. Wenn sie übernachten, vergisst er, mich zur Schule zu fahren. Wenn ich nach Hause komme, sitzen sie in seinem Bademantel auf unserer Couch und er vergisst das Mittagessen. Da vergisst er einfach alles.
Er leiht die Horrorfilme mit Absicht aus. Er denkt, ich habe Angst. Und ich tue so, als ob. Damit er sich wohler fühlt.
Ich hocke im Schneidersitz auf der Couch und mein Knie berührt seinen Oberschenkel und die Geräusche unserer Jeans, die aneinander reiben, sind selbst im Gekreische der Fernsehteenager zu hören. Und jedes Mal, wenn die Musik und auch die Spannung ihren Höhepunkt erreicht, rücke ich etwas näher. Klammere mich an seinen Oberarm und rieche seinen Schweiß, den das Deodorant nicht überdeckt, sondern unterstreicht.
Und er sagt: »Feigling.« Tätschelt mir die Wange, während ich seinen Puls fühle.
Es gibt sie nicht, die Tage, an denen ich mich schuldig fühle, weil ich an das schwarze, weiche Haar denke, das bei ihm und mir in Form einer Linie vom Bauchnabel bis zur Schamgegend wächst. An das Muttermal hinter seinem rechten Ohr. Die Narbe auf seinem Handrücken, die ich ihm mit zehn Jahren in einem Streit um eine Nebensächlichkeit zugefügt habe.
Ich greife in einen der obersten Schränke, um Zucker hervor zu holen, und fühle, wie mein T-Shirt über den Bund meiner Jeans rutscht. Ich muss mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass er mich ansieht.
Ich höre Schritte und das Quietschen der Küchentür.
Für ihn gibt es sie, diese Tage.
Sie soll die letzte sein, die er mit nach Hause bringt.
Als Beweis setzt er sie auf das Sofa neben mich, hält mir ihre beringte Hand vor die Augen und lehnt sich selbst gegen die Armlehne.
»Wir werden heiraten«, sagt er und seine Worte sind nur für mich bestimmt. »Ich liebe sie.«
Nein, will ich sagen. Tust du nicht. Aber ich bin still.
»Wir werden uns gut verstehen«, sagt die Frau, die sich zwischen uns drängen will, obwohl ich noch kein Wort mit ihr gesprochen habe.
»Da bin ich mir sicher«, und sie schenkt Bernhard ein Lächeln.
Ich kann nicht schlafen. Denke die ganze Zeit über an seine Versprechen. »Nur wir beide noch«, als wir aufstanden, und nichts von unseren Eltern als Erinnerung übrig geblieben war. Selbst die Fotos hatten sie mitgenommen.
»Du bist das Einzige, was ich noch habe«, als er arbeitslos blieb, wenn man von gelegentlichem Einspringen auf dem Bau absah.
»Kleine Schwester. Kleine süße Schwester«, letzte Woche, während des Abwaschens, zwischen umher fliegenden Schaumflocken.
Ich stehe auf und gehe die paar Meter durch das kleine Haus ins Wohnzimmer. Sehe unter der Tür das Flimmern des Fernsehers.
Ich öffne sie einen Spalt. Er ist allein, starrt auf den Bildschirm, ohne der Handlung zu folgen.
»Hey«, sage ich und setze mich neben ihn.
»Hey.«
Nach einigen Augenblicken des Schweigens, beginne ich: »Ist das ein Scherz?«
»Was meinst du?«
»Die Hochzeit.«
»Nein.« Und ich erinnere mich an letzten Monat, als noch ein anderes Mädchen hier geschlafen hat. »Ich liebe sie.« Ich weiß, dass es nicht stimmt.
Ich möchte nicht weinen. Will nicht mehr die kleine Schwester sein, will eine Frau sein.
»Ich dachte, ich wäre die Einzige.«
»Die Einzige was?«
»Nun ja, alles eben.«
Er sieht mich noch immer nicht an.
»Wie lange kennst du sie?«
»Ist das wichtig?«
»Noch nicht lange, oder?«
Er seufzt und wechselt den Kanal. »Ich liebe sie.«
»Das sagtest du bereits.«
Er setzt sich auf und rutscht an das andere Ende der Couch, weg von mir. »Hör zu. Ich …«
»Du kannst mich nicht einfach beiseite schieben. Ich bin deine Schwester.«
»Ganz genau.«
Er setzt mich vor der Schule ab und sagt, das wars.
Sagt, für immer bin ich ihn los. Den heuchlerischen großen Bruder, der mein Leben durcheinander bringt. Bin die Schmerzen los, die er in mir verursacht. Das Tauziehen der Gefühle.
»Kein Hin und Her. Ich weiß, was ich will.« Es ist alles so eindeutig.
Der Bruder, der selbst als der Verlierer, der er ist, immer der Beste sein wird. Der Schönste, der Beschützer.
Mit dem alten Volkswagen, den unsere Eltern uns netterweise zurück gelassen haben, rollt er davon und ich weiß, dass ich mir nicht nur einbilde, durch die schwarzen Auspuffgase erkennen zu können, dass er zurückblickt.
© Tamira Samir