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Bis morgen...
Der kleine Körper des Vogels lag schlaff in den noch viel kleineren Händen des Mädchens, das ihn mit tränenden Augen anstarrte. Das war das erste Mal, dass sie dem Tod in sein aschfahles Gesicht blicken musste. Sie trug ein Leuchtend weißes Kleid, auf das blaue Blumen gestickt waren und welches ihr viel zu lang war, sodass es an den Seiten durch den Dreck schleifte. Es war eine Abschiedsgeste an ihren gefiederten Freund. Die Anderen trugen schwarz. Sie fand es unpassend, denn nach dem Tod sollte man doch schließlich in den Himmel kommen und der war nur bei Gewitter schwarz. Heute Morgen hatte es gewittert. Da hatte sie noch ein schwarzes Kleid getragen. Da war ihr Vogel noch am Leben gewesen. Ihr Vater legte der Fünfjährigen die Hand auf die Schulter und sie wandte ihm den Blick zu. Nur eine Sekunde, dann blickte sie wieder zu dem Papagei in ihren Händen, als würde er verschwinden, wenn sie weg sah. Der Vater hatte nicht gewollt, dass sie ihn anfasste. Er hatte gemeint der Tod würde krank machen. Sie störte es nicht. Sie war bisher doch immer wieder gesund geworden. Hinter ihr hörte sie ihren Bruder aus dem Haus kommen. Er fragte, warum sie noch nicht fertig waren. Ihr Bruder war es, wegen dem sie den Blick nicht von dem Vogel lassen konnte. Er hatte gesagt, wenn man erst tot war, würde man sich auflösen. Sie wollte nicht, dass er sich auflöste. Obwohl das Mädchen nicht aufsah, konnte sie merken, wie ihr Vater auf sie deutete. Dann hörte sie ein Aufstöhnen ihres Bruders. Sie solle das dumme Ding endlich in das Loch schmeißen, es würde Essen geben und die Mutter wolle noch auf die Beiden warten. Sie rührte sich kein Stück. Die Tränen wurden heftiger und flossen nun lautlos über ihre roten Wangen. Leise sagte sie, sie sollen ruhig anfangen. Keiner widersprach. Sie gingen hinein und ließen ihr den Abschied. Die Mutter hatte erklärt, dass der Papagei schon alt und es längst Zeit für ihn gewesen war zu gehen. Das Mädchen dachte an ihren Opa. Er war das Älteste, das sie kannte, viel älter noch als der tote Vogel in ihren Händen. Würde ihr Opa auch gehen müssen? Sie dachte an morgen. Morgen würde sie Geburtstag haben. Sie würde Sechs werden. Sie würde älter sein als Gestern. Würde sie morgen gehen müssen? Dann lächelte sie, legte den Vogel in das kleine Loch, dass Bruder und Vater hinten im Garten gebuddelt hatten und wischte sich die letzten Tränen aus dem Gesicht.
„Morgen bin ich alt, so wie du, dann sehen wir uns wieder!“, versprach sie ihrem Freund fröhlich, „Aber erst Morgen, weil wir jetzt essen wollen und ich jetzt noch zu jung bin. Also warte noch ein bisschen auf mich, ja?“ Sie lachte, als hätte der graue Vogel ihr Antwort gegeben, flüsterte ein letztes mal „bis Morgen“ und lief hinein zu ihrer Familie…