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Besser im Bett geblieben
Jan Piecek fuhr den Rechner hoch. Gerade war ihm der Plot einer Hammerstory für die Internetseite KG eingefallen. Die Geschichte würde so gut werden, da mussten sie ihn bei KG endlich einmal besser bewerten, nicht wie bei seinen beiden anderen Kurzgeschichten, die er eigens für dieses Portal geschrieben hatte. Mit einem Satz war er aus dem Bett gewesen. Das musste er heute noch schreiben, morgen früh würde er garantiert einiges vergessen haben. Das dauert aber auch, dachte er aufgeregt, bestimmt schon zwei Minuten und das Ding lief immer noch nicht stabil. Ahh! Auch das noch! Da konnte er schon drauf gehen, jedes Mal, wenn er es eilig hatte, kam ihm auch noch das Antivirenprogramm in die Quere und musste ausgerechnet dann updaten. Ungeduldig saß er vorm Monitor, dann ging endlich das kleine Fenster rechts unten auf und zeigte ihm an, dass vier Updates erfolgreich installiert worden waren.
Er klickte auf das Symbol seines Schreibprogrammes. Der Bildschirm wurde schwarz und leuchtete eine Sekunde später hell auf. Was war das? Auf dem Monitor war das Bild eines Zimmers zu sehen. Zunächst dachte Jan, es handle sich um ein Standbild, doch dann lief ein Mann durch den Raum, zog zwei Schubladen aus einer Kommode, die am Ende des Zimmers stand und leerte deren Inhalt auf den Boden. Was soll das denn?, fragte sich Jan erstaunt. Wie kam es überhaupt zu diesem Film auf seinem Monitor? Gestern erst war Marek, Freund und Computerfachmann, mehrere Stunden bei ihm gewesen und hatte seinen Rechner wieder auf Vordermann gebracht. Und natürlich hatte er es sich wieder nicht nehmen lassen, mehrere Programme zu installieren, von denen er fest überzeugt war, Jan würde sie dringend brauchen. Darunter befand sich auch ein Programm zur Aufzeichnung von Webcambildern, das hatte er ihm gesagt.
Ja, der Marek, jedes Mal installierte er irgendwelches Zeugs, das er meist gar nicht haben wollte und, nachdem er sich das Programm angesehen hatte, in der Regel auch wieder von seinem Rechner entfernte. Es war so eine Marotte von Marek und er war davon nicht abzubringen. Jan schaute interessiert auf den Bildschirm. Bestimmt hatte Marek vergessen, das Filmchen zu löschen. Der Mann lief ein weiteres Mal durch den Raum. Er wirkte nervös. Hastig schaute er sich um. Dann öffnete er eine weitere Schublade und warf auch deren Inhalt komplett heraus. Jan sah, wie einige Glasfläschchen über den Boden rollten. Der Mann blickte sich erneut um, dann war er aus dem Bild verschwunden. Eigenartiges Verhalten, dachte Jan. Er wartete zwei, drei Minuten, während denen er neugierig auf den Monitor starrte, aber es tat sich nichts mehr. Er fuhr mit dem Cursor zu dem X, um das Programm zu beenden. In diesem Moment kam Bewegung in die Szene. Am rechten Bildrand schob sich etwas über den Boden. Es sah aus, wie ein großer Hund mit reichlich Fell. Genau konnte Jan das aber nicht erkennen. Vielleicht war es auch irgendetwas aus Stoff. Bestimmt hatte der Mann es durch den Raum geworfen, denn es bewegte sich jetzt nicht mehr. Leicht genervt überlegte er, ob er das Programm jetzt endlich beenden solle. Das Filmchen konnte er sich auch morgen noch ansehen, wenn er das denn wollte. Er zögerte. Hatte dieser Stoff, der Hund oder was immer es auch war, sich gerade bewegt? Angestrengt starrte er und tatsächlich, das Ding bewegte sich. Ganz langsam kroch es in Richtung der Kamera. Gebannt verfolgte Jan die Bewegung. Immer deutlicher war es nun zu sehen. Jetzt erkannte er, worum es sich handelte. Es war eine Frau in einem Bademantel. Sie lag gekrümmt auf dem Rücken und robbte sich sehr mühsam über den Parkettboden. Ihr Gesicht war nicht zu sehen, da sie den Kopf zur Seite gedreht hatte und die herabhängenden Haare ihr Profil verdeckten. Ihr Bademantel klaffte oben auseinander und ihre nackten Brüste waren zu sehen. Aber, was war das? Schräg unterhalb ihrer rechten Brust. Ein Gegenstand. Jan schob den Kopf nach vorne, um näher am Bildschirm zu sein, in der Hoffnung, so besser zu sehen und erkennen zu können, um was sich dabei handelte. Die Frau bewegte sich ein weiteres Mal. Jetzt, ja jetzt war es deutlich. Es war der Griff eines Messers, der der Frau aus der Bauchdecke ragte. Blut quoll darunter hervor und lief seitlich an ihrem Körper entlang. Es hatte bereits den Bademantel stark befleckt.
Jan begann zu lachen. Marek, der Arsch, was hatte er sich da bloß wieder einfallen lassen, um ihn zu erschrecken? Aber das war ja wohl misslungen!
Jan betrachtete die Szenerie mit einem Schmunzeln. Zu sehr gespielt, wie die Frau da jetzt herumfuchtelte und ihre Hand auf den Boden fallen ließ. Viel zu theatralisch. Mach weg, den Scheiß, dachte er, sonst kommst du nie zum Schreiben. Er warf einen letzten, fast müden Blick auf das Bild, als ihm auffiel, dass er den Raum kannte, in dem diese Inszenierung aufgezeichnet worden war. Er überlegte. Vor nicht allzu langer Zeit hatte er sich in dem Zimmer aufgehalten, aber er kam nicht dahinter, wo es war. Langsam ließ er seinen Blick durch den Raum gleiten. Wo war das gewesen?
Und dann fiel es ihm ein. Es war die Wohnung seiner Nachbarin über ihm. Keine drei Wochen war es her, da hatte er sich wieder einmal bei ihr über das laute nächtliche Poltern beschwert. Sie hatte ihn hereingebeten, weil sie, wegen ihrer Nachbarin gegenüber, nicht im Treppenhaus reden wollte. Bei dieser Gelegenheit hatte sie ihn in genau dieses Zimmer geführt und reumütig Besserung versprochen.
Aber was hatte Marek mit seiner Nachbarin zu tun? Seines Wissens kannten die beiden sich gar nicht. Stutzig geworden schaute Jan erneut auf die Frau. Sie versuchte mit der rechten Hand den Messergriff zu umfassen. Offensichtlich wollte sie das Messer heraus ziehen. Aber die Bewegungen ihrer Hand waren ungelenk, sie schaffte es nicht.
Jan griff zum Kopfhörer. Die ganze Zeit über hatte er das Geschehen nur optisch verfolgt.
Das erste was er akustisch wahrnahm, war ein lang anhaltendes Stöhnen, dann ein Wimmern. Die Frau hatte die Hand vom Griff des Messers genommen und ließ sie auf den Parkettboden fallen. Ein deutliches Knallen war zu hören. Erneut hob sie die Hand und ließ sie fallen. Die Frau versuchte zu klopfen, das war jetzt klar so zu deuten.
Jans Körper durchzog ein kaltes Gefühl von Angst. Seine Haut zog sich zusammen. Die Härchen auf seinen Armen stellten sich. Das, was er da sah, war keiner von Mareks Scherzen, das war real.
Er riss den Kopfhörer herunter und starrte gebannt auf die blutende Frau am Boden. Wieder hob sie den Arm und ließ die Hand herabfallen. Deutlich hörte Jan den Schlag, aber nicht über den Kopfhörer, sondern über sich, an der Zimmerdecke. Eine fürchterliche Angst ergriff ihn. Noch einmal hob die Frau den Arm. Jetzt konnte er sogar ihr Gesicht erkennen, es war eindeutig seine Nachbarin über ihm. Als ihre Hand erneut zu Boden fiel, hörte er eindeutig den Schlag.
Ich muss die Polizei verständigen, schoss es ihm durch den Kopf. Aber wie lange würde das dauern, bis sie da wäre? Sollte er nicht besser hochgehen und schauen, ob er helfen konnte?
Jan musste unvermittelt niesen. Er nahm ein Taschentuch von seinem Schreibtisch und putzte sich die Nase. Dann zog er sich schnell eine Hose an und steifte sich einen Pullover über.
Er würde jetzt hochgehen und läuten. Vielleicht stellte sich die Sache ja doch als Scherz heraus. Wenn allerdings niemand öffnete, würde er die Polizei rufen und am besten gleich auch noch einen Krankenwagen.
Er hastete das eine Stockwerk die Treppe hoch. Kurz vor Erreichen der Tür fiel ihm der Mann wieder ein, den er auf seinem Bildschirm gesehen hatte. Was, wenn er noch da wäre und eventuell auf ihn losginge?
Jan hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, er stand bereits vor der Abschlusstür. Mit zittriger Hand drückte er den Klingelknopf und sah im selben Moment, dass die Tür nur angelehnt war.
Er wartete einen Moment, lauschte dabei auf eventuelle Geräusche aus der Wohnung, aber alles blieb still. Er läutete ein zweites Mal. Wieder war nichts zu vernehmen. Vorsichtig drückte er die Tür auf. Er rief ihren Namen. Wiederholte das Rufen. Dann stand er in Peggys Wohnzimmer, stand direkt vor ihr. Stark zusammengekrümmt lag sie da. Sie bewegte sich nicht. Er ging in die Hocke, sprach sie an. Sie blieb regungslos und stumm. Ein Rinnsal Blut floss immer noch aus ihrem Bauch und sammelte sich auf dem Parkettboden zu einer Lache.
Jan beugte sich noch weiter zu ihr herunter. Dabei musste er sich mit beiden Händen auf dem Boden abstützen, um nicht nach vorne umzukippen. Für den Bruchteil einer Sekunde nahm er dabei das Papiertaschentuch wahr, das er unbewusst die ganze Zeit über zerknüllt in der Hand gehalten hatte und das jetzt zu Boden gefallen war.
„Peggy?“ Seine Stimme klang unnormal hell.
„Peggy, was ist mit dir?“, fragte er unbeholfen und schaute ihr dabei in ihr lebloses Gesicht. Eine wächserne Blässe hatte sich ihrer bemächtigt. Die Augen waren halb geöffnet und so stark verdreht, dass nur noch Weißes zu sehen war. Jan wusste, sie war tot.
Er erschrak, nicht über Peggys Tod, sondern, als er sich der Situation bewusst wurde. Was, verdammt noch mal, machte er bloß in dieser Wohnung? Wie war er auf die hirnrissige Idee gekommen, ohne vorher die Polizei verständigt zu haben, diesen Raum zu betreten? Das würden sie ihm nie abnehmen. Zu gut war das schlechte Verhältnis, das er wegen des dauernden Lärms mit Peggy gehabt hatte, jedem im Haus bekannt. Einmal hatte er sich gar der Verwalterin gegenüber geäußert und dabei seine Nachbarin zum Teufel gewünscht. Und jetzt stand er da, in ihrer Wohnung neben ihrem Leichnam. Nie und nimmer würden sie ihm glauben, dass er mit dieser Sache nichts zu tun hatte. Er geriet in Panik. Kopflos ging er aus dem Raum, lief durch den kurzen Flur, raus ins Treppenhaus. Er zog die Tür hinter sich zu. Im gleichen Moment ging die gegenüberliegende Wohnungstür auf und vor ihm stand, in einen hellblauen Schlafanzug gekleidet, Frau Wintermann. Ausgerechnet die! Frau Wintermann, die alte frustrierte Hexe, die ihren Lebensabend damit verbrachte sich um alles zu kümmern, was sie nichts anging.
„Ach, Herr Piecek, Sie sind das“, krähte sie, „ich hatte Geräusche gehört. Da dachte ich, ich sehe besser mal nach.“
Jetzt ist alles aus, schoss es Jan durch den Kopf, die Alte hat mich aus der Wohnung kommen sehen. Einem Impuls folgend schob er die Frau rückwärts, zurück in ihre Wohnung. Er packte sie vorne an der Schlafanzugsjacke und schüttelte sie hin und her. Die Frau versuchte zu schreien, aber kein Ton verließ ihren Mund, irgendeine Blockade lähmte ihre Stimmbänder. Jan ließ sie los. Sie sackte fast lautlos zu Boden. „Frau Wintermann, was ist denn?“, fragte Jan aufgebracht. Aber sie antwortete nicht mehr. Auch sie war tot.
Jan betrachtete die Frau. Alles erschien ihm jetzt unwirklich. Einfach nur noch surreal und grotesk.
Aber er hatte seine Fassung wieder erlangt. Ruhig verließ er die Wohnung, zog die Abschlusstür ins Schloss und ging die wenigen Stufen hinunter zu seiner Wohnung.
Als ob nichts Außergewöhnliches geschehen wäre, nahm er ein Flasche Bier aus dem Kühlschrank und trank einen kräftigen Schluck.
Sollte er gleich anrufen? Kriegen würden sie ihn sowieso. Warum das Ganze noch hinauszögern? Zu viele Fingerabdrücke hatte er hinterlassen. Aber hatte er das wirklich? Fingerabdrücke in der Wohnung seiner Nachbarin. Was bedeutete das schon? Er konnte sie aufgesucht haben, lange, bevor sie erstochen wurde. Vielleicht wieder einmal, um sich über Lärm zu beschweren. Aber deswegen musste er sie doch nicht umgebracht haben. Nur eines durfte er jetzt nicht tun. Auf keinen Fall durfte er die Bullen anrufen. Nein, er musste warten, bis dies ein anderer tun würde. Sie würden ihn verdächtigen, klar, aber so lange er nicht zugab, zu der Zeit in Peggys Wohnung gewesen zu sein, würden sie keine Handhabe gegen ihn haben.
Er ging rüber zum Schreibtisch. Immer noch war auf seinem Monitor Peggys Zimmer zu sehen, seine Nachbarin, tot am Boden liegend. Er betrachtete das Bild, schaute auf das Gesicht der Toten, ihre Brüste, betrachtete das Messer. Alles war recht deutlich zu erkennen, sogar das Blut war einigermaßen scharf zu sehen. Aber, was war das? Rechts neben der Leiche, in einigem Abstand lag etwas Helles. Jan schaute genauer hin. Er erkannte sein Taschentuch.
Am übernächsten Tag wurde er als Tatverdächtiger verhaftet. Er kam in U-Haft.
Es sähe sehr schlecht für ihn aus, hatte ihm der Kommissar gesagt. Alles spräche dafür, dass er die Tat begangen hätte. Sie hatten das Taschentuch gefunden und es ihm eindeutig zuordnen können. Auch der Zeitpunkt, zu dem er es benutzt hatte, stimmte mit dem Tatzeitpunkt überein.
Und auch Frau Wintermann hatten sie gefunden. Allerdings brachten sie ihren Tod mit keinem Fremdverschulden in Verbindung. Sie gingen davon aus, die Frau sei ganz einfach einem Herzinfarkt erlegen.
Aus Jans Wohnung hatten sie einige Gegenstände mitgenommen, um sie im Labor untersuchen zu können. Unter anderem das angebrochene Päckchen Taschentücher, das sie auf seinem Schreibtisch gefunden hatten und seinen Rechner.
Eine Woche später, der Fall war kurz davor ermittlungstechnisch abgeschlossen zu werden, entdeckte ein Techniker die Webcamaufzeichnung aus Peggys Wohnung. Alles war auf Jans Festplatte gespeichert und daraus ging eindeutig hervor, dass nicht Jan der Mörder war. Den wahren Täter, ein Arbeitskollege Peggys, konnten sie anhand des Filmmaterials sehr schnell ausfindig machen und schon Stunden später verhaften.
Als sich der ermittelnde Kommissar die Tür zu Jans Zelle aufschließen ließ, um ihm die Nachricht von seiner sofortigen Haftentlassung persönlich mitzuteilen, war Jan bereits seit einer halben Stunde tot. Er hatte sich erhängt.