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Bis zu den Knien

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01.09.2005
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Bis zu den Knien

Riemer. Der Bürgermeister selbst. Dieser Arsch. Gerd blinzelte sich den Schlaf aus den Augen beim Blick durchs Küchenfenster. Das war er doch, der Riemer?
Er nippte an seinem Kaffee, schwarz wie Stuhlgang bei Verstopfung. Dorothea hätte ihm die Tasse aus der Hand geschlagen. Zu stark. Aber Dorothea war nicht mehr hier. Er hatte ihr Blumen gebracht, gestern erst.
Riemer war hier. Stand dort draußen auf der Wiese mit dem Wasser bis zu den Knien. Bewegte sich nicht, glotzte in die Gegend wie auf den bescheuerten Fotos in der bescheuerten Zeitung und tat das, was er am liebsten tat: Nichts. Seit Jahren hatte Gerd gemahnt, das Thema endlich anzugehen, bevor sie beim nächsten Starkregen alle absaufen würden hier in der Straße. Bei Riemer persönlich hatte er angeklopft nach dem Hochwasser von 2007.
„Wir brauchen ein Rückhaltebecken oder einen Wall“, hatte er gesagt. „Wir haben viertausend Euro Schaden und der Keller ist noch nicht mal richtig vollgelaufen. Beim Nachbarn ist es viel schlimmer. Und das sind nur die Kosten jetzt. Irgendwann sind die Kinder raus und du willst das Haus verkaufen und es ist nichts mehr wert, weil es mitten in der Monsunzone steht.“
Riemer nickte voller Verständnis, konzentrierter Blick, Lippen zusammengepresst. Damals hatte Gerd noch gedacht, das wäre was wert.
„Das geht nicht.“ Riemer war aufgestanden und hatte ihm die Hand gereicht. „Da muss eine Lösung her und zwar schnell. Das nehme ich mit in den Verwaltungsausschuss.“
Die Jahre vergingen. Ohne Starkregen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Gerd schlug jeden Tag die Zeitung auf, wartete auf eine von diesen trockenen Überschriften, die die meisten überlasen: Hochwasserschutz auf den Weg gebracht.
Es kam aber nichts. Stattdessen Fotos. Riemer beim Praktikum in der Schulmensa des Goethe-Gymnasiums, Riemer zeigt Daumen hoch für die drei neuen Regale in der Stadtbibliothek, Riemer liest Gedichte vor in der Jasminblüten-Seniorenresidenz, Riemer feiert mit beim scheiß Schützenfest. Vier Tage besoffen. Hoch die Gläser. Mann des Volkes.
Der nächste große Regen freute sich über so viel Untätigkeit. Er brachte das Hochwasser 2012. Diesmal 7000 Euro Schaden. Kalle Wehrhahn sah sich ihren Keller an. Kalle hatte Maurer gelernt. Guter Mann. Hatte seine eigene Baubude jetzt. Als Dorothea weg war, flüsterte er Gerd zu: „Unter uns, sieh zu, dass du das Ding los wirst. Das kannst du eigentlich jetzt schon nur noch abreißen.“
Riemer war diesmal weniger leicht zu erreichen. Viele auswärtige Termine. Nur ein Brief lag im Kasten, Gerds Anregungen hätten dem Bürgermeister sehr gefallen und er werde sie mit in den Rat und die Ausschüsse nehmen.
Eines Morgens schlug Gerd mit der Faust auf den Küchentisch. Die Butter fiel auf den Boden, sein Ei hinterher. Zum Glück war es ein knallhartes Furzei, wie er es mochte. Auf dem Tisch die Zeitung. Riemer in Siegerpose, eine Boulekugel in der Hand. Auf der Titelseite! Er hatte mit seinem Team, den Nebenboulern, die Stadtmeisterschaften gewonnen, knapp vor den Bouleletten.
Gerd sah Dorothea an, entschuldigte sich. „Aber im Ernst.“ Er zeigte auf das Bild, sie musste doch verstehen. „Hat der Penner eigentlich nichts Besseres zu tun?“
Dorothea sagte Hör auf, wegen des Blutdrucks im Besonderen, der Gesundheit im Allgemeinen. Da hatte sie schon die Bauchschmerzen gehabt, viel zu lange. Metastasen-Bingo in den Eingeweiden und gleichzeitig Vorträge über Gesundheit halten. Gott war ein besoffenes Arschloch an der Theke, die ganze Zeit dreckige Witze, mit einer Lache, so laut kannst du die Musik nicht drehen.

Gerd stellte die Tasse auf den Tisch und ballte die Fäuste. Einen Moment lang musste er überlegen, wieso nochmal. Vor kurzem war er dreimal an der Einfahrt zum Rewe vorbeigefahren. Er googelte Alzheimer und las von Symptomen, mit denen es manchmal schon ganz früh los geht. Er hörte Gott an der Theke: „Pass auf, und dann, lass mich ausreden, pass auf, jetzt kommt der Hammer!“
Der Arzt sagte, er solle das Googeln lassen. Bei viel Stress vergesse man auch mal was. „Und wenn man gleich vom Allerschlimmsten ausgeht, befeuert es das zusätzlich.“ Gerd sollte einfach ein- und ausatmen und an nichts denken. Mal aus dem Fenster gucken. Das tat er jetzt.
Riemer! Wie hatte ihm das entfallen können, auch nur für eine Sekunde? Der Tag der Abrechnung war endlich gekommen. Er zuckte zusammen, als auf dem Tisch sein Handy summte. Sonja.
„Hallo?“
„Papa?“
„Kind, fass dich kurz, ich habe einen Termin.“
„Ich dachte, du könntest auf Shamona aufpassen. Ich habe ein Vorstellungsgespräch.“
Du hörst doch eh wieder nach drei Monaten auf. Oder sie schmissen sie raus. Wer seine Eltern mit Mitte vierzig zu Großeltern macht, hat entweder einen sehr guten Plan oder überhaupt keinen. Seine Tochter trug eine Schildkröte auf den Hals tätowiert. Wenn das der Plan war, na ja.
„Hast du das gerade erst erfahren? Oder haben sie dich vor zwei Wochen eingeladen?“
Schweigen.
„Kind, ich hab den Keller voll. Vielleicht sind schon Ratten drin.“ Er machte das Küchenfenster auf. Von der Kellertreppe unten ragten nur noch die obersten Stufen aus dem Wasser. „Oder Haie.“
„Opa!“
Shamonas Stimme im Hintergrund. Die beste Enkelin der Welt, leider mit diesem beknackten Namen. Gerd wusste nicht mal, wer der Vater war, aber Sonja sagte immer, es sei seine Idee gewesen. Das ließ sich nicht mehr nachprüfen, denn er hatte ja längst irgendwo irgendeine andere geschwängert. Davon jedenfalls ging Gerd aus.
„Die Große!“
„Opa, ich komm zu dir!“
„Super, ich freue mich!“
Aufatmen am anderen Ende der Leitung. „Danke, Papa. Halbe Stunde sind wir da.“
Gerd schnaubte. „Ja.“
Shamona. Er wollte sich längst beim Standesamt erkundigt haben, wie das aussieht mit einer Namensänderung. Das Kind hatte es verdient. War eine Gute. Vielleicht wirklich die Beste. Sonja eigentlich auch. Nur leider ein bisschen unverbindlich. Wenigstens musste er sie noch nicht im Gefängnis besuchen. Auch mit kleinen Dingen zufrieden sein, das galt ja als Schlüssel zum Glück.
So ein Quell der Freude konnten auch Bürgermeister sein, die dich jahrelang hingehalten hatten und die dann plötzlich mitten auf der Wiese hinter dem Haus standen. Bereit, zusammengefaltet zu werden, wie es schon längst jemand hätte tun sollen. Was machte der Idiot da eigentlich? Hatte er sich überhaupt bewegt die letzten zehn Minuten?
War Riemer also geblieben, wo er war. Umso besser. Kleine Dinge. Gerd legte das Handy auf den Tisch.
„Jetzt zu uns, Kollege.“

Er stapfte in Schlafanzughose und Schlappen durch das braune Wasser. Die Hausschuhe blieben im Schlamm stecken. Barfuß ging er weiter, Modder zwischen den Zehen. Keine Zeit zum Umziehen, keine Zeit für Gummistiefel. Die lagen sowieso im Keller. Er hätte erst danach tauchen müssen. Lustig.
„Riemer!“
Der Bürgermeister schreckte hoch, als hätte er im Stehen geschlafen. Hatte er wirklich? Seine kleinen Augen glänzten rot im milchigen Gesicht.
Wenn er geschlafen hatte, wachte er jetzt sehr schnell auf. Verkrampfte Gesten, der Breakdance eines Mittfünfzigers.
„Guten Morgen, Herr Bürgermeister!“ Gerd versank immer tiefer im Schlamm, aber er ließ sich jetzt nicht mehr von ein bisschen aufgeweichtem Ackerdreck aufhalten. Immer kräftiger stapfte er auf. „Das ist ja ein Ding, dass wir uns hier treffen. Wissen Sie, dass mein Keller genauso aussieht wie diese scheiß Wiese? Mal wieder?“
Riemer reckte Gerd beide Handflächen entgegen. „Bleiben Sie stehen!“ Panik spiegelte sich in seinem Gesicht. Gerd fand das übertrieben. Sicher, gleich würde es laut werden, aber er wollte den Bürgermeister ja nicht im Dreckswasser ersäufen, wahrscheinlich.
„Ich bleib bestimmt nicht stehen!“ Andererseits war das vielleicht auch keine schlechte Idee. Vom Stuhlgang-Kaffee kochte sein Puls. Er konnte Riemers körperliche Unversehrtheit nicht mehr garantieren, war seine Faust erstmal in Reichweite von dessen Nasenbein.
Ein Storch landete neben Gerd, fast nah genug für die Faust. Eigentlich war die Zeit der Vögel längst vorbei. Ihre Zeit hier zumindest. Anfang September. In Afrika hätte er sein sollen. Der linke Flügel war zerzaust. Federn standen ab. Wahrscheinlich war er verletzt und zurückgeblieben, kämpfte ums Überleben und stocherte deshalb im Schlamm nach Würmern, direkt neben zwei Menschen, ohne jede Scheu.
Während der Storch etwas zu fressen suchte, fand etwas anderes ihn. Ein blauer Schmierfilm kroch an dem Tier empor, als sickerte er von unten nach oben. Der Storch breitete die Flügel aus. Es blieb bei einem einzigen Schlag. Das blaue Zeug verklebte das Gefieder.
Stück für Stück verschwand der Storch im Wasser. Er krächzte. Es klang wie ein Hilfeschrei. Gerd war geschockt, aber auch fasziniert. Es war wie der Tierkanal manchmal, hypnotisierend in seiner Grausamkeit.
Als nur noch der aufgerissene Schnabel aus dem Wasser ragte und kurz, bevor auch der verschwand, erkannte Gerd, was der blaue Film wirklich war. Er floss nicht durch den offenen Schnabel in den Hals des Storches, er lief hinein wie Ameisen in die Öffnungen eines Kadavers. Es war keine Einheit, sondern ein Flickenteppich. Kleine blaue Tierchen formten, was beim ersten Hinsehen eins war. Es war ja auch eins, ein Ganzes, aber es war geformt aus Milliarden. Wie ein Milbenkäse. Wo der Storch gewesen war, blühten rote Flecken im schmutzigen Wasser.
Gerd stand jetzt starr wie Riemer. Der Bürgermeister wies ihn mit Blicken an, es genau dabei zu belassen. Wie stellte er sich das vor? „Was war das?“
Riemers Augen folgten einem imaginären Tischtennisspiel. Einem sehr schnellen Spiel. „Es hat Hegemeier gefressen.“
„Jupp Hegemeier?“ Der Bauamtsleiter.
Riemer nickte. „Wir waren gestern Abend hier, um uns ein Bild zu machen, wie schlimm es ist. Den Hochwasserschutz endlich auf den Weg zu bringen. Auf einmal ...“ Der Bürgermeister schluckte. „Es reagiert auf Bewegungen. Also nicht bewegen.“
„Sie stehen seit gestern Abend hier im Wasser?“
Riemer nickte. Sein Blick ging zur Oberfläche. „Nicht erschrecken jetzt.“ Er zeigte in Richtung von Gerds Schritt. „Hegemeier.“
Gerd sah nach unten. Vor seinen Knien im Wasser schwamm etwas Gelbes. Hegemeier sah ihn an, mit nur einem Auge. Der größte Teil des Kopfes war fort. Geblieben war das Stück mit dem dicken Leberfleck auf der Wange. Dieser Rest Kopf hing an einem Rest Hals, der an einem Rest Oberkörper hing. Hegemeier hatte Hängetitten, keine Schande für einen Mann seines Alters. Der obere Teil eines Arms war auch noch da. Der Knochen guckte aus dem Stumpf.
Gerds Beine hätten ihm nicht gehorcht, hätten einfach einen Satz zurück gemacht, hätte Riemer nicht genau in dem Moment geflüstert: „Wenn sie zucken, sind wir beide tot! Sie auf jeden Fall.“ Er sah zum Himmel. „Gott, wenn ich dran denke, dass wir ohne Sie gar nicht hier wären. Dieses beschissene Hochwasser.“
Gerd konzentrierte sich zu sehr auf das, was von der Bauamtsleitung geblieben war, um den Vorwurf zu hören. „Sie haben gesagt, es hat ihn gefressen.“
Riemer sah Gerd an. „Machen Sie den Teller immer ganz leer? Vielleicht mag es ab und zu kalte Reste, was weiß denn ich.“ Er zeigte zum Horizont, da hin, wo die Wiesen wieder trocken waren. „Heute Nacht habe ich gehört, wie es irgendein Reh oder so was ins Wasser gezogen hat. Wollte wahrscheinlich nur saufen, das blöde Vieh.“
Wieder der Tierkanal in Gerds Kopf. Zebras, die den Durst nicht mehr aushalten und schließlich aus dem Wasserloch trinken, obwohl sie sehen, dass Krokodile darin schwimmen. Ein Zebra wird am Hals gepackt und ins Wasser gezerrt. Das Opfertier. Die Krokodile sind jetzt beschäftigt, die anderen Zebras können trinken.
„Was ist es?“ Gerd zeigte auf Riemers Hosentaschen. „Und haben Sie kein Handy?“
Riemer sah Gerd an wie den uralten Mann mit dem Stock, der zwei oder sogar drei Grünphasen braucht, um an der Fußgängerampel rüberzukommen. „Doch, habe ich. Jetzt, wo sie es sagen, lassen Sie uns einfach jemanden anrufen.“ Er deutete hinter sich, konnte sie gesamte Weststadt damit meinen. „Mein Handy ist natürlich im Auto, Sie Trottel. Hegemeier hatte seins dabei. Es muss hier irgendwo rumschwimmen." Er wartete, bis sein Atem wieder langsamer ging. „Es tut mit leid. Ich kann ihn immer noch schreien hören.“ Er schloss die roten Augen. „Ich habe keine Ahnung, was es ist. Aber wenn Sie so lange im Wasser auf der Stelle stehen, dass ihre Beine nicht mal warm werden, wenn Sie in die Hose pissen, haben Sie Zeit zum Nachdenken.“
Es folgte eine dramatische Pause wie in einer seiner Reden, wenn eine Firma im Gewerbegebiet Einweihung feiert. Die Weichen wurden gestellt, Tradition und Moderne, irgendwas mit Europa und warum diese Stadt Zukunft hat, auch wenn sie nur ein trauriger Wind aus dem Arsch von Hannover ist.
„Hegemeier und ich haben uns schon eine Weile mit dem Acker hier beschäftigt. Das war ja das Problem all die Jahre. Komplizierte Besitzverhältnisse. Ein Teil gehört einem Bauern, ein Teil einem anderen, andere gehören zu den Grundstücken hier und wieder ein anderer irgendeinem Immobilienhai aus Frankfurt, den sie nie ans Telefon kriegen. Wir konnten hier nicht einfach los buddeln, ohne eine Klage zu riskieren.“
So ändern sich die Prioritäten. Ob Hegemeier wohl gedacht hatte, sie hätten lieber eine Klage riskieren sollen, als der blaue Milbenkäse über ihn hinweg krabbelte und ihn Schicht für Schicht abtrug wie ein Kohlebagger?
„Hegemeier war sogar im Stadtarchiv, um ja nichts nichts zu übersehen. Er stieß auf eine Sache, die war in dem Moment nicht wichtig. Eine Anekdote. Kann man mal beim Bier erzählen.“ Riemer studierte die Oberfläche des Wassers. Irgendwo hatte sich irgendwas bewegt. Gerd hatte es auch gespürt. Vielleicht hatte es gerade eine Ratte erwischt.
„1921 ist hier ein kleiner Asteroid runtergegangen.“ Riemers Blick blieb aufs Wasser gerichtet. „Hat ein Riesenloch gemacht, aber sie haben nichts drin gefunden. Entweder ist er komplett verglüht oder so klein so tief in der Erde verschwunden, dass er eben weg war.“
Gerd schüttelte den Kopf. „Warum erzählen Sie mir das jetzt?“
Der Bürgermeister blickte zum Himmel. Gerd tippte sich an die Schläfe. „Das glauben Sie doch selbst nicht.“
„Was glauben Sie denn, wo es herkommt? Aus Asien, wie diese Marienkäfer? Oder aus Amerika, wie die Waschbären? Nein. Dieser kack Stein aus dem Weltall hat es mitgebracht. Ich hatte die ganze Nacht, um darauf zu kommen. Vielleicht war der Boden diesmal so durchgeweicht, dass es wach geworden ist. Oder überhaupt erst lebendig, wie die Urzeitkrebse in den YPS-Heften. Kennen Sie YPS-Hefte noch?“
Die Nacht im Stehen hatte ihren Tribut gefordert. Die Gedanken des Bürgermeisters waren nicht mehr so glasklar strukturiert, wie der arschkriechende Chefredakteur des arschkriechenden Lokalblatts das mal in einem Arschkriecher-Kommentar gelobt hatte.
Ein Stück Hegemeier trieb vorbei. Gerd versuchte, die krummen, weißen Zehen zu ignorieren. „Warum wissen sie das, dass wir uns nicht bewegen dürfen?“
„Sie leben doch noch, oder?“ Riemer wischte sich durchs Gesicht. „Weil Hegemeier es gesehen und angefasst hat. Als er die Hand rauszog, fehlten zwei Fingerspitzen. Er lief weg und es zog ihn runter. Ich wollte helfen, aber ...“
Gerds Blick traf den des Bürgermeisters.
„Sie waren doch gar nicht dabei! Was hätten Sie denn gemacht, Sie Held?“
„Ist schon gut.“
„Ist es nicht. Jedenfalls habe ich mich keinen Millimeter bewegt und es ist einfach an mir vorbeigetrieben. Später hat es noch eine Katze gefressen, die im Wasser nach irgendwas gefischt hat. Es spürt Bewegungen, es kann nicht anders sein."
Ein Joghurtbecher driftete dahin.
„Okay.“ Gerd nickte. „Ob es nun aus dem Weltall kommt oder aus China, wir können ja schlecht hier stehen bleiben, bis uns die Beine abfaulen.“
„Ich schon. Keinen Millimeter bewege ich mich. Meine Frau ist einiges gewohnt, aber irgendwann ...“ Er riss die Augen auf. „Haben Sie nicht ein Handy dabei?“
„Auf dem Küchentisch.“
„Glückwunsch. Da liegt's gut.“
„Sie haben doch selbst keins, Sie Klugscheißer.“
„Hab nie zu den Leuten gehört, die mit dem Ding verwachsen sind. Hegemeier hatte seins ja dabei.“ Er seufzte. „Gott, Josef, es tut mir leid.“
Gerd ließ dem Bürgermeister eine kurze Trauerphase. „Werden Sie nicht im Rathaus zurückerwartet?“
Wieder Ungeduld in Riemers Gesicht. „Heute ist Samstag. Und an einem Sonntag erwartet mich da auch niemand. Ich bin hier gestern nach Feierabend mit Hegemeier rausgefahren. Wegen des verdammten Hochwassers. Hätten wir es nicht getan und uns einen Scheiß drum geschert, so wie Leute wie Sie uns das immer vorwerfen, könnte er noch leben.“
Diesmal hörte Gerd, was gesagt wurde. „Haben Sie gerade behauptet, ich hätte Hegemeier umgebracht?“
„Nein. Nur indirekt sind Sie nicht ohne Mitverantwortung.“
„Sind Sie nicht ganz dicht?“
„Ho!“
Riemer hob warnend die Hände. In seiner Wut hatte Gerd ein Bein bewegt, einen Schritt auf den Bürgermeister zu. Gerd konnte den blauen Fleck nicht sehen.
„Wo ist er?“ Er flüsterte jetzt.
„Direkt hinter ihnen.“ Riemer hatte noch immer die Arme gehoben. „Nicht bewegen jetzt.“
Trotz des kalten Wassers spürte Gerd Schweißperlen auf der Stirn. „Was tut es?“
„Als würde es sie angucken.“ Nach einer Weile formte Riemer Daumen und Zeigefinger zum Alles-okay-Kreis. „Es schwimmt weg.“
Gerd Lippen begannen, zu zittern. Ob sie Riemers Beine amputieren mussten? Dass er überhaupt noch stand.
„Aber was machen wir jetzt?“
Riemer sah ihn an. „Was meinen Sie?“
„Wir können ja schlecht ... irgendwann können wir nicht mehr stehen.“
„Irgendwann wird uns irgendwo in einem dieser Häuser ...“
„Opa!“
Shamonas Stimme, die ihm so oft das Herz hatte aufgehen lassen, gerade zuletzt, nach der Beerdigung, als es mindestens so im Eimer gewesen war wie der Keller mit den feuchten Wänden. Der bevorstehende Besuch von Tochter und Enkelin, kurz verschwunden im selben Loch wie die Einfahrt zum Rewe. Der Stress, nicht gefressen werden zu wollen. Das schönste Geräusch der Welt, gefolgt vom schlimmsten: Kleine Füße, die durch Wasser platschen.
„Shamona, nicht!“ Sonja. Hatte das Kind noch ein bisschen weniger im Griff als sich selbst. „Komm sofort zurück! Nicht in das Dreckswasser, sag mal, spinnst du?“
Gerd und Riemer sahen sich an. Der Bürgermeister schüttelte den Kopf. „Tun Sie es nicht.“
Gerd fuhr herum. „Shamona, geh sofort zurück! Hör auf deine Mutter!“
Das Kind blieb stehen. „Nicht stehenbleiben!“ Gerd lief auf sie zu, blieb im Schlamm stecken, fiel vornüber ins Wasser. „Zurück! Lauf zurück!“
Hinter sich hörte Gerd, wie der Bürgermeister ebenfalls ins Wasser fiel. Er hatte versucht, die Ablenkung zu nutzen, war aber auf seinen steif gestandenen Beinen nicht weit gekommen. Gerd drehte sich kurz um.
„Geh weg!“ Der Bürgermeister spuckte schmutziges Wasser aus. Er saß in der braunen Brühe wie in der Badewanne und schlug darauf ein. Nein. Auf etwas darin. „Lass mich in Ruhe! Geh weg!“
Gerd riss seine Enkelin grob aus dem Wasser und lief mit ihr auf Sonja zu. Das Kind fing an zu weinen. Der Bürgermeister schrie.
„Sieh da nicht hin!“ Gerd drückte Shamona an sich. „Mach die Augen zu!“ Das Geräusch seiner nackten Füße änderte sich. Er hatte den gepflasterten Hof erreicht. Er drehte sich um, befolgte den eigenen Rat nicht und sah zu. Bereute es später manchmal. Vor allem nachts, wenn er aus seinen Träumen erwachte.

Als ein Reporter von der Bild anrief, wechselte Gerd den Handyvertrag. Sie wollten ihn nur vorführen mit einer Schlagzeile. Dabei fanden sie Reste von beiden, Riemer und Hegemeier. Eine Schraube aus Riemers Schulter, ein Motorradunfall als junger Mann. Ermittlungen liefen, hieß es in der Zeitung. Und liefen und liefen und liefen. Irgendwann sagte irgendwer, ein Krokodil sei vielleicht aus dem Zoo abgehauen. Jemand mit mehr Ahnung sagte, ein Krokodil könnte in diesem Wasser keinen Tag überleben. Gerd sagte nichts, aber er hatte mal was Ähnliches im Tierkanal gehört.
Er lernte, nur noch auf dem Klo zu sitzen, indem er sich mit den Händen auf der Brille abstütze. Vom Runtersehen bekam er Nackenschmerzen, aber er wollte jederzeit wissen, was sich da unten tat. Er badete nicht mehr. Einmal träumte er davon, die Dusche anzustellen. Blaue Tierchen spritzten auf seine Haut. Er fing an zu riechen, was seinen Ruf als schräger Vogel zusätzlich befeuerte. Der Irre, der Streit mit dem Bürgermeister hatte und der war jetzt tot. Schon merkwürdig. Ich möchte nicht, dass du allein in der Nähe dieses Hauses spielst.
Das Haus war nicht mehr zu retten. Er spielte mit dem Gedanken, die Bild zu fragen, was sie eigentlich zahlten für so eine Geschichte. Dann verkaufte er sein Heim für ein Drittel des ursprünglichen Preises. Er wollte nur weg. Mit Sonja und Shamona zusammenziehen, wenigstens für eine Weile. Weg von dieser Wiese mit ihren komplizierten Besitzverhältnissen. Es wurde wieder Herbst. Es sollte sehr viel regnen dieses Jahr.

 

Hallo @Proof ,

ich lasse auch mal ein kurzes "Gefällt mir" da. Ich mag deinen Stil wirklich sehr. Vor allem die lakonisch-zynische Art deines Protagonisten.

Ich bin übrigens der Meinung, dass sich Humor und Horror keineswegs ausschließen. (Jedwede Horror-Komödie beweist das Gegenteil). Ich finde, es ist sogar noch schwieriger, eine gute humoristische Horrorgeschichte zu schreiben.

Wirklich gerne gelesen!

Grüße,
JG

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi @Proof,

Die Geschichte gefällt mir wieder sehr gut.

Besonders gut finde ich:
Er hörte Gott an der Theke: „Pass auf, und dann, lass mich ausreden, pass auf, jetzt kommt der Hammer!“

Wie du die Beziehung zu seiner Tochter erklärst.

Ein Jogurthbecher driftete dahin
Bin direkt an nem Fluß aufgewachsen. Wenn ich an Hochwasser denke, ist es genau dieses Detail, an das ich mich erinner. Irgendwelche Tüten und Co., die über die Wiese oder den Weg schwimmen. Super Detail.

Opa!
Ha! Du hast es tatsächlich geschafft, dass ich das Kind samt Mutter vergessen hab. Genauso, wie der Prot.

Wenn ich was aussetzen müsste, wär es höchstens:
Statt des Milbenkäses hätte ich vielleicht an einen Schleimpilz gedacht. Allerdings ist das vielleicht auch schon wieder zu naheliegend. Der Vergleich damit zu glatt, ausgelutscht. Ein ungewöhnlicher Vergleich, der ein wenig Reibung erzeugt, trifft die Ungewöhnlichkeit des Wesens wahrscheinlich besser und bleibt länger hängen. Möglicherweise könnte man den Milbenkäsen noch ein bisschen verankern, vielleicht fällt ja nicht die Butter vom Tisch, sondern ein Käse oder sowas.

"Vielleicht mag es ab und zu kalte Reste, was weiß denn ich.“
Auch wenn der Satz witzig ist - mir kommt Riemer da ein bisschen zu abgebrüht vor.

Es tut mir leid. Ich kann ihn immer noch schreien hören.
Hab ich mich gefragt, warum der Prot ihn nicht auch hat schreien hören.

Kennen Sie die Yps Hefte noch?
Klingt, als würde ein Älterer einen Jüngeren fragen. Zwei Ältere würden vielleicht sowas wie: Sie kennen doch die Yps-Hefte sagen. Oder einfach: Wie in so nem Yps-Heft.
Ich pack mal bei mir ein paar Jahrzehnte drauf, würde ich einem Gleichaltrigen dann fragen: Kennen Sie Dr. Sommer noch? Ich glaub, ich würde davon ausgehen, dass er das kennt. (Aber vielleicht auch nicht unbedingt, wie gesagt, ich versuch hier krampfhaft was zu finden)

Ich hab noch nie erlebt, dass ein Chefredakteur den Bürgermeister für irgendwas gelobt hätte.

Naja, siehst schon: ich find eigentlich nix. ?

Viele Grüße
Calua

 

Moin,

@JGardener:

Ich bin übrigens der Meinung, dass sich Humor und Horror keineswegs ausschließen. (Jedwede Horror-Komödie beweist das Gegenteil).
Ja, aber die meisten Horrorkomödien kippen in Richtung Komödie. Ich finde das halt klasse, wenn das jemand hinbekommt, Grusel, Tragik und Witz ohne alles überstrahlenden Klamauk. An American Werewolf in London, das ist auch so ein Vorbild. In der Literatur ist diese Verbindung vielleicht auch nochmal schwieriger. Danke für Daumen hoch!

@Calua:

Ha! Du hast es tatsächlich geschafft, dass ich das Kind samt Mutter vergessen hab. Genauso, wie der Prot.
Wenigstens einer.

Auch wenn der Satz witzig ist - mir kommt Riemer da ein bisschen zu abgebrüht vor.
Er ist ne coole Sau, das nimmt ein bisschen die Dramatik. Gehe ich nochmal ran.

Hab ich mich gefragt, warum der Prot ihn nicht auch hat schreien hören.
Öhm, vielleicht war er nicht zu Hause, das passiert ja noch am frühen Abend. Aber all die anderen Häuser ... spräche auch dafür, dass Gerds Bude eher einsam stehen sollte.

Klingt, als würde ein Älterer einen Jüngeren fragen.
Das bezog sich eher darauf, dass YPS-Hefte ja schon eine Weile vom Markt verschwunden sind. Allerdings dürften die beiden da schon in einem Alter gewesen sein, in dem sie das nicht mehr verfolgt haben. Somit hast du wohl recht.

Ich hab noch nie erlebt, dass ein Chefredakteur den Bürgermeister für irgendwas gelobt hätte
Kommt drauf an, ob man sich versteht. Gerade bei Provinzzeitungen kann das dann durchaus mal passieren. Aber vielleicht ist es auch zu viel.

ich find eigentlich nix
Danke!

Euch beiden!

Grüße
Proof

 

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