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Besser Tokio als tot
Freitag, 18. August 2006
Beinahe Mittag (11:50 Uhr)
Die Reifen des nachtschwarzen Audi A4 Cabrios quietschten, als Amalia auf den einsamen Parkplatz preschte und den Wagen mit einer halsbrecherischen Drehung zum Stehen brachte. Die Tankstelle daneben war schon vor Jahren zu einem schmuddeligen Café umfunktioniert worden, das dünnen Kaffee und ausgetrocknete Sandwiches verkaufte.
Amalia stieg aus, warf ihre Handtasche über die Schulter und lief auf das flache Gebäude zu. Ihr Herz hämmerte wie verrückt, der Atem ging stockend. Beruhige dich, sagte sie sich immer wieder vor, beruhige dich doch endlich. Und erinnere dich. Was war das noch, vor dem sie davongelaufen war? Oder wer? Die heiße Luft nahm ihr den Atem und ließ den Asphalt flimmern. Trotz der Hitze überrollten sie Gänsehautwellen. Erinnere dich! Komm schon!
Sie trug ein mit Glitzersteinchen besticktes, ärmelloses Top in nude. Der Nagellack war großteils abgesplittert, Ballerinas aus Rindsleder und eine schwarze Caprihose betonten ihre Beine. Um die Handgelenke waren Mullbinden in großer Hast gewickelt worden, Heftpflasterstücke hielten sie zusammen. Eine Sonnenbrille bedeckte das halbe Gesicht. Die Unterlippe war leicht geschwollen, aber man bemerkte das nur, wenn man davon wusste.
Amalia betrat das Café mit einem Anflug von Hunger und beschloss, etwas zu essen. Irgendwie war ihr bewusst, vorläufig in Sicherheit zu sein, wovor auch immer.
An einem Fensterplatz ließ sie sich nieder und bestellte Kaffee und ein Thunfischsandwich. Während des Wartens starrte sie nach draußen. Die Scheibe spiegelte ihr Gesicht wider, den Porzellanteint, die dunklen Schatten um die Augen und den Pony, der das Gesicht einrahmte wie ein Gemälde. Die Wunden unter den Mullbinden schmerzten und erinnerten sie daran, am Leben zu sein. Sie rieb gedankenverloren mit dem Daumen über den Nagellack, ohne es zu bemerken.
Eine Frau in blauer Schürze, Amalia schätzte sie auf Ende vierzig, brachte die Bestellung an den Tisch.
Sie wandte sich der Kellnerin zu, sparte sich aber das übliche Lächeln. Es war schon zu lange her, dass sie sich mit echten Menschen unterhalten, überhaupt an sie gedacht hatte. Sie sprach immer noch in Gedanken mit ihren Forumsfreunden. Sie waren die echten, die wirklichen Freunde. Oder? Erinnere dich!
„Guten Appetit wünsche ich“, sagte die Frau ohne jede Motivation in der Stimme.
„Danke.“ Amalias Unterlippe pulsierte. Sie hatte die Sonnenbrille nicht abgenommen.
„Falls Sie noch etwas brauchen, ich bin da hinten“, sie deutete auf die abgewetzte Theke. „Heute steht Blaubeerkuchen auf der Tageskarte.“ Dann ging sie. An ihrem Platz schien eine seltsame Anspannung von ihr abzufallen.
Amalia biss ein Stück des Sandwiches ab und kaute gedankenverloren darauf herum. Plötzlich erinnerte sie sich an etwas, an eine Melodie, die immer wieder kehrte, sich ständig wiederholte in einer Endlosschleife. Es war der Teil eines melancholischen, klassischen Stückes mit Klavier. Jetzt, da es wieder da war, hörte sie es deutlicher als das Geklapper der Kellnerin mit dem Geschirr, deutlicher als ihre eigenen Gedanken. Es überlagerte alles andere wie eine Glasur. Warum war sie nur so traurig? War das immer schon so gewesen?
Sie aß und nippte am Kaffee, und währenddessen wurde sie begleitet von ihrem eigenen Konzert im Kopf. Das Brot schmeckte wie Styropor, der Thunfisch war wässrig und beinahe ohne Geschmack, der Kaffee schmeckte wie eingeweichte Zigarettenstummel.
Die Töne schwollen erneut dem Höhepunkt entgegen, ehe sie wieder von vorne anfingen. Amalia starrte auf den leeren Teller. Wo war ihr Zeitgefühl geblieben? Hatte sie gerade alles gegessen? Die Risse auf der Keramikoberfläche, die zum Vorschein gekommen waren, drängten auf ein ja, nur ihre Erinnerung weigerte sich, eine klare Antwort zu liefern, wie so oft. Konzentrier’ dich! Erinnere dich! Was war ihr Ziel gewesen, ehe sie auf den Parkplatz gefahren war, und wo wollte sie eigentlich hin?
Unschlüssig ging sie erst einmal auf die Toilette und sperrte sich in eine Kabine ein. Nachdem sie die Sonnenbrille abgenommen hatte, setzte sie sich auf den Klodeckel und zog das Bündel Papier aus ihrer Handtasche.
Es enthielt einen Handreiseführer inklusive Mini-Dolmetscher sowie Unterlagen über Hotels, Ryokans und Minshukus sowie ein Bündel Banknoten. Sechzigtausend japanische Yen zählte Amalia, das entsprach knapp fünfhundert Euro. Außerdem ein Flugticket über einen Direktflug von Wien nach Tokio, das auf ihren Namen ausgestellt war: Amalia Falb. Das heutige Datum war eingelasert, der 18. August. Die Maschine würde um 15:05 Uhr starten. Sie spähte auf ihre Armbanduhr. Jetzt war es 12:10 Uhr Mittag. Den Flughafen konnte sie mit dem Wagen in zwei Stunden erreichen, wenn sie sich ranhielt. Der Tank war voll, daran erinnerte sie sich. Dann wäre gerade noch genug Zeit zum Einchecken übrig. Tokio also, dachte sie, wie aufregend.
Inzwischen summte sie die Melodie mit. Du bist nicht wie die anderen. Vergiss das nie. Du gehörst zu uns. Hast du vergessen, dass dich der Suizid erwartet? Warum lebst du noch? Ja, ich gehöre zu euch, antwortete sie in Gedanken. Im tiefsten Inneren gehöre ich immer noch zu euch. Aber jetzt ...
Einige Minuten lang saß sie einfach reglos da. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, obgleich ihr der Grund dafür entfallen war. Der Puls beschleunigte sich, sie zitterte kaum merklich.
Dann stand sie auf, stellte sich vor den Spiegel und atmete tief ein. In der Tasche entdeckte sie noch Wimperntusche und Puder. Während sie das Make-up erneuerte, tauchten Bilder der Erinnerung auf. Sie waren transparent und schreckhaft, sobald Amalia sie genauer betrachten wollte. Oft huschte nur eine nebulöse Szene am Rand des Gesichtsfeldes vorbei. Verwaschenes Rosa spielte eine Rolle, ebenso etwas das tropfte und wieder versickerte. Etwas anderes blitzte auf. Etwas surrte leise, der Ventilator ihres Rechners. Warum lebst du noch? Vorwurfsvoll.
Amalia rang kurz mit sich selbst, dann entfernte sie einen Verband nach dem andern und legte neue an. Diesmal ließ sie sich Zeit und ging sorgfältiger vor. Die alten Mullbinden waren blutdurchtränkt. Feine Schnitte klafften parallel zur Schlagader und fingen an zu pochen, aber die Blutung war gestillt. Amalia stellte erleichtert fest, dass sie nicht so tief waren, wie sie befürchtet hatte.
Das Gefühl, auf einer Couch gesessen zu haben wurde zur Gewissheit. Ein Gesicht stieg aus der Vergangenheit empor und verblasste ebenso schnell wieder. Erzählen Sie, ich höre zu. Hatte sie es getan?
Ohne ein Wort oder einen Blick zu verschwenden klemmte Amalia einen Zehn-Euro-Schein unter den Aschenbecher der Theke und trat hinaus in die Sonne.
„Oh, danke“, murmelte die Kellnerin.
Amalia legte einen Kavalierstart hin und jagte Richtung Flughafen davon. Ihr Herz hämmerte noch schneller und die Haare umwehten sie. War dieses Gefühl etwa Freiheit?
Freitag, 18. August 2006
Eine Stunde früher (10:50 Uhr)
‚Dr. Alfred Renard, Psychotherapeutische Beratung’ war auf dem Messingschild am Hauseingang der Weingartshofstraße 5 eingraviert worden. Heute roch ganz Linz wieder einmal nach den Ausdünstungen der Vöst-Alpine.
Amalia stürzte die Stufen nach unten, warf den Kopf hektisch hin und her und spurtete schließlich auf Renards Audi A4 Cabrio zu, das zuvor durch einen Knopfdruck am Schlüssel gepiept hatte. In ihren Handgelenken wütete ein brennender Schmerz, die Kleidung war mit Blut besudelt. Außer ihr und einem räudigen Straßenkater, der gerade von einem Altpapiercontainer auf einen Metallcontainer sprang, befand sich niemand in der Straße. Das war gut so. Sie hatte keine Lust, Fragen zu beantworten, deren Antwort sie nicht kannte.
Eine Viertelstunde später erreichte sie ihr Wohnhaus und parkte den Wagen eine Querstraße entfernt. Blindlings spurtete sie zum Eingang, die Treppen hinauf und stand endlich im Vorzimmer ihrer Wohnung. Die Luft roch abgestanden und muffig, schwere Vorhänge verwandelten die Räume in ein Reich voller Schatten und Einsamkeit. In Panik warf sie alles, was griffbereit herumlag, in ihre Handtasche und musste immer wieder ein Schluchzen unterdrücken.
Das war doch gerade nicht wirklich geschehen, das konnte doch nicht sein! Lag Dr. Renard immer noch japsend auf dem Boden und krümmte sich?
Oder hatte sie ihre Wohnung überhaupt nicht verlassen? Sie hielt inne, lauschte in ihrem Innersten nach Antworten und zwang sich, bewusst zu Atmen und zur Ruhe zu kommen. Mit geschlossenen Augen stand sie eine Weile da und konzentrierte sich auf das Heben und Senken ihres Brustkorbes.
Nein, das musste sie sich eingebildet haben. Sie war doch hier, in ihrer Wohnung. Der Puls beruhigte sich allmählich, das bestätigte Amalia ihren Irrtum. Sie hatte die ganze Zeit hier verbracht, natürlich.
In Gedanken sprach sie bereits wieder mit ihren wahren Freunden, ihren Freunden aus dem Forum. Die Einzigen, die sie noch hatte. Die einzigen Menschen, die sie noch hatte. Das tat sie eigentlich immer, auch wenn sie gerade nicht online war, was nicht allzu oft vorkam. Während des Zähneputzens, vor dem Einschlafen, in ihren Träumen und Tagträumen führte sie Gespräche, bereitete Einträge in Gedanken vor und ertappte sich manchmal dabei, auch dann zu tippen, wenn sie gar keine Tastatur zwischen den Fingern hatte. Gerade erklärte sie ihnen, dass sie angenommen hatte, zu einer Therapie zu gehen und aussteigen zu wollen. Sie legte sich Worte der Entschuldigung und des Bedauerns zurecht.
Eben langte sie nach dem Hauptschalter ihres Rechners, um ihn hochzufahren, da erstarrte ihre Hand. Ein Flugticket und Reiseunterlagen ruhten auf der Tastatur wie eine Ermahnung. Hatte Renard nicht etwas über Urlaub und Flüge erwähnt? In Zeitlupe glitt ihr die Handtasche aus den Fingern, landete sacht auf ihren Füßen und fiel zur Seite. Langsam senkte sie den Kopf und beäugte die Blutflecken auf dem Kleid, die Risse in den schwarzen Strümpfen und die Verbände, als sähe sie das alles zum ersten Mal.
Scheibchenweise kam das Gefühl für ihren Körper zurück, erst die glühenden Handgelenke, dann das Pochen in der Unterlippe.
Mechanisch hob sie die Tasche wieder auf. Etwas war heraus gefallen. Sie griff danach. Auf dem Stück Papier, das sie jetzt als eine Visitenkarte von Dr. Renard erkannte, standen vier Worte: Glaub seinen Lügen nicht.
Sie konnte sich erinnern, das selbst geschrieben zu haben, erst vor sehr kurzer Zeit. Etwas riet ihr, sich zu beeilen. Sie musste hier weg, raus aus der Stadt, raus aus dem Land, so weit wie möglich, Hauptsache weg. Dort würde sich ihr Verstand klären.
Sie stopfte die Karte, das Ticket und die Reiseunterlagen in die Tasche. Im Badezimmer wusch sie sich das Blut von den Unterarmen und beobachtete fasziniert, wie sich das Waschbecken rosa färbte.
Auf dem Bett lagen die Caprihose und das Top in nude bereit, sie hatten gewartet, bis auch Amalia so weit sein würde. Wie üblich hatte sie keine Erinnerung daran, die Kleider oder die Unterlagen bereit gelegt zu haben, aber wer sollte es denn sonst getan haben? Also zog sie sich um und warf die blutigen Kleidungsstücke in den Wäschekorb.
Anklagende Stimmen erhoben sich gegen ihr Tun. Stimmen, die sie des Verrates beschuldigten und die vor Abscheu zitterten. Entschlossen versuchte sie sich von dem irrealen Gewispere der Forumsteilnehmer zu lösen.
Glaub seinen Lügen nicht, überlegte sie und spürte eine eisige Hand, die sich in ihren Nacken legte.
Dann verließ sie die Wohnung mit nichts außer der Tasche und Leere im Magen.
Sie stieg wieder in den Wagen und preschte davon.
Freitag, 18. August 2006
Eine halbe Stunde früher (10:20 Uhr)
Amalia öffnete die Augen. Sie richtete sich auf und ertrank fast in einem Schwall Sterne, der sofort vor ihren Augen tanzte.
Die Bodenfliesen des kleinen Bades, das an das Therapiezimmer angrenzte, waren so eiskalt wie ihre Finger, die darauf geruht hatten. Es war still bis auf das Atmen von Dr. Renard und das Ticken der Wanduhr. Der Geruch von billigem Potpourri und Desinfektionsmittel hing in der Luft. Und noch etwas anderes, das sie nicht erkannte. Es roch irgendwie süßlich.
Schon wieder keine Erinnerung an das Vorangegangene, dachte sie. Vorsichtig ergriff sie das Waschbecken, zog sich hoch und betrachtete dann ihr Gesicht im Spiegel. Das Waschbecken war klebrig, und als sie den Blick senkte, erkannte sie, dass es voller Blut war, ebenso wie ihre Handgelenke, der Boden und ihre Kleider. Eigenartig, sie spürte fast nichts, empfand nur ein federartiges Gewirk aus Unsicherheit und Angst, das ihre Seele einschnürte.
„Was … mache ich hier“, begann sie.
Sie musste die Blutung stillen, das war vorerst einmal das Wichtigste. Neben dem Spiegel hing ein Erste-Hilfe-Kasten an der Wand, darin fand sie Mullbinden und Heftpflaster. Amalia legte einen provisorischen Druckverband an und sah dann das Rasiermesser. Es blitzte kurz in ihrem Gedächtnis auf, ebenso wie Dr. Renard, dessen wahnwitziger Ausdruck in den Augen, seine Hand mit der Klinge zwischen den Fingern, wie er auf sie zustolperte und dann …
Sie schüttelte den Kopf. Das konnte nicht sein, er wollte ihr helfen. Mechanisch ließ sie den Blick über das Chaos wandern, von dem sie bis jetzt unbemerkt umgeben gewesen war. Zwischen der offenen Badetür und dem Therapiezimmer lag Dr. Alfred Renard seitlich auf dem Boden. Ihre Handtasche lehnte weiter hinten an der Couch. Der Stuhl des Psychologen war umgeworfen worden, die Orchidee vom Schreibtisch gefallen. Rindenstücke lagen verstreut um den Topf herum.
Renard ächzte plötzlich, ein Zittern ging durch seinen Körper.
„Du kleines Miststück“, japste er, „was fällt dir ein.“
Amalie machte eine Kopfbewegung und blickte ihm dann direkt in die Augen. Wieder blitzte die Klinge in ihrem Kopf auf, aber dieses Mal wusste sie bestimmt, dass der Psychologe sie in der Hand gehalten hatte und nicht sie selbst.
„Sie waren das, Sie wollten mich umbringen. Und es dann wie meinen Freitod aussehen lassen.“
„Sie“, er schnappte nach Luft, „Sie brauchen ja noch dringender Hilfe, als ich dachte.
„Hätten Sie sich lieber jemanden ausgesucht, der nicht beschlossen hat, um sein Leben zu kämpfen.“
„Frau Falb, lassen Sie mich Ihnen doch helfen.“ Er stützte seinen Oberkörper jetzt mit einer Hand ab und brachte ein Lächeln zustande. „Dann sehe ich von einer Anzeige ab und wir setzen die Therapie fort.“
Amalie blieb die Luft weg, ihr Herz verkrampfte sich und plötzlich spürte sie ganz deutlich ziehende Schmerzen in den Handgelenken.
„Ich glaube Ihnen kein Wort.“ Etwas Besseres fiel ihr nicht ein.
Renards Gesicht verfinsterte sich. „Das hat man davon, wenn man solche Weiber nur halb erledigt“, sagte er zu der Luft vor sich. Dann rappelte er sich hoch.
Etwas Ähnliches wie eine U-Boot-Sirene schrillte in Amalias Hirn auf. Ihr normales Denken klickte sich weg und dann ging alles rasend schnell.
Renard stürzte ins Bad, Amalie wich zurück und drehte sich weg. Er bekam ihren Arm zu fassen und zog sie zu sich. Amalia schrie auf und versuchte sich wieder los zu reißen.
„Du willst sterben. Sieh es ein, ich werde das für dich übernehmen, wenn du zu feige bist.“
„Lassen Sie mich los! Sie sind doch hier der Verrückte!“ Amalie zerrte noch heftiger.
Plötzlich quietschte etwas. Renard rutschte auf dem Blut aus, stürzte und knallte mit dem Kopf gegen das Waschbecken. Er riss Amalia mit sich, die neben ihm zu Fall kam und mit dem Gesicht gegen die Tür stieß.
Nur Augenblicke später war Amalie wieder auf den Beinen. Der Therapeut lag röchelnd und mit einem Zahn weniger im Kiefer in ihrem Blut und zuckte unkoordiniert. Auf einmal streckte er eine Hand nach ihren Beinen aus.
Amalie stieß einen spitzen Schrei aus und rannte aus dem Bad. Sekundenlang überlegte sie, was zu tun sei, dann stürzte sie zum Schreibtisch, griff sich eine Visitenkarte und kritzelte ‚Glaub seinen Lügen nicht’ an den unteren Rand.
Sie warf das Papier in ihre Tasche und stand schon im Türrahmen, als sie noch einmal zurücklief. Die Autoschlüssel des Therapeuten lagen ebenfalls auf dem Schreibtisch.
Freitag, 18. August 2006
Zwei Stunden früher (08:20 Uhr)
„Wie lange sind Sie schon in diesen Foren aktiv?“
„Spielt das eine Rolle? Ich bin jetzt hier, punkt.“ Amalia saß auf der Couch von Dr. Alfred Renard, der ihr von LostSoul, einem Mitglied und Chatfreund, empfohlen worden war. Sie hielt den Blick gesenkt und hatte die Hände in den Schoß gelegt. Gedankenverloren rieb sie den Lack von den Nägeln und sah sich verstohlen im Raum um. An den Wänden hingen gerahmte Rorschachtest-Bilder, der moccafarbene Teppichboden war an einigen Stellen unsauber verlegt worden und wellte sich. Die Oberfläche erinnerte Amalia an ein Maulwurffell. Papierstapel türmten sich auf dem Schreibtisch, der die Mitte des Raumes dominierte. Es roch nach kaltem Zigarettenrauch und schwach nach Desinfektionsmittel. Außer der Tür, durch die sie gekommen war, gab es noch eine weitere, auf der ein kleines Schild mit der Aufschrift ‚Bad’ angebracht war. Das große Fenster hinter dem Schreibtisch war zur Hälfte durch einen schweren Vorhang verdeckt.
„Das war die richtige Entscheidung“, sagte der Doktor und kramte in irgendwelchen Papieren auf dem Schreibtisch. Amalia schätzte ihn auf höchstens dreißig.
Und sie kostet mich fünfzig Euro, dachte Amalia, wieso ist Bahn fahren so verflucht teuer geworden?
„Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Sucht, in einem Forum präsent zu sein, und die dadurch vernachlässigte Ernährung häufig zu einem angegriffenen Gesundheitszustand führt. Haben Sie Probleme beim Schlafen?“
Amalia nickte stumm und dachte an die vergangenen Monate zurück. Kaum mehr als drei Stunden Schlaf pro Nacht waren die Regel. Wie sonst hätte sie in der Lage sein können, in vier Foren über zweieinhalbtausend Beiträge zu schreiben und sich nebenbei in den Chatrooms einen Namen zu machen. Während des Schlafens hatte sie immer das Gefühl, etwas zu verpassen. Auch jetzt, in diesem Augenblick.
„Mir geht es gut. Soweit. Bis auf diese Sache“, äußerte sie vorsichtig.
„Daran werden wir arbeiten. Wollen Sie mir etwas über Ihre Gedanken verraten? Ich höre zu“, sagte er und sah ihr nun in die Augen.
Was würden wohl ihre Freunde davon halten, wenn sie sich einem Nichtmitglied öffnete, sich ihm anvertraute? Das käme Hochverrat gleich.
„Können Sie mir nicht einfach etwas verschreiben, damit diese Sinnlosigkeit vergeht? Ich will so nicht weitermachen.“
„Mit chemischen Mitteln werden wir dieses Problem nicht lösen“, sagte er sanft.
„Aber ich habe gehört, Suizidgedanken können von einem chemischen Ungleichgewicht im Gehirn verursacht werden, punktpunktpunkt.“
„Es ist wahrscheinlicher, dass andere Mitglieder Sie ermuntert haben und nun den Druck erhöhen.“
„Glauben Sie?“ Amalia wehrte sich gegen diese Vorstellung.
„Die Vorgehensweise ist oft identisch. Darum müssen wir vorerst die Abhängigkeit … Wie wollen Sie es tun?“
Amalia horchte auf. „Was?“
„Phenobarbital, Sprung vom Hochhaus oder vielleicht Rasierklinge?“ Renard sagte das ganz beiläufig und kramte wieder in den Unterlagen.
„Ich verstehe nicht.“
„Welche Methode?“
„Welche Methode?“
„Ja.“
„Was soll die Frage?“
„Oder vielleicht Schlaftabletten mit Wein?“
„Ich weiß nicht …“
„Doch, das tun Sie.“
„Ich weiß nicht, was das für eine Bedeutung haben sollte, grübel.“
„Sagen Sie es doch einfach.“
Sie zögerte. „Cutten.“ Amalia fand Renards Frage merkwürdig und rutschte unbehaglich auf der Couch hin und her.
„So?“
„Ja verdammt, ritzen, cutten, nennen Sie es, wie Sie wollen.“
„Wieso erzählen Sie mir das?“, sagte er nach einigen Augenblicken und betrachtete sie ernst.
„Sie haben mich doch gedrängt, es zu sagen, punktpunktpunkt.“
„Ich habe gefragt, ob ich Ihnen etwas zu Trinken anbieten darf.“
„Nein, das haben Sie nicht.“
„Was sollte ich denn sonst gesagt haben? Also, möchten Sie ein Glas Mineralwasser oder lieber einen Tee? Ich habe grünen und schwarzen da.“
„Nein, nichts. Planlos“
„Haben sie das schon lange?“
„Was denn?“
„Sie sprechen die Satzzeichen teilweise mit, und einzelne Wörter, die üblicherweise zwischen zwei Sternchen stehen.“ Er unterstrich das Gesagte mit einer Geste, die Amalia albern fand und fuhr fort: „Ein Nebeneffekt, der manchmal auftritt, wenn die Sucht schon länger andauert.“
„Ist das so?“ Ihre Gedanken schweiften ab. Sollte sie nicht lieber zuhause vor dem Rechner sitzen und schreiben, lesen, in Kontakt bleiben und ihre Beiträge zählen? Wäre es nicht besser, online zu sein und durchs Web zu gleiten, als hier zu sitzen und sich von der Orchidee auf dem Schreibtisch anstarren zu lassen?
Amalia saß jetzt wieder vor ihrem Rechner und war unter Freunden. Menschen, die dieselbe Leere wie sie empfanden, die keinen Sinn sahen, in nichts was sie taten oder je tun würden. Sie wurde zu Shadowrose, schrieb als Teardrop, chattete als gefallener Engel, und tummelte sich als Schwarze Lilie in den Suizid-Foren herum und genoss die Aufmerksamkeit und den Austausch. Das wahre Leben fand im Netz statt, dort wurde sie ernst genommen, dort wurde mit ihr gesprochen und ihr zugehört. Und dort wurde ihr nicht das ausgeredet, was sie entschlossen war zu tun. Sie wurde verstanden. Dann hörte sie etwas, das nicht dazupasste.
„Frau Falb, hören Sie mich? Frau Falb, wo sind Sie gerade?“
„Ich schreibe, stören Sie mich nicht. Außerdem ist das nicht mein Name.“
„Wie heißen Sie denn?“, fragte Renard mokant.
Das brachte Amalia zurück auf die Couch. Zerknirscht schwieg sie eine Zeit lang.
„Ich brauche Hilfe“, brachte sie endlich heraus, „dringend. Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Ich dachte, ich hätte endlich Leute gefunden, die mich verstehen. Das ist nicht der Fall, oder? Gerade war ich sicher, nicht hier zu sein, sondern vor meinem Rechner zu sitzen.“ Es tat gut, das einmal auszusprechen.
„Zweifellos können Ihnen diese Bekanntschaften mehr schaden als helfen. Den ersten Schritt haben Sie bereits getan. Sie sind hier und sprechen mit einer realen Person. Möchten Sie jetzt einen Tee?“ Er lächelte sie offen an. Amalia fasste einen Funken Vertrauen und willigte ein. Während der Therapeut das Heißgetränk holte, entspannte sie sich ein wenig. Vielleicht sollte sie nicht so reserviert an die Sache herangehen und sich mehr Mühe geben.
Dr. Renard kam zurück und entschuldigte sich, dass seine Empfangsdame krank sei und er den Tee selbst hatte zubereiten müssen. Er rollte ein Tischlein aus der Ecke und stellte das Tablett darauf ab. Dann setzte er sich wieder hinter den Schreibtisch.
„Nun, vielleicht wollen Sie mir erzählen, wie es begonnen hat?“ fragte er und blickte ihr aufmunternd in die Augen.
Amalia überlegte eine Zeit lang. „Ich bin nicht sicher. Es war Neugier, am Anfang wenigstens. Hmm. Und ehe man sich versieht, hat man das Gefühl, etwas zu versäumen, sobald man nicht rund um die Uhr online ist.“ Sie hielt inne.
„Ich verstehe. Und weiter?“
„Alles andere verliert an Bedeutung. Die Realität wird, wie soll ich sagen, grau. Unwirklich. Irgendwann bin ich mit LostSoul in Kontakt gekommen. Er war der Einzige, der mich ermutigt hat, gegen den Drang zum Suizid anzukämpfen. Das war wohl mein Glück. Wäre er nicht gewesen …“ Plötzlich fröstelnd wandte sie sich dem Tablett zu.
Neben der Tasse lag noch eine weiße Papierserviette mit einer Rasierklinge darauf. Amalia glaubte nicht, was sie da sah und wandte den Kopf, sah ein zweites Mal hin, ein drittes Mal. Doch das Bild änderte sich nicht. Sah sie jetzt schon Dinge, die gar nicht da waren?
„Was soll das?“, fragte sie schließlich mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube und deutete mit dem Zeigefinger auf den Tisch.
Renard zuckte die Achseln und kräuselte die Lippen zu einem einseitigen Grinsen. „Sie sagten doch selbst, sich fürs Cutten entschieden zu haben, nicht wahr?“
„Ja, aber ...“
„Wollen Sie den Tee nicht versuchen?“ Er stand auf und stützte sich mit den Händen an der Kante des Schreibtisches ab. „Oder hat Sie der Mut verlassen, wie?“
Amalia blickte abwechselnd zu der Klinge und zum Therapeuten.
„Was soll das für eine Therapie sein?“
„Eine, die hilft“, sagte er und kam hinter dem Schreibtisch hervor. Amalia fühlte sich noch unbehaglicher als zuvor. Der Therapeut schien es darauf anzulegen, sie vollkommen zu verwirren.
„Sehen sie die Tür dort drüben?“ Er deutete zu der Tür mit der Aufschrift ‚Bad’. „Nehmen Sie die Klinge und gehen Sie dann in das Badezimmer“, forderte Renard sie auf. Er war noch näher getreten und sprach in einer Art, die keinen Widerspruch duldete. „Und dann tun Sie verdammt noch mal das, was sie tun müssen!“
Amalias Mund wurde trocken, sie stand ohne ein Wort auf und griff zur Klinge. Er hatte ja Recht, wieso sollte sie sich unnötig quälen anstatt endlich einen Schlussstrich zu ziehen. Dennoch regte sich etwas in ihr, das widersprach.
„Die wievielte Therapiestunde haben wir heute, können Sie mir das noch verraten, Frau Falb?“
„Die erste“, wisperte sie, während ihr Blick auf das betörende Blitzen gerichtet blieb.
„Sind Sie sicher?“
Amalia antwortete nicht. Plötzlich wurde die Wirklichkeit eindimensional, es gab nur noch dieses Funkeln und sie selbst. Beinahe erleichtert über ihre Entscheidung nahm sie die Rasierklinge vorsichtig zwischen die Finger, ging in das Badezimmer und schloss die Tür hinter sich.
Eine Weile stand sie vor dem Spiegel und betrachtete ihre Gesichtszüge, während sie die Klinge zwischen die Finger gleiten ließ. Sie lauschte ihrem Atmen und verfolgte die Äderchen im Weiß der Augäpfel. Ihr Atem beschlug einen Teil des Spiegels. Alles war irgendwie merkwürdig, irreal. Von draußen drangen verschiedene Geräusche herein. Nur halb bewusst vernahm Amalia das Umfallen des Stuhls und den Blumentopf mit der Orchidee, der zu Boden fiel.
„Frau Falb!“, drang die Stimme ihres Therapeuten gedämpft durch die Tür. „Kommen Sie da raus, seien Sie doch vernünftig!“
Amalia legte die Klinge vorsichtig auf den Waschbeckenrand und griff gerade nach der Klinke, als die Tür aufgerissen wurde und Renard hereinstürmte.
„Was um alles in der Welt machen Sie denn da?“ Mit einem scharfen Blick musterte er erst sie und danach die Klinge. „Sie wollten doch nur kurz auf die Toilette, und dann nutzen sie die erstbeste Gelegenheit, um mit einem Suizidversuch meine Praxis in ein schlechtes Licht zu rücken!“ Er hob die Klinge anklagend hoch.
„Gehört das auch zur Therapie?“, fragte Amalia noch verwirrter als zuvor.
„Wir hatten doch schon solche Fortschritte erzielt und Sie hatten sogar beschlossen, Urlaub zu machen und ein Ticket nach Tokio gekauft. Erinnern Sie sich wenigstens daran?“
„Ich ... glaube nicht. Ich werde besser gehen“, brachte Amalia heraus und wollte zurück ins Therapiezimmer, um ihre Tasche zu holen.
„Das kann ich nicht zulassen.“ Renard drängte sie zurück ins Bad und langte nach ihrem Unterarm. Sein Griff war erschreckend fest.
„Was soll das?“, presste Amalia hervor, „lassen Sie mich gehen!“
„Zu spät meine Liebe.“ Damit drückte er sie gegen die Wand. Seine Augen waren jetzt weit aufgerissen und schienen im Halbdunkel zu leuchten.
Er wird mich umbringen schoss es Amalia durch den Kopf. Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gedacht, spürte sie einen brennenden Schmerz in ihrem linken Handgelenk. Im selben Augenblick wurden alle Nervenenden überlastet, brannten beinahe durch.
Amalia versuchte, sich zu bewegen, war aber nicht fähig auch nur einen Finger zu krümmen. Renard ließ ihren Arm los und packte den zweiten.
„Gleich haben wir es geschafft“, verkündete er.
Amalia versuchte zu sprechen, brachte aber nur ein trockenes Gurgeln zustande. Nein, nein, nein, zuckte es durch ihren Kopf. Dann sah sie etwas Verschwommenes,
roch etwas Fremdartiges, hörte etwas Unvertrautes und wusste irgendwie, dass es die Zukunft war, ihre Zukunft, Tokio um die Mittagszeit.
Ein weiterer Schmerz, nicht so intensiv wie der erste, doch dieses Mal reagierte sie sofort. Mit aller Kraft warf sie den Oberköper gegen den des Therapeuten und stützte sich dabei an der Wand ab. Der Mann ließ überrascht von ihr ab. Amalia nutzte die Gelegenheit und rammte einen Fuß zwischen die Beine des Doktors. Er jaulte auf wie ein Hund. Instinktiv stieß sie das Knie nach, direkt in seinen Unterleib, worauf er einen erstickenden Laut ausstoß und sabbernd auf die Seite fiel.
Ihr Herz hämmerte wie verrückt und pumpte Blut aus den Wunden. Sie atmete so heftig, dass ihre Lungen brannten. Mit den Händen über dem Waschbecken überlegte sie angestrengt, was sie jetzt tun sollte.
Wieder schien der Duft von Süßkartoffeln und Reisbällchen eine unsichtbare Hand auszustrecken. Tokio, dachte sie, ehe eine wohlige Schwärze sie umschmeichelte und sie ganz langsam zu Boden glitt.
Samstag, 19. August 2006
Der folgende Tag (19.50 Uhr)
E-Mail-Betreff: „Fall ‚Amalia Falb’ abgeschlossen“
Hi LostSoul,
Deiner E-Mail entnehme ich, dass Amalia in Tokio angekommen ist. Somit wäre der Fall abgeschlossen. Cool, sie hat’s echt gepackt. Hat meine Weichteile erwischt und mir eine Schneidezahn gekostet das Biest, aber was tut man nicht für einen Erfolg. *ächz* Brauchte drei Stunden im Bad, ist das zu glauben? Jetzt ist’s wie geleckt. *schlupp*
Hab’ sie mächtig verwirrt, tat mir ganz schön Leid, die Kleine. Du hättest ihren Gesichtsausdruck sehen sollen, als sie die Klinge gesehen hat. Gruselig sag’ ich Dir, fast zum Fürchten.
Deine Infos über ihre Vorlieben (ich sag’ nur Japan) und Deine Vorarbeit in ihrer Wohnung waren wie üblich von unschätzbarem Wert für das positive Ergebnis. Du verstehst es eben, Deinen Part zu erfüllen )
Yo, dann können wir das nächste Mitglied therapieren. Bin für alle Vorschläge offen, obwohl Cutter die einfachsten Fälle sind. ) Lass mich nicht so gern von ’nem Hochhaus rempeln, wie Du weißt … *lol*
Du musst noch mal zum Flughafen raus (Wien!) und mir meinen Wagen zurückholen. Die Ersatzschlüssel findest Du in unserm Spind Nr. 23 auf dem Hauptbahnhof. Ich werd’ in der Zwischenzeit ein neues Messingschild raufpappen und die Visits drucken lassen.
Wir hören dann voneinander. Bis dahin let’s rock boyyy!
Gruß, Bodypain
(Renard, bald … äh … hast Du Vorschläge? Mir gehen die Ideen aus …)
P.S. Was hältste davon, die Forumsmusik mal zu ändern?