Bittere Krabben
Bittere Krabben
Die junge Frau saß täglich zehn Stunden in der Fabrik und schälte Krabben. Es war ein kalter Arbeitsplatz,
denn die Krabben wurden dirkekt nach dem Fang tiefgefroren und sie mussten es bleiben, während sie in der Fabrik verarbeitet wurden, damit die Kunden in Europa sie frisch bekamen. Jeden Morgen um sieben Uhr kam die zwanzigjährige pünktlich zu ihrem Arbeitsplatz in einer von drei großen Hallen, die auf dem Industrieareal dirket am Hafen lagen und sie kam aus der warmen Morgenluft eines frühen Tages, der ein heißer Sommertag werden sollte aber alle fünfzig Frauen in der Halle erwartete eine Temperatur von minus fünf Grad. Diese Temperatur wurde ständig gehalten und eigentlich sollten die Arbeiterinnen dicke Kleidung tragen aber diese wurde trotz häufiger Versprechungen von Seiten des Vorarbeiters nie ausgegeben. Statt dessen trugen die Frauen unter ihrem Arbeitsoverall private Kleidung aber die meisten besaßen keine Winterkleidung denn das Klima hier war warm gemäßigt.
Sina schälte die Krabben, entfernte den Panzer und pulte das rosige Fleisch heraus, das sie in Metallbehältern sammelte und in den vollen Behältern zu der Verpackungsmaschine brachte, wo sie von Kolleginnen übernommen wurden. Die Kälte und der Lärm in der Halle waren sehr unangenehm. Die Arbeit musste schnell gehen und der Vorarbeiter kam etwa dreimal in der Stunde vorbei und trieb sie an, wenn die Metallbehälter nicht voll genug waren. Die Bezahlung war nicht besonders gut, aber Sina konnte ihre Mutter und die kleine Schwester, die noch zur Schule ging und davon träumte, Ärztin zu werden, vorsorgen, nachdem ihr großer Bruder vor drei Jahren nach Spanien gegangen war um auf den Gemüsefeldern zu arbeiten aber seit zwei Jahren weder Geld geschickt noch überhaupt etwas von sich hören ließ. Sina bemühte sich, eine gute Arbeiterin zu sein, aber die ewig klammen Finger und die rutschigen Handschuhe machten den Job schwer, oft unerträglich schwer. Mit Pausen geizte die Fabrik. Zwar stand ihnen täglich eine dreiviertel Stunde zu, aber der Vorarbeiter drängte darauf, sie kürzer ausfallen zu lassen. "Es gibt genug von Euch da draussen, die gerne hier Platz nähmen", sagte er immer, wenn eine Arbeiterin auf die volle Pause bestand.
Nachmittags um fünf war Feierabend. Dann verließ Sina so schnell es ging die Fabrik und ging in die heiße Stadt hinaus. Das war eine Wohltat und der vielleicht schönste Augenblick des Tages, wenn der blaue Himmel zu sehen war und die Luft so herrlich warm über die von der Kälte rissige Haut strich, gesättigt mit Dieselruß zwar aber trotzdem hochwillkommen. Dann ging sie in die Stadt und machte ein paar Einkäufe, bevor sie nach Hause ging. Sie ging meistens zu Fuß und brauchte eine halbe Stunde, bis die das Viertel erreichte und sparte sich so das Busgeld. Die achtstöckigen Häuser mit preiswerten Mietwohnungen waren hässlich und die Bewohner meistens arme Leute; manche von ihnen tranken und nicht alle arbeiteten und jeden Tag standen Männer auf der Straße und rauchten und spielten Karten. Sina stieg die Treppe in den vierten Stock hinauf und schloss die Tür auf. Dann schaute sie erst nach ihrer Mutter, die nicht ganz gesund war und der oft die Gelenke schmerzten, bevor sie ihre Schwester begrüßte. Manchmal hatte die Mutter bereits gekocht, oft jedoch erledigte Sina dies mit dem, was sie eingekauft hatte. Die Abende verbrachte die Familie fast immer vor dem Fernseher und die Mutter sprach von ihrem Mann und ihrem Sohn, die beide irgendwo in Europa waren und sich nicht meldeten und immer äußerte sie die Hoffnung, bald etwas von ihnen zu hören. Sonntags gingen sie manchmal am Meer spazieren und schauten auf das nur wenige Kilometer entfernte Spanien hinüber.
Seit kurzem war Sina ernsthaft krank. Das die durch die schlechten Arbeitsbedingungen häufigen Erkältungen nur schlecht weggingen, war eigentlich nichts Besonderes; viele Arbeiterinnen husteten und schnieften ständig. Aber seit ein paar Tagen tat Sina die Brust mehr und mehr weh. Morgens fiel es ihr schwer, aufzustehen und der Gedanke an die zehn vor ihr liegenden Arbeitsstunden waren ihr ein Grauen und sie fragte sich, wie sie das überstehen sollte. Dennoch ging sie weiter zur Arbeit, denn wer krank zu Hause blieb, bekam keinen Lohn. Ihre Mutter fragte mit zögernder Stimme, ob es nicht besser sei, sie kuriere sich ein paar Tage aus, doch Sina wiedersprach und sagte, schließlich müsse Geld für das Essen und für die Miete her und außerdem habe sie schon oft beobachtet, dass kranke Kollegen, die zu hause blieben, nach ihrer Rückkehr ihren Arbeitsplatz besetzt vorfänden. Die Mutter schwieg daraufhin.
Die Arbeit fiel Sina immer schwerer. Jeden Tag wurde der Husten schlimmer und die Schmerzen in der Brust wurden immer unerträglicher, außerdem glühte ihr Gesicht vor Fieber. Die Kollegin neben ihr warf ihr mitleidige Blicke zu und der Vorarbeiter schüttelte angesichts der zunehmend leereren Metallbehälter und Sinas Aussehen den Kopf. Sie bot alle ihre Kräfte auf, um den Arbeitstag durchzustehen und abends, wenn sie nach Hause kam, ging sie gleich ins Bett und die Mutter und die Schwester sahen sich besorgt an.
"Das geht so nicht, Sina kann nicht arbeiten gehen", sagte ihre Schwester zur Mutter.
"Vielleicht sollte sie zum Arzt", schlug die Mutter vor.
"Besser wäre das Krankenhaus", stellte die Schwester fest.
Aber am nächsten Morgen sagte Sina, es gehe ihr schon besser und wollte nichts von krank sein wissen. Aber sie beschloss, von dem Geld mitzunehmen, dass sie heimlich für Eventualitäten wie Krankheit von ihrem Gehalt zurückgelegt hatte und nach der Arbeit ins Krankenhaus zu gehen, falls es ihr nicht besser gehe. Am Arbeitsplatz war jedoch die kurze Euphorie des Morgens schnell verschwunden. Hustend und fiebernd brachte sie keine Konzentration für die Arbeit auf und sie nahm die Halle und die Krabben vor ihr nur noch wie durch einen Nebelschleier war. Der Vorarbeiter kam am am späten Vormittag und sagte zu ihr:"Du must nach Hause gehen, Sina. Das hat doch keinen Zweck mehr, sich hier herumzuquälen".
"Aber mein Arbeitsplatz", keuchte das Mädchen mit schwerem Atem.
"Ich versuche, ihn für dich zu halten", sagte der Vorarbeiter und dann fügte er hinzu: "Versprechen kann ich es nicht, ich wollte ich hätte die Macht dazu:"
Sina ging nach draussen in den sonnigen Tag. Sie konnte kaum laufen, so schwindelig war ihr und sie bekam kaum noch Luft und schleppte sich in die Stadt hinein. Auf dem Marktplatz brach sie ohnmächtig zusammen und sie dachte an ihre Familie und verfluchte die verdammten Krabben und dann umgab sie eine Dunkelheit, die ihr alle Schmerzen nahm.
Drei Tage später starb Sina im Krankenhaus an Lungenentzündung. Ihr Arbeitsplatz wurde umgehend neu besetzt.