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Beschützer

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09.05.2004
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Beschützer

Er setzt mich vor der Schule ab und sagt, das wars.
Sagt, für die nächsten sechs Stunden ist er mich los, das nervige Ding. Die ätzende kleine Schwester, die immer den falschen Fernsehsender sehen will, zur falschen Imbissbude gehen möchte.
Die Schwester, die selbst mit fünfzehn noch klein ist und mit zwanzig noch klein sein wird.
Mit dem alten Volkswagen, den unsere Eltern uns netterweise zurück gelassen haben, rollt er davon und ich weiß, dass ich mir nur einbilde, durch die schwarzen Auspuffgase erkennen zu können, dass er zurückblickt.

Die Mädchen aus meiner Klasse mögen die Jungs aus meiner Klasse. Ich kann nicht verstehen, wie man sich angezogen fühlen kann von Körpern nur aus Haut und Knochen, die sich doch so wenig von dem eigenen unterscheiden.
»Kommst du heute Abend?«, fragt mich Sandra, die wohl so etwas ähnliches ist, wie eine Freundin und erinnert mich daran, dass heute Freitag ist.
»Nein«, sage ich und denke an das eine Wort heute Morgen, etwas undeutlich durch das Müsli in seinem Mund. »Familienabend.«
Dass er alles ist, was von dieser noch übrig ist, weiß Sandra, verliert aber kein Wort darüber.

Manchmal bringt er Mädchen mit nach Hause.
Mir verbietet er dasselbe mit Jungs. Du bist zu jung, sagt er. Du bist noch ein Kind. Doch ich weiß, dass nicht das der Grund ist.
Wenn sie hier sind, die jungen Dinger, kaum älter als ich, doch mit all dem Make-up und Parfüm so viel älter wirkend, ist er anders. Ist er grob, befiehlt mir Dinge, weil er denkt, es tun zu müssen. Er ist der Ältere. Er ist der Mann im Haus, seit wir beide die einzigen darin sind.
Wenn sie hier sind, vergisst er abzuspülen. Wenn sie übernachten, vergisst er, mich zur Schule zu fahren. Wenn ich nach Hause komme, sitzen sie in seinem Bademantel auf unserer Couch und er vergisst das Mittagessen. Da vergisst er einfach alles.

Er leiht die Horrorfilme mit Absicht aus. Er denkt, ich habe Angst. Und ich tue so, als ob. Damit er sich wohler fühlt.
Ich hocke im Schneidersitz auf der Couch und mein Knie berührt seinen Oberschenkel und die Geräusche unserer Jeans, die aneinander reiben, sind selbst im Gekreische der Fernsehteenager zu hören. Und jedes Mal, wenn die Musik und auch die Spannung ihren Höhepunkt erreicht, rücke ich etwas näher. Klammere mich an seinen Oberarm und rieche seinen Schweiß, den das Deodorant nicht überdeckt, sondern unterstreicht.
Und er sagt: »Feigling.« Tätschelt mir die Wange, während ich seinen Puls fühle.

Es gibt sie nicht, die Tage, an denen ich mich schuldig fühle, weil ich an das schwarze, weiche Haar denke, das bei ihm und mir in Form einer Linie vom Bauchnabel bis zur Schamgegend wächst. An das Muttermal hinter seinem rechten Ohr. Die Narbe auf seinem Handrücken, die ich ihm mit zehn Jahren in einem Streit um eine Nebensächlichkeit zugefügt habe.
Ich greife in einen der obersten Schränke, um Zucker hervor zu holen, und fühle, wie mein T-Shirt über den Bund meiner Jeans rutscht. Ich muss mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass er mich ansieht.
Ich höre Schritte und das Quietschen der Küchentür.
Für ihn gibt es sie, diese Tage.

Sie soll die letzte sein, die er mit nach Hause bringt.
Als Beweis setzt er sie auf das Sofa neben mich, hält mir ihre beringte Hand vor die Augen und lehnt sich selbst gegen die Armlehne.
»Wir werden heiraten«, sagt er und seine Worte sind nur für mich bestimmt. »Ich liebe sie.«
Nein, will ich sagen. Tust du nicht. Aber ich bin still.
»Wir werden uns gut verstehen«, sagt die Frau, die sich zwischen uns drängen will, obwohl ich noch kein Wort mit ihr gesprochen habe.
»Da bin ich mir sicher«, und sie schenkt Bernhard ein Lächeln.

Ich kann nicht schlafen. Denke die ganze Zeit über an seine Versprechen. »Nur wir beide noch«, als wir aufstanden, und nichts von unseren Eltern als Erinnerung übrig geblieben war. Selbst die Fotos hatten sie mitgenommen.
»Du bist das Einzige, was ich noch habe«, als er arbeitslos blieb, wenn man von gelegentlichem Einspringen auf dem Bau absah.
»Kleine Schwester. Kleine süße Schwester«, letzte Woche, während des Abwaschens, zwischen umher fliegenden Schaumflocken.
Ich stehe auf und gehe die paar Meter durch das kleine Haus ins Wohnzimmer. Sehe unter der Tür das Flimmern des Fernsehers.
Ich öffne sie einen Spalt. Er ist allein, starrt auf den Bildschirm, ohne der Handlung zu folgen.
»Hey«, sage ich und setze mich neben ihn.
»Hey.«
Nach einigen Augenblicken des Schweigens, beginne ich: »Ist das ein Scherz?«
»Was meinst du?«
»Die Hochzeit.«
»Nein.« Und ich erinnere mich an letzten Monat, als noch ein anderes Mädchen hier geschlafen hat. »Ich liebe sie.« Ich weiß, dass es nicht stimmt.
Ich möchte nicht weinen. Will nicht mehr die kleine Schwester sein, will eine Frau sein.
»Ich dachte, ich wäre die Einzige.«
»Die Einzige was?«
»Nun ja, alles eben.«
Er sieht mich noch immer nicht an.
»Wie lange kennst du sie?«
»Ist das wichtig?«
»Noch nicht lange, oder?«
Er seufzt und wechselt den Kanal. »Ich liebe sie.«
»Das sagtest du bereits.«
Er setzt sich auf und rutscht an das andere Ende der Couch, weg von mir. »Hör zu. Ich …«
»Du kannst mich nicht einfach beiseite schieben. Ich bin deine Schwester.«
»Ganz genau.«

Er setzt mich vor der Schule ab und sagt, das wars.
Sagt, für immer bin ich ihn los. Den heuchlerischen großen Bruder, der mein Leben durcheinander bringt. Bin die Schmerzen los, die er in mir verursacht. Das Tauziehen der Gefühle.
»Kein Hin und Her. Ich weiß, was ich will.« Es ist alles so eindeutig.
Der Bruder, der selbst als der Verlierer, der er ist, immer der Beste sein wird. Der Schönste, der Beschützer.
Mit dem alten Volkswagen, den unsere Eltern uns netterweise zurück gelassen haben, rollt er davon und ich weiß, dass ich mir nicht nur einbilde, durch die schwarzen Auspuffgase erkennen zu können, dass er zurückblickt.


© Tamira Samir

 

Hi Bernadette und der Andere? :D

Danke fürs Lesen, loben und Aufzeigen der (viel zu vielen) Fehler.


Kleinkram:

Zitat von bernadette: Wie Hänsel und Gretel: Die bösen Eltern lassen sie einfach alleine. Hört sich schon hanebüchen an , ein tödlicher Unfall wäre sinniger.
Nunja, hier bleibe ich bei meiner Version, da der Verlust der Eltern durch einen tödlichen Unfall anders wäre, als das Im-Stich-Lassen von ihnen. *stur*
:)
Zitat von der_Andere:
Mir hat die Story sehr gefallen obwohl es wirklich nicht im geringsten das ist was ich normalerweise lese.
Hey, ich ja auch nicht. *g*

Zitat von der_Andere: Hier scheint sich mir in der Bruder, Schwester Beziehung eine Art von sexueller Spannung aufzubauen, interessant wäre ob du das bewusst erreichen wolltest oder ob das etwas ist was sich beim Schreiben entwickelt hat.
Nun ja, bei einer so kurzen Geschichte weiß ich meist, worüber ich schreibe. Eigentlich wollte ich ein wenig mehr "In die Vollen gehen", allerdings passte es einfach nicht. (Zudem wäre es mir schwer gefallen, über mehr zu schreiben ;) ). Allerdings war die sexuelle Spannung beabsichtigt: Der Leser sollte nicht das Gefühl haben, sie sei in ihn verknallt. Er sollte wissen, dass sie sich zu ihm und er sich zu ihr hingezogen fühlt. Sexuell.

Zitat von der_Andere: Auch hier frage ich mich ob sich die Schwester einbildet das er ihr "ihretwegen" (mir fällt kein besserer Begriff ein um zu beschreiben was ich denke) verbietet Jungs mit nach Hause zu bringen, oder ob es vieleicht sogar so ist.
Ich hab mir hierüber eigentlich nicht sonderlich Gedanken gemacht. Aber ich glaube, dass ich damit sagen wollte (jaja, klingt blöd *g*), dass er es tatsächlich nicht möchte, dass sie sich bereits mit Jungs trifft. Ob es daran liegt, dass er die Rolle des Vaters übernimmt oder daran, dass er es nicht sonderlich prickelnd findet, sie mit jemand anderen zu sehen, weiß ich ehrlich gesagt nicht. *g*

Zitat von der_Andere: Alles in allem eine sehr gelungene Geschichte die eine, melancholische, vieleicht sogar schon depressive Stimmung aufbaut und den Leser (zumindest mich) mit einem mulmigen Gefühl im Magen zurücklässt.
Juhu! *g*

Zitat von der_Andere: P.S.: ich bin mir nur nicht sicher ob ich diese Geschichte unter "Romantik/Erotik" eingeordnet hätte
Da bist du nicht der Erste, allerdings denke ich, dass die Geschichte am Ehersten hierher passt. Die Anziehung der beiden liegt im Vordergrund, nicht ihre Verwantschaft.


Vielen Dank ihr beiden und liebe Grüße
Tama

 

Mir gefällt der Titel eigentlich sehr gut :)

Ebenso die Geschichte - die ist schön 'rund' wie schon jemand sagte - die Logikfragen die angesprochen wurden kamen mir nicht in den Sinn - komisch ich hinterfrage sonst alles :)

Sorry kurzer Kommentar - muss den Laden abschließen.

jaddi

 

Hi Jadzia!

Vielen Dank fürs Lesen und Antworten. Schön, wenn es gefallen konnte. :)


Liebe Grüße,
Tamira

 

Hallo tamira,
die Geschichte hat mich sehr berührt. Das Band zwischen Bruder und Schwester ist nicht "richtig", fühlt sich einfach falsch an, der Bruder gezwungen wird mehr als nur ein Bruder zu sein, die Schwester gezwungen ist in ihren Bruder den Erzieher anzuerkennen.

Ich denke, das der Bruder der Stärkere ist, weil er weiß, wie falsch ihre Beziehung ist. Mir tut die Verlobte leid. Sie wird eigentlich nur vom Bruder benutzt.

Kleinigkeit:

Dass er alles ist, was von dieser noch übrig ist, weiß Sandra, verliert aber kein Wort darüber.
Diesen Satz verstehe ich nicht. :(
Lieben Gruß, Goldene Dame

 

Hallo Tamira,

im Rahmen von Copywrite habe ich zunächst deine Geschichte gelesen. Sie hat mir gefallen. Was da so mitschwingt, zwischen Bruder und Schwester ... gut beschrieben.

Seltsam, dass sie beide diesen Streifen Haare wie Robbie Williams haben. Na ja, ich bin sicher die einzige, die daran denken musste. *g*

Gruß, Elisha

 

Hi und vielen Dank euch beiden fürs Lesen, Ausgraben und Kommentieren.


Goldene Dame:
Wir begnen uns zur Zeit ja überall. ;)

die Geschichte hat mich sehr berührt. Das Band zwischen Bruder und Schwester ist nicht "richtig", fühlt sich einfach falsch an, der Bruder gezwungen wird mehr als nur ein Bruder zu sein, die Schwester gezwungen ist in ihren Bruder den Erzieher anzuerkennen.
Dass ich dich berühren konnte, freut mich sehr. Ist ja auch der Sinn von romantischen Geschichten. :)

Kleinigkeit:
Zitat:
Dass er alles ist, was von dieser noch übrig ist, weiß Sandra, verliert aber kein Wort darüber.
Diesen Satz verstehe ich nicht.
Naja, ich finde das Wort Familienabend in Betracht, dass nur noch die beiden Geschwister davon übrig sind, irgendwie unpassend. Familienabende verbindet man ja meist mit Eltern.

Elisha:

im Rahmen von Copywrite habe ich zunächst deine Geschichte gelesen. Sie hat mir gefallen. Was da so mitschwingt, zwischen Bruder und Schwester ... gut beschrieben.
Das hört man doch gern.
Seltsam, dass sie beide diesen Streifen Haare wie Robbie Williams haben. Na ja, ich bin sicher die einzige, die daran denken musste. *g*
hehe, also, ich schwöre dir, an Robbie Williams habe ich nicht gedacht. ;)
Aber es gibt ja noch mehr Leute, die das haben. :D

Vielen Dank nochmal! Und freut mich, wenn es euch gefallen konnte.


Liebe Grüße
Tamira

 

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