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Bessere Zeiten

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21.03.2005
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Bessere Zeiten

Was ihn hierher verschlagen hatte, wusste er nicht. Nicht mehr. Nach über zwanzig Jahren hatte er es vergessen. Seine Frau fickte den Postboten, aber es war egal. Warum er sie geheiratet hatte, wusste er auch nicht mehr. Vermutlich, weil er sie auf der Rückbank seines Dodges bestiegen hatte.
Er schaute zum Himmel. Die Sonne brannte. Sie würde wahrscheinlich den Boden ausdörren und die Ernte zunichte machen, aber auch das war egal. Nichts war mehr wichtig. Nicht für ihn.
Blue Haven war ein Ort der Träume. Die Mädchen träumten davon, in die Großstadt zu gehen und Sängerin zu werden, die Jungs träumten davon, die Mädchen befummeln zu dürfen und die Farmer träumten davon, ihre Kühe zu ficken.
Er haßte dieses Kaff. Ein paar Verrückte hatten eine Handvoll Häuser mitten in der Wüste von Nevada errichtet und den Ort ausgerechnet „Blue Haven“ genannt. Was für ein Witz - es gab kaum fließend Wasser. Angewidert spuckte er aus. Der Ort war ein Provinznest wie es im Buche stand. Traurig und erbärmlich. Mit seinen knapp siebenhundert Einwohnern glich es an manchen Tagen eher einem großen Familienfest und wahrscheinlich war es das auch. In Blue Haven war es egal, wer mit wem schlief und Inzest war beinahe an der Tagesordnung.
Überall schlug einem hier feuchte, schwüle Sehnsucht entgegen. Die Luft roch danach, das Essen schmeckte danach, die Sehnsucht lebte in jeder Ecke, jedem Winkel, ja, manchmal hatte er sogar das Gefühl, als schwitzten die Leute Sehnsucht. Ihre stumpfen Blicke huschten umher, suchten den Horizont nach einer Staubwolke ab, die den Besuch eines Autos aus der großen Stadt verhieß. Eine Veränderung in ihrem schmalen Schubladendenken. Ein Wind, ein Wirbel vielleicht, der sie in seinem Sog mitriss in die große, weite Welt. Kam eine solche Staubwolke, ging ein schmerzliches Stöhnen durch die Stadt als wäre sie ein großes, atmendes Tier. Man schien förmlich zu merken, dass die Leute zu leben begannen. Der trübe Schleier wich von den stumpfen Augen, damit sie bereit seien, zu sehen, was da kam. Die Körper strafften sich, damit sie bereit seien aufzuspringen auf das Rad des Lebens. Armselige Idylle.
Der Mann, der sein Vater gewesen war, hatte ihm diese Idylle schöngeredet. Hatte ihm die Farm aufschwatzen wollen, aber er hatte immer Nein gesagt. War nach seinen Besuchen immer wieder in die Stadt gefahren, aus der er gekommen war. Doch bei einem dieser Besuche hatte er dieses Mädchen gefickt, sie war schwanger geworden und sein Vater hatte ihn nicht wieder gehen lassen. Er hatte ihm zunächst nur nahe gelegt zu bleiben, dann hatte er ihn gebeten und schließlich hatte er es ihm befohlen. Er selber war damals achtundzwanzig Jahre alt - erwachsen - und er hätte seinem Vater die Bitte auch genauso gut abschlagen können. Niemanden im Ort hätte es gekümmert, ob er ging oder blieb. Mochte der Himmel wissen, wie viele Mädchen in Blue Haven von Durchreisenden geschwängert und sitzen gelassen wurden.
Er konnte nicht sagen, was ihn letztlich dazu bewogen hatte, dem Drängen seines Vaters doch nachzugeben - vielleicht war es die Angst vor dessen Autorität, aber wahrscheinlich doch eher pure Bequemlichkeit. Ein Leben, in dem man sich um nichts sorgen musste, weil alles von vorne herein auf geregelte Bahnen festgelegt war, war ihm lieber als das hektische Dasein eines Großstadtsingles, das ihm blühte.
Das Mädchen war rotbackig und derb gewesen - nicht annähernd hübsch zu nennen. Kein Vergleich zu den schlanken Frauen der Stadt, die sich die Lippen anmalten und die Beine rasierten. Diese Frauen waren kultiviert, elegant, redeten von Kino und Varieté. Sie bestellten sich Martini und zierten sich, wenn man sie anmachte. Dieses Mädchen aber war anders. Sie war nicht rasiert, ihre Haut war nicht weich und duftend. Sie hatte ein bisschen Mundgeruch, war grobschlächtig und ungeniert. Aber sie war auch nett und natürlich, auf ihre eigene Weise amüsant. Bei ihr konnte er sich gehen lassen, er musste nicht auf seine Manieren achten und nicht zuletzt hatte sie bereitwillig die Beine breit gemacht, als er sie angefasst hatte. Schließlich hatte er sie gefragt, ob sie ihn heiraten wolle und sie hatte ohne zu Zögern Ja gesagt. Wahrscheinlich träumte sie davon, dass er wieder in die Stadt zurückkehren und sie mitnehmen würde.
Träume. Alle träumten. Er auch.
Etwa ein Jahr nachdem er den Entschluss gefasst hatte zu bleiben, war er Hilfssheriff geworden und nach weiteren zehn Jahren war er zum Sheriff aufgestiegen. Und in all den Jahren hatte er immer nur davon geträumt, einmal einen wirklichen Kriminellen zu verhaften. Doch die einzigen, die seine Zelle je von innen gesehen hatten, waren Wilbur Jennings, der als Dorfsäufer bald jede Woche zweimal sein Gast war, Sally Maples, die vor drei Jahren in rasender Eifersucht wie eine Furie auf ihren Mann losgegangen war und schließlich ein Bauarbeiter namens Washington, der in Miller's Drugstore zu stehlen versucht hatte. Das war in der Zeit des Umbruchs gewesen, als Blue Haven erschlossen wurde und glänzende Maschinen und fremde Menschen in die Stadt gekommen waren. Große Aufregung hatte es damals gegeben und eine Handvoll junger Leute hatte die Gunst der Stunde genutzt und war mit den Arbeitern in die Welt außerhalb von Blue Haven gereist.
Er lächelte müde - wer konnte es ihnen verdenken? Hier passierte so gut wie nie etwas. Selbst der vierte Juli wurde langweilig begangen. Desgleichen Thanksgiving und Weihnachten. Ein paar Girlanden hier, einige Fähnchen dort und im Dezember ein verkleideter Weihnachtsmann, der bei 40°C im Schatten und inmitten des Wüstenstaubes wie eine Karikatur seiner selbst wirkte.
Er seufzte. Das war wirklich das einzige, was es hier im Überfluss gab - Staub. Er klebte in Kleidung und Haaren, beim Sprechen knirschte er zwischen den Zähnen und unter den Fingernägeln bekam man ihn schon längst nicht mehr weg. Man konnte sich die Augen reiben, so viel man wollte, man hatte immer das Gefühl, durch einen dünnen Nebel zu sehen. Die Farben, so fern in Blue Haven überhaupt vorhanden, waren blass und verwaschen, die Gesichter wirkten grau, was zwar weitestgehend den Gemütern der Einwohner entsprach, ihnen jedoch das Aussehen von Toten verlieh. Die Frauen fluchten, weil eines immer blieb, so sehr sie auch schrubbten: der Staub. Wenngleich er nur aus winzigkleinen Sandkörnern bestand, so bildeten sie doch in ihrer Masse ein Gewicht, das einem das Atmen erschwerte. Über der ganzen Stadt lag der Staub wie eine unsichtbare Last, die die Bewegungen wie in Zeitlupe erschienen ließ. Manchmal schien es ihm, als hätte der Staub sogar Einzug in die Köpfe der Menschen gehalten, ihre Gedanken waren gedämpft, langsam, wie betäubt.
Wer wahnsinnig genug war, hierher zu ziehen, wurde innerhalb kürzester Zeit wie sie - entweder brutal, gewalttätig, allem Neuen feindselig gegenüber gestellt oder stumpf und wie tot.
Ein Auto kam die Straße entlang, doch bis er den Weg aus seinen Gedanken zurück in die Wirklichkeit gefunden hatte, war es vorüber. Er hatte nicht mehr erkennen können, wessen Wagen es war. Es gab wenige Autos in Blue Haven und tatsächlich hätten Pferdefuhrwerke viel besser in diese Idylle gepasst. Blue Haven war das, was man noch vor hundert Jahren eine Westernstadt genannt hätte und an manchen Tagen, wenn die Windhexen durch die Straßen geweht wurden, wirkte es auch heute noch so. Die Kneipe hieß zwar nicht Saloon, sondern „At Cesar's“ und statt eines klimpernden Klaviers war Glenn Miller aus einer nagelneuen Wurlitzer-Musicbox, die im übrigen Cesars ganzer Stolz war, zu hören; außerdem war die Straße asphaltiert, aber es hätte ihn dennoch nicht gewundert, wenn von Zeit zu Zeit eine Kutsche vorbeigekommen wäre.
Er ließ den Blick über das Straßenbild gleiten. Abschätzig stieß er die Luft durch die Nase - ja, wirkliche Männer mit Cowboyhüten und rauchenden Colts, die gehörten hierher. Nicht diese engstirnigen, geschwätzigen Dorftrottel, von denen bald jeder eine Waffe besaß. Seine Hand klammerte sich vor Zorn fester um den Lauf seiner Remington. Die meisten gebärdeten sich so, als würde sich allein der Besitz einer solchen in irgendeiner Weise positiv auf ihre Schwanzlänge auswirken. Wieder machte er diesen abschätzigen Laut. Großkotzig, laut und zügellos, das waren sie. Gesteuert von ihren Trieben und Sehnsüchten, einfältig und kleinkariert. Und im Grunde unschuldig. Er konnte ihnen aus ihrem Wesen keinen Vorwurf machen - sie waren Gefangene ihrer kleinen Welt. Nicht fähig, die Fesseln abzustreifen und sich von dem Joch der Landschaft zu befreien. Nicht kräftig genug, ihr Wohl in die eigenen Hände zu nehmen. Vielleicht wussten sie auch gar nicht, was ihr Wohl war.
Er selber hatte es lange nicht gewusst. Er hatte sich immer gefragt, was er hier tat, zwanzig Jahre lang. Wie oft schon hatte er den Drang unterdrückt, einfach ins Auto zu steigen und wegzufahren. Irgendwohin. Eine Reise ohne Ziel. Jeder Ort war besser als dieser. Doch jedes Mal hatte er sich gesagt, dass er sich seiner Verantwortung nicht entziehen konnte. Verdammt - welcher Verantwortung? Als Sheriff? Es gab nichts zu tun für einen Sheriff in Blue Haven. Lange nicht.
Irgendwann hatte sich dann ein Gedanke immer mehr herauskristallisiert: er wusste, dass er ihnen helfen musste. Zunächst hatte er nicht gewusst, wie. Er hatte sich Tage und Nächte den Kopf zermartert, jedoch ohne Erfolg. Es musste aber einen Weg geben, die Schablone um sie herum aufzubrechen. Und plötzlich war ihm ein Licht aufgegangen - der rettende Einfall, die Lösung all ihrer Probleme. Alles war ganz klar gewesen. Und von da an hatte er nur noch auf den richtigen Zeitpunkt gewartet. Heute war er da. Schon beim Aufstehen hatte er gemerkt, dass die Umstände heute günstig waren. Er war entschlossen, die Dinge anzupacken und Nägel mit Köpfen zu machen. Seine Zeit war gekommen.
Er hatte den ganzen Vormittag gewartet, hatte sein Gewehr gereinigt, sorgfältig wie er es immer tat, hatte sich alles zurechtgelegt, was er brauchen würde. Später hatte er dann in der Türfüllung des kleinen Sheriff-Büros gelehnt, die Hand in der Tasche mit der Munition.
Über mehrere Stunden hatte er nur dagestanden, war seinen Gedanken nachgehangen und hatte die Menschen beobachtet. Und als er sich jetzt aus dem Schatten der Veranda löste, war er sich so sicher wie nie zuvor in seinem Leben. Langsam überquerte er die Straße. Er ließ sich Zeit, war ganz ruhig.
Alles würde gut werden.

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Epilog


“Ely Gazette“, 23. Juli 1957:
Amoklauf

Ely - In Blue Haven, einem kleinen Ort südwestlich von Ely, lief am vergangenen Wochenende der 53-jährige Sheriff, Eddie Silverman, Amok. Bei dem Blutbad wurden dreizehn Menschen getötet und sieben zum Teil schwer verletzt. Unter den Toten befand sich außer vier Kindern Silverman selbst, der sich nach der Tat durch einen Kopfschuss tötete. Der offensichtlich geistesgestörte Mann eröffnete am Sonntagvormittag auf der Hauptstraße das Feuer auf ahnungslose Passanten. Über das Motiv des Täters, den Anwohner als ruhig und zurückhaltend beschreiben, gibt es bislang keine Anhaltspunkte.

 

Hallo Der Weg,

so bin ich angefangen zu schreiben. Ich habe kleine DPA-Meldungen in der Zeitung zu Geschichten ausgebaut. Und eine gute Stilübung ist das noch immer. Gerade, wenn man sich überlegt, wie es zu der Meldung kommt, was im Vorfeld passiert sein könnte.
Dein Sherrif ist mir in seiner kühlen Distanz schon fast zu kalt. Sein Amoklauf ist ja von einer irrationalen Überlegung geleitet. Er dreht nicht einfach durch, er fantasiert sich eine Rettung in seine Haltung hinein. Dadurch wird es für mich noch nicht ganz glaubwürdig, dass er losläuft und schießt. Vielleicht baust du den Tag vor dem ersten Schuss noch ein bisschen aus, malst seine vcorbereitungen noch akribischer und hängst dich noch ein bisschen merh an seine Gedanken, die die Realitätsverzerrung deutlicher machen.
Stilistisch hat mir die Geschichte gut gefallen.

Ein Detail noch:

Wulitzer-Musicbox
Die heißen Wurlitzer

Lieben Gruß, sim

 

Hi sim,

danke für's Lesen und Kommentieren!

Bei mir stand eigentlich zuerst die geschichte auf dem Papier. Der "Zeitungsartikel" ist mir erst später eingefallen.

Also, ich muss sagen, dass ich die Beweggründe des Sheriffs schon glaubwürdig fand - auch nach mehrmaligem Lesen kann ich Deiner Kritik nicht beipflichten. Aber in der Angelegenheit höre ich mir auch gerne noch weitere Meinungen an ... ;o)

Das mit der Wurlitzer war mir nicht aufgefallen. Danke - ist schon korrigiert.

Gruß,
M.

 

Hallo Der Weg!

Deine Beschreibungen zu dem Städtchen in der Provinz sind sehr treffend fomuliert und ich konnte mir ein gutes Bild über diesen verlassenen Ort machen. Auch die Stimmung der Leute und die Aussichtslosigkeit ihrer Lebensumstände hast du gut rübergebracht.
Allerdings wird mir in dem Dörfchen ein bisschen zuviel gefickt. :(
Dass das eine normale Tätigkeit ist ... darüber brauchen wir nicht zu diskutieren. Allerdings kommt es mir zu oft in dem Text vor. Ein bisschen weniger ficken macht die Eindrücke nicht weniger intensiv.
Der Tag vor dem Amoklauf kommt wirklich etwas zu kurz. Du schreibst: Er hatte sich Tage und Nächte den Kopf zermartert, ....
Ich würde die Beschreibungen am Anfang etwas kürzen, dafür aber die Gedankengänge des Protagonisten etwas ausführlicher schildern.

Gruß,
Theo

 

Hi Theo,

tja, mir scheint, in der Schriftstellerei scheiden sich am Ficken die Geister.
Mit dem Wort als stilistischem Mittel kann man wohl entweder etwas anfangen oder eben nicht. Ich persönlich kann. Das Kind hat einen Namen, da kann ich ihn auch nennen. Alle anderen Namen erinnern mich zu sehr an Biedermeier ... ;o)
Insofern verzeih', aber in der Wüste wird weiter gefickt.

Was die Ausmalung der Tage vor dem Amoklauf angeht: nun ja, eigentlich hatte ich nicht das Gefühl, dass seine Beweggründe unklar bleiben. Seine Tat entzündet sich ja an der Stadt und ihren Bewohnern und von daher finde ich auch die ausführliche Darstellung derselben völlig legitim.

Aber ich lasse mich dahingehend auch gerne von der Bühne buhen ... ;o)

Danke für's Kommentieren!
Gruß,
M.

 

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