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Besser einen klaren Kopf als ein vernebeltes Herz

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16.06.2006
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Besser einen klaren Kopf als ein vernebeltes Herz

„Hallo Chiara! Schön, dass du anrufst! Könntest du mir bitte behilflich sein? Ich kriege das alles hier nicht mehr auf die Reihe!“ Kirsten klang am Telefon wirklich verzweifelt. Sie und ihr Freund David zogen in ihre erste gemeinsame Wohnung um, und meine beste Freundin schien dabei ziemlich ins Schleudern zu geraten.
„Wie weit seid ihr denn schon?“, fragte ich.
„Also, David und Mario räumen gerade das Wohnzimmer ein. Ich muss den beiden was zu essen machen, aber auch gleichzeitig die Umzugskartons ausräumen. Kommst du bitte vorbei?“
„Klar, ich bin gleich da. Ich frage Leon, ob er auch mitkommt. Dann kann er David und Mario ja noch helfen.“
„Das wäre wirklich super von euch! Wir können jede helfende Hand gebrauchen!“
Mit einem Lächeln legte ich auf. Kirsten schien sehr erleichtert, und für mich war es wirklich kein Problem, zu den beiden rüber zu fahren und ihnen beim Umzug zu helfen. Obwohl es für mich auch schon weniger schöne Moment in der Vergangenheit gegeben hatte, die mit Kirsten und David zusammenhingen.
Zwölf Jahre lang waren Kirsten und ich beste Freundinnen gewesen, wir hatten uns in der Realschule kennen gelernt. Von Anfang an wurden wir abgestempelt: sie die Schöne und ich die Kluge. Trotz unserer unterschiedlichen Persönlichkeiten hielten wir zusammen wie Pech und Schwefel.
Bis David in unser Leben trat.
Genaugenommen trat er erst in meines. Angetrunken, genau wie ich, auf der achtzehnten Geburtstagsfeier eines Freundes. Wir landeten gemeinsam im Bett, und zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Sex ,mit einem attraktiven jungen Mann, in den ich mich auch Hals über Kopf verliebte. Doch dass das nur einseitig war, mußte ich wohl oder übel schon am nächsten Morgen erfahren. David erklärte mir, dass solche Ausrutscher eigentlich nicht sein Ding wären, und dass er das ganze wohl auf den Alkohol schieben mußte. Allerdings blieben wir gute Freunde. Sehr gute Freunde sogar, und so kam es auch zwangsläufig dazu, dass Kirsten und David sich irgendwann kennenlernten. Mit blutendem Herzen mußte ich zusehen, wie die beiden sich ernsthaft ineinander verliebten und ein glückliches Paar wurden.
Ich zog mich für eine Weile zurück, weil ich diesen Anblick und die Tatsache, dass meine beste Freundin mit dem Mann zusammengekommen war, an den ich -allerdings heimlich- mein Herz verloren hatte, nicht ertragen konnte.
Ein Jahr später lernte ich Leon kennen. Fünf Jahre älter als ich, das ganze Gegenteil von David. Er tauchte eines Tages in meiner Buchhandlung auf, und noch am gleichen Abend gingen wir gemeinsam essen. Mit der Zeit lernten wir uns kennen und lieben, und durch ihn fasste ich endlich Mut, Kirsten und David wieder zu treffen. Zu meiner Überraschung war alles ganz einfach, völlig normal. Durch meine Beziehung mit dem ruhigen und bodenständigen Leon schien alles vergessen. Die Wunde war verheilt, und das war gut so.
Mittlerweile sind David und Kirsten schon sechs Jahre glücklich und bezogen nun endlich ihr erstes gemeinsames Heim.
Nachdem ich Leon abgeholt hatte, machten wir uns auf den Weg, und eine halbe Stunde später trafen wir an der kleinen Wohnung im dritten Stock ein. Kirsten schob Leon ins Wohnzimmer.
„Tut mir leid, dass ich dich gleich einspannen muss, aber wenn du David und Mario nicht gleich hilfst, bringen die sich noch um, so umständlich, wie die den Schrank schleppen!“
Tatsächlich, David und Mario balancierten das Oberteil des Wohnzimmerschrankes ziemlich gefährlich durchs Zimmer. Sie waren so sehr damit beschäftigt, dass sie Leon und mich gar nicht bemerkten.
„Kann ich euch irgendwie helfen?“, fragte Leon unvermittelt.
Mario schien in seiner Konzentration wohl so erschrocken über den Ausspruch des unerwarteten Besuchs, dass er mit der linken Hand am Türrahmen aneckte, und ihm vor Schmerz der Schrank wegrutschte, er ihn aber gerade noch mal auffangen konnte.
„Hey Mario! Bist du blöde, oder was?“, motzte David mehr erschrocken als sauer los.
„Hör auf zu meckern! Sonst kannst du deinen Mist hier alleine machen!“ , setzte Mario sich zur Wehr.
„Hast du dir wehgetan?“, fragte Leon Mario, denn er sah, dass Davids jüngerer Bruder an der Hand blutete.
„Kann schon sein!“, murmelte Mario, setzte den Schrank aber trotzdem nicht ab.
„Typisch mein kleiner Bruder!“ David schien gereizt.
„Hey David! Was soll denn das? Beherrsch’ dich mal! Mario hat sich verletzt!“, schaltete ich mich ein, obwohl ich alles nur von einiger Entfernung aus der Küche mitbekommen hatte. In meine Augen war David zu weit gegangen, und Mario tat mir leid. Leon löste das Problem. „Geh damit mal lieber zu den Mädchen in die Küche und lass dich verarzten. Ich helfe David beim Tragen.“
„Danke!“, sagte Mario erleichtert und übergab Leon seine Seite des Schrankes.
Mario kam zu uns in die Küche, wo Kirsten gerade ein paar Butterbrote machte und ich schon die Umzugskartons nach Verbandszeug durchkramte. Mario blutete wirklich ziemlich stark aus einer Wunde auf der Handfläche, wo er sich die scharfe Kante des Schrankes in die Hand gerammt hatte.
„Kümmerst du dich bitte um ihn, Chiara? Ich bringe David und Leon schon mal die erste Ladung Futter. Mein Schatz ist schon gereizt genug!“ Schon war Kirsten durch die noch offene Tür zum Wohnzimmer gerauscht und schloss sie hinter sich.
„Spül die Wunde erst einmal aus, und dann setzt du dich an den Küchentisch.“
„Zu Befehl!“, grinste Mario frech.
„Was?“, fragte ich verwirrt und sah ihn zum ersten Mal richtig an. Mario lehnte grinsend an der Spüle und hielt seine Hand unter den laufenden Wasserhahn.
„Du bist der Boss! Ich mache alles, was du willst!“
„Ha ha! Sehr witzig! Jetzt verarsch mich noch! Mach nur so weiter, dann kannst du sehen, wer dir die Hand verbindet!“
Aber anstatt mit der Zankerei aufzuhören, spritzte er mich jetzt mit Wasser voll. Daraufhin warf ich den Verband nach ihm und traf ihn am Kopf.
„Oh, entschuldige, Mario! Das wollte ich nicht!“ Ich versuchte ernst zu bleiben, was mir natürlich nicht gelang. Vorsichtig ging ich einen Schritt zurück.
„Na warte, jetzt gibt’s Rache!“
„Nein, Mario! Warte! Nicht! Erst verbinde ich dich, und dann darfst du von mir aus Rache nehmen, ja? Sonst versaust du die schöne neue Küche noch mit Blut!“
„Okay, einverstanden!“ Artig setzte sich Mario auf einen Stuhl und hielt mir seine Hand entgegen, nachdem ich mich vor ihn auf den Boden gekniet hatte. Vorsichtig wickelte ich den Verband um seine Hand und befestigte das ganze mit einem Pflaster.
„Darf ich mich jetzt rächen?“, grinste Mario und sah sich mit seinen grün-braunen Augen an. Mit den gleichen Augen wie sein Bruder David.
„Nein, jetzt habe ich dich verarztet und es dadurch wieder gut gemacht. Du darfst dich nicht mehr rächen. Das wäre unfair!“
„Okay, Chiara! Du heißt doch Chiara, richtig?“
Ich nickte kurz.
„Okay, dann darf ich mich aber wenigstens dafür bedanken, dass du mich vor dem Verbluten gerettet hast?“
Ich wurde unsicher und merkte auch endlich, dass ich immer noch seine verletzte Hand in meiner hielt. „Kommt drauf an, wie!“
Mario zog mich langsam zu sich und küsste mich auf den Mund. Im ersten Moment wusste ich nicht, wie ich reagieren sollte, doch dann erwiderte ich kurz seinen Kuss. „Okay, Mario! Genug bedankt! Das reicht jetzt!“
„Klar! Jetzt sind wir ja auch quitt!“ Mario stand auf, als wäre nichts gewesen, doch ich selbst konnte meine leichte Verwirrung nicht so einfach über Bord werfen.
Nacheinander betraten wir das Wohnzimmer; erst Mario, dann ich. Der Schrank stand nun da, wo er sollte, und Kirsten, David und Leon saßen auf der Couch.
„Da seid ihr ja! Wollt ihr gar nichts essen? Ich wollte euch gerade holen kommen!“, sagte Kirsten.
„Ach ja?“, erschrak ich. Ich wollte gar nicht wissen, was passiert wäre, wenn Kirsten Mario und mich bei diesem Kuss erwischt hätte.
„Tut mir leid, dass ich dich eben so angeschnauzt habe, Mario. Ich war nur so nervös. Wie geht’s deiner Hand?“, erkundigte sich David.
„Gut. Sehr gut sogar. Dank Chiara!“ Mario warf mir einen Blick zu, den ich nicht deuten konnte, der mir einen Schauer über den Rücken laufen ließ, den ich eigentlich lieber nicht gehabt hätte. Instinktiv ging ich rüber zu Leon und setzte mich neben ihn. Mario lehnte immer noch im Türrahmen und ließ mich nicht aus den Augen. Das fiel anscheinend auch David auf, denn der machte sich auf den Weg in die Küche und sagte ernst ihm Vorbeigehen: „Mario, ich brauche dich mal dringend!“
Ohne Worte folgte Mario seinem älteren Bruder in die Küche.

Den Abend verbrachten wir gemütlich. Im Juniwetter, auf der Terrasse der neuen kleinen Wohnung. David hatte den Grill angeworfen und Kirsten und ich schnell einen Nudelsalat gezaubert.
„Also, ich könnte ein Bier vertragen, was denkt ihr?“, meinte Leon und sah sein Glas Limo etwas gequält an.
„Ich bin dabei! Gehen wir los? Die Tankstelle um die Ecke hat noch auf“, erklärte David sich gleich bereit.
„Bringt mir bitte sechs Dosen Pils mit, okay?“ Mario zückte sein Portemonnaie und fischte einen Zehner raus. Als er ihn David reichte, streifte er mit den Fingerknöcheln an meinem Oberarm vorbei, und ich zuckte zusammen. Mario sah mich an. „Sorry!“ brachte er unsicher hervor. Sein nächster Blick galt David, doch der schien nichts gemerkt zu haben.
„Soll ich dir auch irgendwas mitbringen, Schatz?“ Leon strich mir übers Haar und lächelte mich lieb an.
„Nein, danke. Ich bin wunschlos glücklich. Ich frage mich nur, wie ich ohne dich leben soll, wenn du jetzt gehst!“, seufzte ich.
Leon küsste mich, bevor ich aufstand. „Reicht das, bis ich wiederkomme?“
„Dafür kann ich nicht garantieren!“
Leon grinste noch einmal und verließ dann gemeinsam mit David das Geschehen.
„Leute, ist das nicht ein geiles Wetter? Ich liebe den Sommer!“, seufzte Kirsten und lehnte sich genießerisch in ihrem Liegestuhl zurück.
„Du hast ihn schon immer geliebt! Kannst du dich noch an die Gartenparty ‘92 bei Alex Fischer erinnern? Es begann plötzlich zu regnen, und wir beide haben einen Tanz ums Feuer gemacht, um die Sonne zurückzurufen!“, kicherte ich.
„Oh Gott, ja! Das war einfach zu geil! Wir hatten einen Irrsinnsspaß!“ Kirsten schüttelte mit einem Lächeln im Gesicht den Kopf.
Mario, der zwischen uns sass, schien sich köstlich zu amüsieren. „Das hätte ich gerne gesehen. Euch beide beim Regentanz!“
„Sonnentanz, bitte!“, korrigierte ich ihn.
„Hey, ich müßte noch Fotos von der Party haben!“ Kirsten sprang unvermittelt auf und verschwand im Innern der Wohnung. Und Mario und ich waren allein.
„Hast du Leon von unserem Kuss erzählt?“ fragte er sofort.
„Nein. Warum?“
„Tust du es noch?“
„Ich weiß es nicht!“
„Bist du mir böse deswegen?“
„Ach was, nein! Wieso denn?“
„Weil es dir unangenehm ist, wenn du mit mir alleine bist.“
Erst antwortete ich gar nichts, dann fragte ich: „Wie alt bist du jetzt?“
„Achtzehn. Ich bin sechs Jahre jünger als David.“
„Du siehst deinem Bruder sehr ähnlich, als er in deinem Alter war.“
„Ich weiß. Das sagen viele. Besonders meine Eltern. Und Kirsten.“
„Deine Frisur könnte etwas strubbeliger sein.“ Ich nahm seine Kappe ab und wuschelte mit der Hand durch sein Haar. „Ja, genau! So kommt’s hin. Echt irre, diese Ähnlichkeit!“ Ich glaube, ich starrte ihn an.
„Ich habe dich früher schon mal gesehen.“ Seine Augen durchdrangen mich fast.
„Ehrlich? Wann denn?“
„Du lagst im Bett meines Bruders. Schlafend. Und nackt. Nur vage bedeckt mit einem leichten Laken. Deine roten Locken flossen dir über die Schultern. Die Sonne fiel durch das offene Fenster und setzte deinen schönen Körper in ein zauberhaftes Licht. Und ich verknallte mich Hals über Kopf in dich!“ Mario griff nach seiner selbstgedrehten Zigarette und zündete sie an. Mein Blick hing immer noch an seinen Lippen, und ich konnte erst wieder sprechen, als Mario den ersten Rauch aus seinem Mundwinkel blies. „Mario, warum sagst du sowas?“
„Weil es stimmt. Und weil ich eben was geraucht habe. Das kurbelt immer meine verborgene Poesie an!“ Er grinste und hielt mir seine Zigarette hin. „Auch mal?“
„Nein, danke! Ich rauche ja nicht mal normale Zigaretten!“, wehrte ich ab.
„Ein bisschen Gras würde dir aber mal gut tun. Dann würdest du vielleicht endlich was lockerer werden.“
„Ich will aber nicht locker werden!“, brachte ich etwas laut und aggressiv heraus.
„Warum? Hast du Angst, du könntest etwas tun, was du eigentlich willst, aber nicht darfst?“
„Hey, Kleiner! Nicht so frech! Du hast überhaupt keine Ahnung von mir! Also hör auf, solche Spekulationen anzustellen!“
„Chiara, jetzt mach mal ‘nen Punkt! Ich stelle doch keine Spekulationen an! Ich sehe, dass es dir unangenehm ist, wenn du mit mir alleine bist. Und dass das ganz allein an mir liegen soll, kann ich mir nicht vorstellen, dazu kennen wir uns doch noch viel zu wenig. Aber es bedrückt dich was, und ich wüsste gerne, was es ist, okay?“ Mario griff nach meiner Hand. Meine war kalt, seine angenehm warm. Ich weiß nicht genau, woran es lag, aber ich nahm sie dankbar an und erwiderte seinen Druck leicht. Mario lächelte aufmunternd, hob meine Hand an und küsste mich auf den Handrücken.
„Hier, ich habe die Fotos gefunden!“, platzte Kirsten in die Situation, und ich entriss vor Schreck Mario meine Hand. Kirsten sah uns beide abwechselnd an. Ich glaube, sie hatte etwas gesehen, was ihr wohl besser entgangen wäre.
„Schön, kann ich sie mal sehen?“, lenkte ich ab und wollte nach den Fotos greifen.
„Äh, ja. Natürlich. Dafür habe ich sie ja geholt.“ Kirsten rückte ihren Stuhl zwischen Mario und mich und packte die Fotos aus.

„Schatz, wollen wir langsam fahren? Ich muss morgen arbeiten“, gähnte Leon und legte den Kopf auf meine Schulter. Ich sah auf die Uhr.
„Was, schon? Es ist doch gerade mal 21.00 Uhr! Ich bin noch gar nicht müde. Und der Laden bleibt morgen eh zu!“, jammerte ich.
„Ist doch kein Problem! Dann bleibst du halt noch hier! Ich schlafe dann heute Nacht bei mir zu Hause. Auf diese Weise wecke ich dich auch nicht, wenn ich morgen früh aufstehe“, schlug Leon vor.
„Bist du echt nicht sauer, wenn ich noch hier bleibe?“, versicherte ich mich noch einmal.
„Blödsinn! Du und Kirsten habt euch so lange nicht mehr gesehen durch diesen Umzugstrubel. Das wäre doch Quatsch, wenn du wegen mir schon so früh gehen müsstest!“
„Danke, Schatz. Du bist wirklich süß! Ich ruf dich morgen an, ja?“ Wir nahmen uns noch einmal in den Arm, küssten uns.
„Soll ich dir ein Taxi rufen?“, fragte David.
„Nein, schon okay. Es ist so schönes Wetter, ich gehe lieber zu Fuß. Ich habe es ja nicht weit. Übrigens, vielen Dank für Speis und Trank!“ Leon schlug bei David ein, der ihm auf die Schulter klopfte.
„Kein Problem, Kumpel. Ich muss dir danken für deine tatkräftige Hilfe. Bis dann!“ Leon gab mir noch einen letzten Kuss und verließ dann die Wohnung.
„Mit Leon hast du wirklich einen Schatz zum Freund!“, merkte Kirsten an. Dabei sah sie mich ganz merkwürdig an. Wir sassen allein auf der Terrasse, die Jungs befanden sich in der Wohnung.
„Ja, ich weiß. Dafür liebe ich ihn ja.“
„Bei euch ist noch alles so wie am Anfang? Die große Liebe?“
„Na ja, so kann man das nicht sagen. Das anfängliche Verknalltsein ist nicht mehr da, dafür ist jetzt wahre Liebe an seine Stelle getreten. Wir können uns absolut vertrauen, total aufeinander verlassen. Und das ist wichtig.“
„Und was ist mit Mario?“
„Mario? Was soll mit ihm sein?“
„Was mit ihm sein soll? Du gehst Leon mit ihm fremd!“
„Was tue ich?“ Ich sah Kirsten entgeistert an.
„Na ja, du knutscht mit Mario rum, ihr haltet Händchen...“
„Du glaubst wirklich, ich hätte was mit dem kleinen Mario? Das ist ja lachhaft! Ich liebe Leon und könnte ihn niemals mit Absicht verletzen. Und das weißt du auch!“
„Wer sagt denn, dass du’s mit Absicht machst? Vielleicht kannst du nicht anders?“
Darauf konnte ich nicht antworten. Erstens, weil mir die Worte fehlten, und zweitens, weil ich aus der Wohnung ebenfalls laute Stimmen hörte. Wie es schien, hatten David und Kirsten ausgemacht, sich als Moralapostel aufzuführen.
„Verdammt noch mal, Mario! Ich habe dich gewarnt! Reicht es eigentlich nicht, wenn man dir etwas ein Mal sagt?“
„Mensch, David! Ich hab nichts mit Chiara! Was ist denn eigentlich los mit euch? Das muss alles ein Missverständnis sein! Nur weil Kirsten und du den Unterschied zwischen Freundschaft und Affäre nicht kennt, müßt ihr das nicht an Chiara und mir auslassen. Ihr zwei seid echt total krank!“
Davids Antwort war ein schallender Schlag mit der flachen Hand in Marios Gesicht. Der schluckte und fragte: „Fühlst du dich jetzt besser, ja?“
Mario bereute seine Tat anscheinend genauso schnell wieder, wie er sie begangen hatte. „Meine Güte, Mario! Mario, es tut mir leid, wirklich!“
„Ja, klar!“ Mario verließ gedemütigt die Wohnung.
Ich hätte platzen können vor Wut. „Was gibt euch beiden eigentlich das Recht, euch so aufzuführen, hm? Seid ihr Engel, oder was?“
„Chiara, nein. Natürlich nicht! Es ist nur so, Mario zeigt ein reges Interesse an dir, und das ist nicht gut. Wir kennen ihn halt“, versuchte Kirsten mich zu beruhigen.
„So, ihr kennt ihn also, ja? Dann werdet ihr ja auch gemerkt haben, dass er haargenau so ist, wie David in seinem Alter. Wie vom Aussehen als auch vom Charakter. Er ist genauso wie der Junge, in den ich mich vor sechs Jahren unsterblich verliebt habe!“ Ich glaube, ich wurde immer lauter.
„Was ist los?“ Kirsten sah etwas verwirrt aus und wusste nicht, ob sie mich oder David ansehen sollte. David sah ziemlich gestresst aus, seufzte: „Gar nichts ist los, Schatz.“
„Ach so, verstehe! Du hast ihr also noch gar nichts davon erzählt, dass deine und meine Freundschaft mit meiner Entjungferung angefangen hat!“ Dann wendete ich mich an Kirsten, wurde etwas ruhiger: „Eine Nacht, in der ich mein Herz an ihn verloren hatte! Doch dann kamst du daherspaziert und hast ihn mir einfach weggenommen. Habt ihr euch nie gefragt, warum ich mich so lange von euch zurückgezogen habe? Mario ist meine Chance, das aufzuarbeiten. Ob es euch passt, oder nicht!“ Ich verließ die Wohnung ähnlich wie ein paar Minuten vorher Mario und hoffte, die beiden würden sich jetzt meinetwegen streiten. Von mir aus sollten sie sich auch trennen, mir doch scheißegal! Ich hatte den ganzen Frust der letzten sechs Jahre endlich herausgelassen.
Ich atmete die Luft draußen tief ein und spürte plötzlich eine seltsame Erleichterung, die mir Tränen in die Augen trieb.
Ich setzte mich in mein Auto, startete den Wagen und fuhr zufrieden los. Nach ein paar Metern erkannte ich eine traurige Gestalt die Straße entlang laufen, und plötzlich kam mir eine sonderbare Idee.
Ich fuhr neben Mario her und kurbelte die Scheibe runter. „Steig schon ein, Kleiner! Ich nehm’ dich mit!“
„Brauchst du nicht. Ich wohn’ gleich um die Ecke.“
„Wer sagt denn, dass ich dich nach Hause fahren will?“
Jetzt endlich sah Mario mich an. „Ich soll mit zu dir?“
„Klar! Na, komm schon! Sonst überlege ich es mir doch noch anders!“

„Du hast ‘ne schöne Wohnung.“
„Na ja, es geht! Eigentlich wohne ich nur hier, weil mein Buchladen drunter liegt. Ist praktischer. Möchtest du was trinken?“ Ich führte ihn ins Wohnzimmer.
„‘N Bier, wenn du hast. Darf ich rauchen?“
„Klar, kein Problem!“ Ich verschwand kurz in der Küche und kam mit zwei Dosen Bier zurück. Ich setzte mich zu Mario auf die Couch. „Haben wir wirklich was verkehrt gemacht, Mario?“
„Nein, ich glaub nicht.“
„Lässt du mich jetzt mal ziehen, bitte?“ Ich griff nach seiner Zigarette.
„Süße, wenn du Gras probieren willst, muss ich erst ‘ne Tüte bauen. Das hier ist nur stinknormaler Tabak!“
„Oh! Okay. Magst du was essen?“
Mario lächelte. „Warte noch, bis wir fertig geraucht haben. Dann lohnt es sich wirklich, mir was anzubieten. Hoffentlich hast du den Kühlschrank voll!“ Mario breitete seine Utensilien auf dem Tisch aus, und ich seufzte: „Du hast dich also damals in mich verknallt, ja?“
„Kein Wunder! Du warst ‘ne Schönheit! Bist du heute noch.“
„Dankeschön! Du wolltest doch wissen, warum ich mich in deiner Nähe so komisch aufführe?“
„Verrätst du’s mir endlich?“ Mario sah mich gespannt an.
„Ganz einfach! Wie gesagt, du bist David sehr ähnlich, so wie er früher war. Ich war damals unsterblich in ihn verliebt, in sein wildes Aussehen, sein chaotisches Verhalten. Er war der erste Mann in meinem Leben, mit dem ich geschlafen habe. Doch er verknallte sich in meine beste Freundin. Jahrelang habe ich das alles geheimgehalten und unterdrückt. Und heute, nach sechs Jahren läufst du mir über den Weg. Ich war total durcheinander.“
„Und jetzt? Kannst du klarer denken?“
„Zumindest weiß ich, was ich will!“
„Zuerst mal was rauchen, richtig?“
„Genau! Das gehört dazu!“

Der Joint zeigte seine Wirkung. Obwohl ich nur ein mal dran gezogen hatte, ging es mir total gut. Zudem kam ja noch die Dose Bier, wo ich doch sonst keinen Tropfen Alkohol trinke. Mittlerweile lag ich schon mit dem Kopf auf Marios Schoß. „Weißt du, warum ich sonst weder betrunken noch bekifft sein möchte?“
„Erzähl’s mir!“, gähnte Mario.
„Genau aus dem Grund, den du heute Abend genannt hast: Dass ich Dinge tue, die ich gerne tun würde, aber eigentlich nicht darf.“
„Du meinst solche Ereignisse wie die Nacht, die du mit meinem Bruder verbracht hast?“
„Genau das meine ich. Es war ein riesengroßer Fehler, unter dem ich noch jahrelang gelitten habe. Ich dachte, ich hätte es mit der Zeit verdrängt, aber es jagt ewig hinter mir her. Ich werde es nicht los! Und das, obwohl ich deinen Bruder schon lange nicht mehr liebe.“
„Weißt du, was ich glaube? Du hast nicht das Problem mit David, sondern mit dir selbst. Du verzeihst dir bis heute nicht, dass du im Vollrausch die Kontrolle über dich selbst verloren hast.“
Ich richtete mich auf und sah Mario begeistert an. „Ich bin so froh, dass wir uns endlich kennen gelernt haben. Du bist zwar erst achtzehn, aber du weißt mehr über mich als ich selbst. Du bist besser als jeder Psychiater!“
„Und billiger!“
„Was nimmst du denn die Stunde?“
„Für dich völlig umsonst. Mir reicht deine Nähe.“
Ich sah Mario an, strich ihm eine seiner aschblonden Strähnen aus der Stirn. „Du sagst, du hast dich damals Hals über Kopf in mich verliebt. Wie sieht es eigentlich heute aus?“
„Was meinst du?“ Oh oh! Wurde der Kleine etwa rot?
„Ich würde gerne wissen, wie deine Gefühle für mich heute aussehen. Was empfindest du für mich?“
„Ehrlich?“
Ich nickte gespannt.
„Okay... Ich finde dich immer noch total sexy. Du bist unglaublich schön. Lieb und nett. Wirklich süß!“
Ich lachte. Ich wusste überhaupt nicht, warum. Es war ja gar nicht lustig, was er gesagt hatte. Ich wollte aufhören, aber ich konnte nicht. Wie peinlich! „Entschuldige, Mario! Es tut mir leid!“
Doch er lachte mit. „Schon okay! Das liegt daran, dass du was geraucht hast. Völlig normaler Lach-Flash!

Klingeln.
Schrill.
Von weit fern.
Näher.
Noch näher.
So grausam, dass es die Frechheit besass, mich zu wecken. Zudem war es auch noch die Türklingel. Das hieß, ich mußte aufstehen und die Türe öffnen. Was ich übrigens mit meinen Augen auch versuchte, aber nicht unbedingt funktionierte. Ich schleppte mich träge aus meinem Bett und schlurfte über den Flur. So brauchte ich auch einige Zeit, bis ich mein Gegenüber in der Tür erkannte.
„Ist Mario bei dir?“, fragte David vorsichtig.
Gute Frage! Das wusste ich selbst nicht! Mit einem mal war ich hellwach.
„Ich wüsste nicht, was dich das angeht!“
„Ich würde gerne mit ihm reden, aber er ist heute Nacht nicht nach Hause gekommen, sagt meine Mutter. Ich mache mir Sorgen um ihn. Kann ich reinkommen?“
„Bitte!“ Ich trat zur Seite und ließ ihn ein. David marschierte geradewegs ins Wohnzimmer, schob meinen Klamottenstapel von der Couch und setzte sich. Sein Blick fiel auf den vollen Aschenbecher, die leeren Bierdosen und die Pizzareste auf den Tellern. Trotzdem sprach er diese offensichtlichen Indizien nicht an.
„Warum musstest du Kirsten von dieser Geschichte erzählen?“
„Du meinst, von unserer gemeinsamen Nacht?“
„Mußte das sein? Wir hatten einen Mordskrach letzte Nacht!“
„Hat sie dich nicht ins Bett gelassen?“, grinste ich.
„Nein! Sie hat mich rausgeschmissen! Ich habe bei meinen Eltern geschlafen. Also, was sollte der Scheiß?“
„David, dass ihr beide euch verkracht habt, ist nicht meine Schuld! Du hättest ihr längst davon erzählen können und auch sollen! Die Sache ist sechs Jahre her!“
„Richtig! Sechs Jahre schon! Warum musstest du das wieder aufwärmen?“
„Weil die Sache für mich noch nicht erledigt war. Aber jetzt ist sie es. Ich habe endlich damit abgeschlossen.“
„Wieso abgeschlossen? Wo lag eigentlich das Problem?“
„David, das Problem lag darin, dass ich in dich verliebt war und dich das einen Scheiß interessiert hat!“
„Woher hätte ich das denn wissen sollen? Du hast doch nie etwas gesagt!“
„Und was hätte das geändert?“
„Nichts!“, seufzte David kleinlaut.
Endlich setzte ich mich neben ihn auf die Couch. „Es wurde Zeit, dass diese Sache ein für alle Mal geklärt wurde. Sie stand zwischen uns dreien, und das war nicht gut. Ich werde Kirsten gleich anrufen und mit ihr reden. Sie liebt dich! Sie lässt dich wieder rein. Bestimmt!“ Ich strich ihm über die Wange.
„Und was ist mit Leon? Was wird er zu der Geschichte sagen?“
„Er weiß es. Schon von Anfang an. Ich habe es ihm gleich gesagt.“
„Okay, aber was ist mit Mario? Wirst du Leon erzählen, dass du eine Nacht mit meinem kleinen Bruder verbracht hast?“
Ich wollte antworten, doch das tat schon jemand anders für mich. Mario tauchte wie aus dem Nichts im Wohnzimmer auf und sagte: „Es ist nichts passiert letzte Nacht. Es gibt nichts, was sie Leon erzählen müßte. Und selbst, wenn es so wäre, ginge das nur Chiara, Leon und mich etwas an!“
David drehte sich um, erkannte seinen Bruder und stand von der Couch auf. Zaghaft ging er auf ihn zu. „Du hast Recht, es tut mir leid. Auch das mit gestern Abend, dass ich dir eine geknallt habe...“
„Schon gut, David. Vergessen und vorbei!“ Mario ging auf seinen Bruder zu und nahm ihn in den Arm.

„Das war lieb von dir, dass du David nicht gesagt hast, was letzte Nacht abgelaufen ist“, sagte ich zu Mario, nachdem ich hinter seinem Bruder die Tür geschlossen hatte.
“So? Was ist denn letzte Nacht passiert?”, grinste Mario und setzte sich auch die Couch.
„Wenn ich so nachdenke - ich kann mich überhaupt nicht erinnern!“ Das konnte ich wirklich nicht. War ich etwa so bekifft gewesen?
„Eigentlich wäre ich ja beleidigt, wenn das eine Frau nach einer gemeinsamen Nacht zu mir sagen würde, aber diesmal nicht.“
„Nicht?“, fragte ich verwirrt.
„Genau. Und zwar aus einem einfachen Grund. Es ist nichts passiert. Du bist kurz nach deinem Lachanfall nämlich eingeschlafen!“, lächelte Mario und stand auf.
„Ich bin was? Ernsthaft? Wie peinlich!“
„Ach was, Blödsinn! Wahrscheinlich ist es wirklich besser so. Komm her, lass dich drücken, Süße!“ Mario nahm mich fest in den Arm uns küsste mich auf die Stirn. „Die letzte Nacht war auch so wunderschön für mich, denn ich habe in dir eine gute Freundin gefunden.“
Ich drückte ihn ebenfalls fest. „Habe ich letzte Nacht gesagt, du wärst wie David? Das stimmt nicht! Du bist viel vernünftiger und reifer, als er es in deinem Alter war.“
Wir hielten uns noch eine Weile fest, bis Mario sagte: „Ich könnte zwar noch stundenlang hier so rumstehen, aber mein Magen hat was dagegen, der wird davon nämlich nicht satt!“
Ich lachte. „Okay! Ich kann nicht zulassen, dass du verhungerst. Lass uns frühstücken gehen. Ich kenne ein gutes Restaurant, da arbeitet ein junger Mann, dem mein Herz gehört. Nach wie vor und unverändert!“ Ich war froh, dass ich das sagen konnte, ohne mich selbst zu belügen!

 

Hallo aneika,

lange Geschichten bieten Platz und Raum, um eine Geschichte zu entwickeln, die Prots, den Rahmen, die Stimmung. Das gelingt Dir gut, Du skizzierst nicht nur, Du zeichnest sehr naturalistisch die Situation, eine kleine Begebenheit, eine echte Alltagsgeschichte.
Manchmal hat mich ein bisken gestört, daß Du mir als Leser die Dinge wirklich mundgerecht vorbereitest, wenig Raum für eigene Bilder lässt, beispielhaft vielleicht Passagen wie diese :

In meine Augen war David zu weit gegangen, und Mario tat mir leid. Leon löste das Problem.
Wie es schien, hatten David und Kirsten ausgemacht, sich als Moralapostel aufzuführen.
Trotzdem sprach er diese offensichtlichen Indizien nicht an.

Da bleibt wenig(er) Raum für eigene Bilder beim lesen, das ist nicht verkehrt, mir persönlich ist es ein bisken sehr eng geführt, ich mag auch Geschichten, die durch Weglassen etwas darstellen oder verdeutlichen.

Was jedoch logisch nicht passt ist die Sache mit dem Joint von Mario:

Mario griff nach seiner selbstgedrehten Zigarette und zündete sie an.
Hat er den Joint, den Stick vorgedreht ? Weil, anders als bei regulären Selbstgedrehten braucht es dafür ein paar Utensilien mehr, in der Geschichte zündet er sie einfach an.
Und Chiara raucht nicht, nimmt jedoch in der eigenen Wohnung später doch einen Zug und hat dann einen Blackout. Das ist aus zwei Gründen unlogisch, zum einen führt bei Nichtrauchern das Inhalieren normalerweise zu Hustenanfällen und nicht zum Filmriss, und selbst wenn - durch Selbstbeherrschung o.ä. - der Rauch drin bleibt, für einen THC-Rausch reicht ein Zug bei Anfängern nicht aus. Und führt sicher nicht zu einem Aussetzer, wie man ihn vom Alkoholvollrausch kennt, selbst bei empfindlichen Personen. Da solltest Du den Prots mehr Glaubwürdigkeit verleihen, vielleicht raucht Chiara ja sonst auch, und/oder sie ist am Folgemorgen einfach zu müde, um sich sofort an den Abend und die Nacht zu erinnern ?!

Insgesamt eine runde Geschichte, ausführlich und sehr realitätsnah erzählt und mit einer schönen Moral, die an die echte Liebe und Freundschaft zwischen Mann und Frau glaubt.

Grüße,
C. Seltsem

 

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