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Bis zum Grund
Mein Kopf ist leer. Er fühlt sich seltsam an. Hohl. Es pocht darin. Ich verspüre das Bedürfnis, ihn lange unter eiskaltes Wasser zu halten. Ich schüttele ihn. Die verzweifelte Hoffnung, das irgendetwas herausfällt. Aber jetzt wäre es ohnehin zu spät. Da mich meine eigenen Gedanken im Stich gelassen haben. Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Ich sollte mich nicht so gehen lassen. Ablenken. Ich versuche, in andere Tiefen zu tauchen.
Doch auch der quadratische kleine Kasten, aus dem die Welt sprudelt, scheint mir heute nicht weiterhelfen zu wollen. Die Fernbedienung schwappt. Und plötzlich muss ich lachen. Hysterisches lachen. Hoffnungslos. So einfach. Der Angeklagte ist nie der Mörder und bald wird ganz überraschend ein Zeuge auftauchen und alles klären. Kein Problem in meinem Flimmerkasten. Die Fernbedienung schwappt weiter. Irgendetwas will sie mir verkaufen. Die Frau, die da jetzt sitzt. Ich werde nichts kaufen. So hat sie also auch was nicht geschafft. Ziel nicht erreicht. Verlangt nicht ihr Chef von ihr, dass sie jedem was verkauft? Aber sie scheint das nicht zu stören. Grinst weiter. Und plappert. In meinem Kopf geht das Pochen zu Hämmern über. Weiter. Ein ebenfalls grinsender Mann erklärt in seltsam betonten Worten den Zusammenhang zwischen Bremskraft und Beschleunigung. Physiker. Bestimmt hat er alles berechnet. In seinem ganzen Leben noch nie einen Fehler gemacht. Und jetzt grinst er da schmierig vor sich hin. Und denkt ernsthaft, er könnte mir die Welt erklären. Nächste Welle. Eine übergewichtige Frau hat Ärger mit der Schwester des Freundes eines Cousins. Die übrigens auch alle fettleibig sind. Und als wäre das nicht fett genug sind ihre Haare ebenfalls fettig. Was für eine Familie! Und aus meinem Bullauge kann ich jetzt sehen, wie sich die Schwippschwagerschwestern anschreien. Elendes Pack. Ich sollte nicht so herablassend über sie denken. Kann ich wissen, wie ich ende? Wenn es so weiter geht. Diese schwere, hohle Birne auf meinen Schultern mich weiter terrorisiert. Plötzlich sehe ich schwarz. Und rot. Gehe zum Eisfach. Presse Eiswürfel an meine Stirn. Kälteschock. Bringt das Hämmern kurz zum Stillstand. Alles gefriert. Einen Moment lang glaube ich, meine Gedankengänge wären geheilt und das Schlachtfeld in meinem Hirn sei nur eine vorübergehende Erscheinung gewesen. „Du schaffst das hundert pro, wir glauben alle an dich“, tönt es aus den Weltmeeren in meinem Wohnzimmer. Diese Worte ziehen mich wie ein Strudel in die Tiefe. Luft holen. Mich an irgendwas festklammern. Vielleicht hat sich die fettleibige Familie wieder vertragen und jetzt möchte die Cousine eines Onkels, dessen Witwe verstorben ist, ihren Traum vom Fotomodell verwirklichen. Schlechter Versuch. Mich an einer Alge festhalten zu wollen, wenn ich in einen wirbelnden Sog geraten bin. Ich strample, kämpfe gegen die Urmächte an. Stelle fest, dass es vergebens ist. Und gehe währenddessen zurück ins Wohnzimmer. Lege mich aufs Sofa. Es tost und rauscht in meinen Ohren. Vielleicht sind das ja nur die Nebenwirkungen von dieser assozialen Familie. Färbt sozusagen ab. Verursacht hier eine Überschwemmung, mitten in meinem Hirn. Die Bedienung ist so freundlich und lässt das Wasser erneut wabern. Die Großfamilie weicht dieser blondierten Ermittlerin mit Kurzhaarschnitt. Schlechte Perspektive, grauenhafte Lichtverhältnisse. Und sie redet. Klingt irgendwie auswendig gelernt. Armselig. Denke nicht, dass die Frau das Wort authentisch schonmal gehört hat. Auch mir ist es noch vor ein paar Stunden nicht mehr eingefallen. Als ich aufgefordert war, die Wellen eines völlig anderen Ozeans zu sortieren und mit blauer Tinte aufs Papier zu bringen. Doch ich konnte nicht. Kein bisschen.
Die Armeen, die meine Schädeldecke angreifen, sind jetzt wohl durch den Hals in mein Herz gewandert. Tausend kleine Lanzen rammen sie hinein. Vielleicht, wenn ich einen tiefen Luftzug einatme, vielleicht kann ich sie dann wegpusten? Nein. Mit jedem Atemzug stechen sie tiefer ein. Und gleichzeitig reißt es mich hinunter. Der Strudel kennt kein Erbarmen. Tiefer und tiefer. Bis zum Grund. Weder der Flimmerkasten, noch die Eiswürfel, noch die Krieger in meinem Kopf und Herzen können mir irgendwie weiterhelfen. Eigentlich müsste ich längst ertrunken sein. Wenn ich recht überlege. Aber genau das kann ich ja nicht mehr.