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Besuchszeit

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22.09.2008
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Besuchszeit

Lange Gänge, weiße Kittel, gemischt mit den Grünen. Die Grünen sind in der Überzahl, doch die Grünheit ist weiblich oder zivildienerisch.

Es gibt auch weibliche Weißkittel, aber die ziehen für gewöhnlich keinen Tross von Klemmbrettträgern hinter sich her, der Leute wie mich an die Gangwände wischt, allein durch das Moment ihrer Überlegenheit.

Ich erreiche über verschlungene Umwege die richtige Tür und krame meinen Zettel aus der Tasche. Ich wollte was Aufmunterndes schreiben, mit ein paar Anekdoten aus unserer gemeinsamen Schulzeit, aber schon der Anfang liest sich wie ein Nachruf.

Eine Grüne fährt einen Greis im Rollstuhl vorbei, der nachwehende Geruchscocktail besteht aus zwei Teilen Desinfektionsmittel und einem Teil brandigem Fleisch. Ich beginne zu schwitzen und spüre den Fluchtimpuls. Ich kann so nicht reingehen und banale Freundlichkeiten stammeln, ich wollte doch…

Ich drehe um und gehe rasch Richtung Ausgang und überlege mir, was ich wirklich wollte. Mich etwa durch ein paar Zeilen vor einer Kranken profilieren? Nein, so armselig will ich nicht sein.

Vor dem Ausgang ist eine Cafeteria, ich setze mich in den Raucherbereich und bestelle ein Bier, rauche.

Ich versuche mein Geschreibsel noch irgendwie zu retten und gebe schnell auf, jede Korrektur macht es noch mehr zu einer Grabrede. Ich starre dem Zigarettenrauch hinterher; sie hat niemals geraucht. Wie unfair das Ganze ist, wie fantastisch ungerecht.

Während ich meine Zeit in seelenlosen Jobs verplempert und auf meine Gesundheit jeden Tag geschissen habe, hat sie sich fein geschliffen zu einem wertvollen Schmuckstück. Studium, natürlich, diese soziale Sache in Südamerika – immer voller positiver Energie, immer mit einem Ziel vor Augen.

Nicht Geld, obwohl ihr Geld natürlich wichtig war, nicht für sich selbst, sondern um etwas bewegen zu können, für Forschungsreisen, für diese Schule in Peru.

Ich merke, dass ich in Gedanken schon wieder vor ihrem Grab stehe, dass ich sie bereits abgeschrieben habe, und ich schäme mich dafür. Ist es der Neid auf ihren Willen, auf ihre Intelligenz und ihre Integrität, der mich so reagieren lässt?

Der Hass des Schwachen auf die Starke? Die Starke, die nun schwer krank ist, flüstert dieses Gift in mir und die Scham überkommt mich wieder.

Ich schlage mit der Faust auf den Tisch und das Bier schwappt über. Die Leute starren mich an. Schweiß rinnt aus meinen Achselhöhlen. Es ist auch viel zu warm hier, der Krankenhausgeruch übertüncht sogar den dichten Zigarettenqualm.

Ich stehe hastig auf, bezahle und flüchte ins Freie. Draußen nieselt es angenehm, die kleinen Tropfen kühlen mein erhitztes Gesicht.
Ich werfe meinen Zettel in den nächsten Mülleimer und beschließe ihr ein Geschenk zu besorgen.

Ein Buch, Bücher sind immer gut. Ich irre durch die Stadt, zu Fuß natürlich, für einen Orientierungskrüppel wie mich ist es gefahrloser sich langsam zu verirren.

Schließlich finde ich eine Biografie über einen südamerikanischen Befreiungstheologen, einen tollen Mann, der viel für seine Gemeinde getan hat, für die Armen, für die Kinder. Ein integrer Mann, der gelebt hat, was er predigte. Er wurde schließlich von der rechten Junta ermordet.
Vor der Buchhandlung begreife ich, dass ich ihr das nicht schenken kann.
Ich bin ein Trottel, wenigstens das sehe ich ein.

Ich gehe wieder rein um das Buch umzutauschen und bleibe bei einem Bildband über Griechenland hängen. Diese weißgekalkten hübschen Häuser beschwören die kleine Liaison herauf, die wir auf der Maturareise miteinander hatten. Nichts wirklich Ernstes, sie warf dem kleinen Kater ab und zu ein Spielzeug hin und als es richtig körperlich zu werden drohte, schmiss sie mich aus dem Bett.

Ich muss lächeln. Es war sehr spannend gewesen und sie sehr schön, braungebrannte Haut, an der die Meerwassertropfen abperlten wie an einer Statue. Damals hat sich noch keiner Gedanken über Hautkrebs gemacht.

Ich zucke zusammen, stelle den Band zurück ins Regal und flüchte mit rotem Gesicht aus der Buchhandlung. My mind is a minefield.

Ich muss mich zusammenreißen, ich werde das jetzt hinter mich bringen. Zurück zum Krankenhaus also, in meinem Fall auf dem denkbar längsten und umständlichsten Weg.

In der kleinen Boutique, die unweigerlich wie Blutegel an allen Hospitälern hängen, kaufe ich einen Strauß Blumen.
Wieder dieser antiseptische Geruch, wieder die weißen und grünen Kittel, wieder der Angstschweiß.
Ihr Bett ist leer.

 

Hallo phiberoptic,
ich fand deine Beschreibung der Ambivalenz vor dem Krankenbesuch oder vor dem Kontakt mit Krankheit und Tod eindrucksvoll.
Es fehlt vielleicht etwas die Entwicklung der Geschichte oder die direkte Konfrontation mit der Situation selbst, die du aussparst.
Daher findet alles nur im Kopf des Prot statt.
So wie es aussieht, vermeidet der Prot die Konfrontation bewußt, in dem er zunächst wieder aus dem Krankenhaus flüchtet, nachdem er dort rationalisierend über Hierarchien im Gesundheitsbusiness philosophiert hat.
Der tatsächliche Kontakt wäre vielleicht interessanter. ;-)

Ein paar Kleinigkeiten:

sie warf dem kleinen Kater ab – und zu ein Spielzeug zu

Den Strich zwischen ab und und verstehe ich nicht

Das Wort antiseptisch kannte ich bisher nicht. Es ist laut Google-Suchergebnisliste aber sogar häufiger als das mir bekannte aseptisch.

Gruß
tomtom

 

Hallo phiberoptic!

Ich finde die Geschichte sehr gelungen, mir hat da nichts gefehlt. Nur den Einstieg (die Gedanken über die Krankenhaushierarchie) finde ich nicht so recht zur Geschichte passend; wobei ich sie anfangs interessant fand, aber da kannte ich den Rest der Geschichte noch nicht. Vielleicht findest Du ja noch einen anderen Anfang, der besser zum Thema paßt? Ich hab das Gefühl, es ging Dir dabei vor allem darum, zu beschreiben, daß der Protagonist in einem Krankenhaus ist, ohne es direkt zu nennen - das ließe sich bestimmt auch anders bewerkstelligen.

Der Titel, "Besuchszeit", ist mir etwas zu fad und nichtssagend - das kann für so vieles stehen, wo es Besuchszeiten gibt. Die Geschichte hätte sich einen interessanteren Titel verdient. ;)

Meiner Meinung nach geht es vordergründig nicht um das Vermeiden der Situation an sich (nachdem er sogar überlegt, ihr ein Buch zu schenken, hofft er offenbar, daß sie noch eine Weile lebt), sondern mehr um die Angst, etwas falsch zu machen, nicht das richtige Geschenk mitzubringen - was aber zum Hinauszögern der Situation selbst führt.
In Gedanken ist er zwar die ganze Besuchszeit lang bei ihr, aber eben nicht wirklich (was viel wichtiger als jedes Geschenk gewesen wäre), und schließlich kommt er doch zu spät. Wenn er nun erfährt, daß sie gerade erst gestorben ist, wird er sich vermutlich ewig Vorwürfe machen, daß er die Zeit so verplempert hat.

Ich merke, dass ich in Gedanken schon wieder vor ihrem Grab stehe, dass ich sie bereits abgeschrieben habe, und ich schäme mich dafür.
Möglicherweise hat er aber sogar gespürt, daß sie bereits tot war, und es wurde deshalb immer eine Grabrede. Dann konnte natürlich vom Gefühl her kein Mitbringsel mehr das richtige sein, auch wenn das Bewußtsein jeweils ganz andere Begründungen findet, warum dieses nicht paßt und jenes noch weniger.
Und die Lesart gefällt mir ehrlichgesagt viel besser als die mit der verplemperten Zeit. ;)

Eventuell könntest Du durch die richtige Titelwahl den Leser noch in die von Dir gedachte Richtung lenken, je nachdem, wie wichtig Dir die "richtige" Interpretation ist.

Mich beschäftigt zur Zeit ja ein ganz ähnliches Thema: Die Oma eines Freundes liegt im Sterben, das Krankenhaus ist zehn Minuten von ihm entfernt, und er geht nicht hin. Er sagt, er spüre, daß sie nur mehr wartet, bis er sie besuchen kommt, und dann sterben wird. Deshalb verdrängt er den Besuch seit mindestens fünf Wochen und will sie nicht sterben lassen ...

Nichts wirklich ernstes, sie warf dem kleinen Kater ab – und zu ein Spielzeug zu
Abgesehen vom Gedankenstrich, der da fehl am Platz ist, gehört noch "Ernstes" groß und die Wiederholung des "zu" könntest Du durch "ein Spielzeug hin" vermeiden.

Liebe Grüße,
Susi :)

 

Die Fehler muss ich ausbessern, danke für den Hinweis.

war eine tolle Frau, Gott brauchte interessante Gesellschaft

 

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