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Big Rich Country
Jeff winkt. Okay, bisschen Zeit hab ich noch, also geh ich zu ihm rüber.
„Was sind die Neuigkeiten, Mister?“, fragt er.
„Wenn du gute Neuigkeiten meinst – die gibt es nicht“, antworte ich.
„Dann erzähl mir von den schlechten.“
„Ungern, davon hätte ich einen ganzen Sack voll.“
Er zeigt dem Barkeeper sein Glas und zwei Finger, dann schaut er mich an: „Lass hören.“
„Oh, Mann“, ich hole tief Luft, „Das fängt schon mit den Wohltätern an. Unsere Jobs wollen sie retten! Widerliches Gesocks. Kommen da großkotzig angedüst, große Sprüche, große Versprechungen – und hinterher sitzt die Karre im Dreck und die Betriebsrentenkasse ist mit ihnen über alle Berge.“
Jeff macht ein dumpfes ‚Uh‘ und prostet mir zu.
„Wir Kleinen sind nicht smart genug", erwidere ich. " Will mir gar nicht ausmalen, wie‘s um uns stünde, wenn Lynn nicht den Kassenjob gekriegt hätte.“
„Kassenjob wo?“, hakt Jeff nach.
„Bei Walmart, Pittsdale.“
Jeff macht noch ein ‚Uh‘ und meint: “Beim Dealer, oha. Schade, dass sie da keine Prozente bekommt.“
Mir schmeckt dieses Tequilazeugs und ich flachse: „Und wenn doch? Ich sag dir schon jetzt: Nach der ersten Million kenne ich dich gar nicht mehr.“
Wir reden über die Wahlen im Herbst, sozusagen über die Wahl zwischen Pest und Corona.
Der eine ist Scratcher, der Camorra heißen sollte. Zwölf Freeports kommandiert der und setzt seinen Fuß nur auf die Erde, um von einem Jet in den anderen zu steigen und sein Imperium gottgleich über den Wolken und vielleicht bald auch vom Weißen Haus aus zu regieren.
„Freeports?“, fragt Jeff.
„Ja, kennst du nicht? So ‘ne Art heilige Inseln. Da kannst du alles einlagern oder abholen, was richtig teuer ist.“
„Diamanten?
„Klar. Oder Kunst, Silber, Gold, Drogen, High Tech. Und Waffen.“
„Und wenn der Zoll kommt?“
„Der Zoll? Der darf da gar nicht rein. Tabu. Keine Polizei, niemand. Toll, was?“
Jeff fährt mit dem Handrücken über Mund und Nase. „Und ich muss ‘ne Steuererklärung machen.“
„Du hast ja auch keinen Freeport.“
Der andere ist Hillegaard, der Narko-König, manisch-pervers, unermesslich reich. Unter den Augen der DEA vertickt der Opioide, als Medikamente deklariert. Für Milliarden Dollar über Drugstores und Walmart. Eine halbe Million Tote, vier Millionen Süchtige, ungezählte verwahrloste Kinder. „In Gottes eigenem Land“, ist Jeffs Kommentar.
Wir verquasseln uns, ich revanchiere mich mit der nächsten Runde. Über der Theke lärmt der Fernseher, auch heute wieder Schießereien, aber nicht in Laramie, sondern vorm Supermarkt, an der Tankstelle – irgendwo in Amerika.
„Mein Gott“, sagt Jeff, „früher haben die Leute das ausdiskutiert, heute ziehen die blank. Wo das hinführt, weiß der Teufel.“
Damit ich nicht in dessen Klauen lande, lehne ich den dritten Drink ab und wir verabschieden uns.
Zwischen Tür und Angel will mich Jeff noch zum Beitritt im ‚Red Maple Rifle Club‘ überreden, aber ich versichere ihm, mit der Schießerei nichts am Hut zu haben.
Der Wahltag rückt näher. Scratchers Leute erhöhen den Druck, oft wird geschossen – nicht nur zur Einschüchterung. Schon lange zucke ich nicht mehr zusammen.
„Schatz“, sagt meine Frau, „wir sollten uns auch eine Waffe kaufen. Ich habe Angst.“
Ich umfasse sie, streichle ihr die Schultern, den Rücken, den Hintern. Auch den Nacken, die Kringelhaare und halte sie ganz fest. Wundervoll, Stoppelhaut berührt Seidenhaut, ganz zart – nur Minuten, wir haben den Kopf nicht frei. „Ja“, sage ich, „ich kümmere mich drum.“
Ich wähle Jeffs Nummer. Es dauert, bis er rangeht. „Entschuldige, Dan. War gerade am Drillen, ‘n schöner Hecht. Hab ihn wieder reingeworfen, hatte Ekzem, irgendwas Unappetitliches. Das Wasser wird immer beschissener. Aber was gibt‘s?“
„Na ja“, sage ich, „hab‘s mir noch mal überlegt: Ja, ich komme mit. Samstag Vormittag stimmt doch, oder?“
„Stimmt. Eigentlich hatte ich nicht mehr mit dir gerechnet, aber Glückwunsch zur richtigen Entscheidung. Ein Mann muss schießen können. Bis Samstag!“
Auch nach Wochen intensiven Schießunterrichts sagt der Trainer, dass ich wohl nicht der geborene Schütze sei. Ich weiß es besser. „Harry“, sage ich: „schauen Sie in meine Akte. Da steht schwarz auf weiß: Geburtsdatum 2. Dezember.“ Einige grinsen, einer meint, er sei am 12. September geboren, also Jungfrau, fühle sich jedoch keineswegs als solche. Und Harry sagt, dass es ihm weniger um meine Art zu schießen ginge, als vielmehr um die Einstellung im Kopf. Da hat er natürlich recht – bevor ich losballere, würde ich erst mal versuchen, ob es auch anders geht. Leider scheitern solche Versuche oft.
Die Glocken läuten wie beim Überfall auf Pearl Harbour. Der amtierende Präsident, ein Evangelikaler, wünscht längeres Läuten. In God We Trust.
Ich ziehe die Tür leise zu, Lynn hat es trotzdem gehört.
„Dan?“
Ich antworte nicht, lasse stattdessen den Korken knallen und komme ins Zimmer. Sie schaut mich verwundert an: „Gibt es etwas, das ich wissen müsste?“
„Aber nein! Du weißt doch immer schon alles. Bin Zweiter geworden beim Preisschießen – da war ich selbst überrascht.“ Ich mache das Kuvert auf und zeige ihr die Urkunde.
Sie blinzelt, holt die Brille und sagt: „Das kommt über die Haustür, damit jeder weiß, was ihn hier erwartet. Aber hast du gesehen, was hier steht?“
Jetzt sehe ich es auch, auf der untersten Zeile: Red Maple Rifle Club by Scratcher.
Schade um den Sekt, doch Lynn ist davon wenig berührt. „Jetzt hab ich einen Beschützer im Haus!", sagt sie gutgelaunt und hebt ihr Glas. Ich halte dagegen, mit säuerlichem Lächeln.
"Ja", sage ich dann, "dein Beschützer schießt wie der Teufel. Darf aber nicht nüchtern sein.“ Ich erzähle ihr, dass ich auf Jeffs Anraten vorher einen doppelten Whiskey getrunken hätte, und tatsächlich, es funktionierte. Im Finale hatte ich zwei alte Füchse in die Wüste geschickt, und dass die beiden mir trotzdem auf die Schulter gehauen und gratuliert hätten.
„Mein Dan, der Meisterschütze!“, freut sich Lynn, packt meinen Kopf mit beiden Händen, küsst mich und fragt wie beim Verhör: „Und welche Talente schlummern sonst noch in dir?“
Ich stelle mich hinter sie, umfasse ihre Brüste und ertaste ihren Hals mit der Zungenspitze, rüber zur Ohrmuschel und beiße sie sanft, bis ich unglaublich tiefe Töne des Behagens höre.
"Hab ich damals in Paris gelernt“, behaupte ich.
„Was? Davon hast du noch nie erzählt.“
„Wär‘ ja auch gelogen.“
Wir bleiben bei der Wahrheit, wechseln hinüber ins Schlafzimmer.
Das neue Schuljahr hat angefangen; unsere Jungen kommen gut voran. Die Direktorin ist Kalifornierin, sympathisch und progressiv.
Alle Gebäude, Innenhof und Gelände sind gesichert. So ein Massaker wie in Talohee wird es hier nicht geben.
Jetzt gehöre auch ich zu den Bewachern. Durch meinen zweiten Platz hatte ich gute Karten bei der Bewerbung. Leider reicht es nicht, mein Loser-Gefühl zu verdrängen.
Jeff drückt kräftig auf die Hupe. Im Laufen knöpfe ich mir die Jacke zu und springe hinten auf. Jetzt sind wir vollzählig. Der Instructor hat die Namensliste in der Hand und gibt scharfe Munition aus.
„Hab kein‘ Bock aufs Schießen, oder Sterben“, sagt einer. „Wüsste sowieso nicht, wofür.“
„Na, für die Demokratie, du Dämel“, sagt ein anderer.
„Und für die Geschäfte der Präsidentensippe“, füge ich hinzu, „und deren Freunde und Freundesfreunde.“
Ich wische mir über Stirn und Augen. Was mache ich hier auf dieser Schüttelkarre, im blauen Overall mit dem Scratcher-Logo und scharfer Munition? Die Antwort kommt vom Instructor: Das Wahllokal im Zentrum sollen wir beschützen gegen Extremisten und Terroristen. Er befiehlt absitzen, zackig und laut wie beim Militär.
Jeff knufft mich in die Seite. „Der spinnt wohl, eh? Was geht hier eigentlich ab?“
Ich weiß darauf nichts zu sagen, außerdem brüllt der Typ immer weiter: „… Blutbad wollen wir nicht. Ich denke, unsere Präsenz genügt. Wichtig: Punkt sechs ist Schluss. Ihr krallt euch die Wahlurnen und jagt die Wahlhelfer zum Teufel. Die können sich die Ergebnisse im Fernsehen anschauen.“ Er lacht.
Es gibt ein brillantes Feuerwerk, Scratcher hat die Macht an sich gerissen. Schnell werden Naturschutzgebiete zu ‚Nutzland‘, Fangquoten der Fischerei gekippt. Die angefangene Mauer zu Mexiko wird er nicht weiterbauen, Minen sind billiger. Und es gibt Steuergeschenke, nein, nicht für mich.
Früh am Morgen ist Appell auf dem Schulhof, auch der Bürgermeister ist dabei.
Der Mann redet irgendwas Politisches, was mich nicht interessiert. Der Instructor ist wieder da, ein mulmiges Gefühl kommt auf. Hier läuft etwas total aus dem Ruder, das braucht mir niemand zu erklären. Und ich Hornochse mitten drin. Aber was zum Geier hätte ich denn tun sollen? Job weg, Hausraten offen, Frau und zwei Kinder, ringsum Niedergang und Chaos.
Wir werden höflich gebeten, in den bereitstehenden Jeeps Platz zu nehmen; wir würden einen Tag im Camp verbringen, zwecks wichtiger Instruktionen. Keine Ablenkung, volle Konzentration, keine Handys.
Stundenlang werden wir vollgequatscht; Menschenrecht und Ethik, Würde und Bürgersinn und Freiheit des Individuums … Aber es gibt Flanksteak, großzügig geschnitten, mit Mac ‘n‘ Cheese.
Anschließend Training mit automatischer Pistole.
Meine Scheibe ist die zweitschlechteste, und genau das ist meine Absicht.
Anschließend noch ein besonderes Event: Die Senatorin Gayle Blacksmith spricht zu uns. Eine aufgetakelte Lady mit gebleckten megaweißen Zähnen und überdimensionierter Oberweite geht ans Mikrofon und beglückwünscht uns zu unserem Leitfaden für ein starkes Amerika. Mit Scratchers Weitsicht wird es erblühen und wir alle werden stolz und glücklich sein. God bless you!
Ihr Dekolleté ist beinahe exhibitionistisch, doch solange man die Nippel nicht sieht, ist alles in Ordnung. Ein weißes Blatt fällt ihr aus der Hand und sie bückt sich geschmeidig, ich denke an Jane Fonda. Spätestens, als sie den tiefsten Punkt erreicht, müsste eine, wenn nicht beide Brüste aus dem Riesenausschnitt rutschen – aber nein, wie Höcker stehen sie, halten die Spannung von Schwerkraft und Textil mühelos aus und verharren an Ort und Stelle.
Jedenfalls bekommen wir unsere Handys zurück, es gibt Wodka Sprite und Budweiser. Jeff pirscht sich an meine Seite, wir stoßen wortlos an.
‚A Jug Of Punch‘ – mein Handyton. Ich bin gut drauf, das bisschen Alkohol drängt den Frust beiseite. Die Polizei. Das passt jetzt nicht. Wieso Polizei?
Wahrscheinlich eine Lappalie, ‚irgendwas mit dem Auto‘ rede ich mir ein. Die Luft wird trocken, beinahe giftig.
Während ich meinen Namen nenne, rotten sich die anderen zusammen, mit den Handys am Ohr. Die Frau am Telefon will, dass ich meinen Namen buchstabiere und die Namen meiner Jungen. Ich schreie sie an, sie solle endlich sagen, was los sei.
Es habe einen Anschlag gegeben. Anschlag? Wie Anschlag? Ich verstehe nicht. Das Licht ist zu grell, die Lampen kommen immer näher, dann entfernen sie sich wieder. Ich bin … ich weiß nicht. Ich schwöre mir, nicht an Lynn zu denken. Nicht an Lynn. Nicht an Lynn.
Auch vier Mitschüler seien getötet worden. Ich kann das nicht aushalten, meine Hände setzen die Wodkaflasche an die Lippen. Nach dem zweiten Schluck schlägt Jeff sie mir aus der Hand. Ein Netz aus glühendem Draht stülpt sich über meinen Kopf. Ich sehe, wie ich ein neues Magazin einlege, eines stecke ich in den Gürtel.
Zuerst die Senatorin. Blut, sattrot wie Lippenstift. Dann der Instructor.
Ein Grauschopf legt auf mich an, ich muss ihm die Hand wegschießen.
Die Waffe im Anschlag gehe ich rückwärts aus dem Raum, remple eine Statue an und sage einem wartenden Fahrer: „Zum Gouverneur.“
Zwei Wachmänner stellen sich mir in den Weg, dann stehe ich in seinem Büro. Er ist nicht allein, ich blicke in viele bekannte Gesichter. Näher und größer sehe ich die Gesichter meiner Jungen, wie eine Folie über denen der anderen.
Der Gouverneur fällt zuerst, das Mikrofon in der Hand. Starre – nichts bewegt sich, kein Ton. Alles ist wie mit flüssigem Stickstoff überschüttet. Meine Kopfhaut brennt, nein, es ist drinnen. Das Hirn, oder die Adern, das Blut?
Langsam ziele ich auf jeden einzelnen. Meine Hände zittern zu sehr, ich muss den Knopf für Dauerfeuer drücken.
Dann zieht es mir die Beine weg. Ich schlurfe zu einem der Clubsessel, doch setzen kann ich mich nicht – ein Mittfünfziger mit rotem Gesicht und Einstecktuch hat sich klein gemacht, ein blauer Faden steigt aus seiner Zigarre auf.
Der Faden verwirbelt, unsagbare Müdigkeit überkommt mich. Alles verschwimmt; Rauschen im Ohr, jetzt auch Sirenen. Ich setze mich auf die Sessellehne. Neben dem Ascher steht Bourbon.
Als ich mir einschenke, trifft mich ein ungeheurer Schlag. Das Glas explodiert wie ein Feuerwerkskörper, der Bourbon ist blutrot.