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Bitterer Kakao

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22.01.2005
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Bitterer Kakao

Bitterer Kakao

Die Hafenstadt Ilhéus war noch vor einigen Jahrzehnten der bedeutendste Kakao-Exporthafen Brasiliens, um die Schokoladen-Multis in Europa und den USA mit Rohstoff zu bedienen. Die Stadt war sehr reich. Doch irgendwann war das Geschäft nicht mehr so einträglich. Irgendwo anders in Südamerika oder Afrika war die Arbeit der Feldarbeiter noch billiger als hier in der Region um Ilhéus, und die Schiffe der internationalen Firmen legten in anderen Häfen an.
Das Wasser wabert müde und monoton an den leeren Anlegestegen vorbei gegen die Kaimauer. So als ob es keine Lust hätte, sich als Welle am Festland zu zerschlagen. Die Stege sind morsch und alt.
Direkt neben dem verlassenen Hafen liegt das Ilhéus-Hotel, ein massiver vierstöckiger Gebäudeblock aus den 30er Jahren. Einst Drei-Sterne-Hotel-Glanz der aufstrebenden Handelsstadt und Gala-Bühne der Selbstinszenierung der Kakao-Barone, ist es heute eine billige Absteige im herunter gekommenen Hafenviertel. Abblätternder Putz hängt an der gedrungen-freudlosen Fassade. Abgewetzte Kunstlederkanapés muffeln in der Eingangshalle vor sich hin. Hier investiert keiner mehr.
Der träge Rezeptionist dröhnt sich hinter seiner Theke stundenlang Telenovelas rein, ohne dabei von den sowieso nicht sehr zahlreichen Hotelgästen abgehalten zu werden. Er starrt quer durch die Empfangshalle auf die in luftiger Höhe angebrachte Glotze. Kurz, ein Zeitvertreib…

Der Schwarze Erivaldo fährt heute die Tour. Er kann sich für den trüben Bau des Ilhéus-Hotel nicht erwärmen. Doch alles egal... Locker klopft er im Rhythmus seiner Axé-Musik mit dem Fingerknöchel aufs Lenkrad.

Die Exkursionsgäste haben schon auf dem schmalen Bürgersteig vor dem Hotel Aufstellung genommen, als Erivaldo heranbraust. Von weitem kann er sie erkennen. Die Sonne brennt unbarmherzig auf die Gruppe der Ausflügler.
Bevor man den Motorenlärm des Kleinbusses vernimmt, dröhnt das dumpfe Percussion-Hämmern der „Dança da lata“ den Wartenden entgegen. Dann erscheint der Kleinbus, aus dem Erivaldo lächelnd der laut schwätzenden Grossfamilie aus Sao Paulo, dem fettleibigen Ami und dem europäischen Ehepaar – jung und frisch vermählt auf Hochzeitsreise – zuwinkt. Der Familienvater hebt den Arm. Erivaldo grüsst zurück, bevor er eine Ehrenrunde um den Block dreht, um in idealer Abfahrrichtung seinen Kleinbus zu parken.
Erivaldo stürzt aus dem immer noch in Axé-Rhythmen wogenden Bus und auf die Touris zu, reisst die Schiebetür auf, und die tiefkühlhausmässige Kälte der Klimaanlage sowie der pochende Tanzrhythmus schlagen den Touris entgegen. Der Sound wird schnell runtergedreht: „Ist ja nicht jedermanns Geschmack“, murmelt Erivaldo.
„Hereinspaziert!“, verkündet er dann mit wohlwollendem Lächeln: „Liebe Freunde, ich heisse Erivaldo de Souza und entführe euch heute Nachmittag in das Reich des Kakaos!“
Erivaldo muss einen Moment warten, da das kleine dicke Mädchen und der kleine dicke Junge der Familie aus Sao Paulo jetzt erst mal streiten, wer wo sitzen darf.
„Versteht ihr alle Portugiesisch?“
Die Eltern und die Grossmutter der Kinder lachen; und der dicke Ami, dessen gebügelte Bermudas die kalkweissen Beine herausgucken lässt, hört gar nicht zu, sondern macht Bilder mit seiner Digitalkamera durch die getönten Scheiben heraus. Das junge Paar aus Europa folgt mit sichtlicher Mühe Erivaldos Ausführungen. Der junge Mann, ein sonnnenverbrannt roter Blondschopf, bittet ihn, etwas langsamer zu sprechen, während seine Frau geräuschvoll im Langenscheidt blättert.
Erivaldo stellt das Autoradio aus und beginnt zu erzählen.
Nach einer halben Stunde auf der holprigen Strasse fährt der Kleinbus durch das grosse Tor des CEPLAC. Der Touriführer hat seine Gäste schon wortreich über das CEPLAC aufgeklärt: "Das CEPLAC ist das brasilianische staatliche Forschungszentrum, das neuste Erkenntnisse über Resistenzen gegen Schädlingsbefall und Vorschläge an die Kakaobauern weitergibt, wie sie ihre Kakao-Monokulturen anders bewirtschaften können. Sehr wichtig für die Wirtschaftbelebung… Ein großer Arbeitgeber in der strukturschwachen Region… viele Forschungsgebiete …
Zum Beispiel die „Vassoura de bruxa“, die Hexenkrankheit. Das ist der volkstümliche Name der schlimmsten Krankheit der Kakao-Pflanzen. Die Pflanzen gehen einfach ein. Wenn eine Pflanze betroffen ist, gibt es kein Heilmittel. Seit Jahrhunderten haben die Kakaopflanzer vergeblich versucht, ein Gegenmittel zu finden. Ziel des Forschungsinstituts CEPLAC ist es jetzt, zu verstehen, was beim Schädlingsbefall passiert und wie man wenigstens etwas Abhilfe finden kann..." Erivaldo ist in Erzähllaune.
„Junger Mann“, meint die Großmutter anerkennend, „Sie erzählen das alles mit einer Begeisterung… so als ob es Ihre eigene Lebensgeschichte wäre…“
Der Mann aus Ilhéus lächelt sanft. Der Kakao… Was hat er sonst?
Seine Fahrweise rüttelt die Gruppe gut durch, als der Bus über die Feldwege rumpelt. Der Fremdenführer erklärt die Pflanzenwelt. Die dicken Stadtkinder hören nicht zu. Der Kleinbus fährt durch Kakaoplantagen, an grossen Bananenstauden vorbei. Den Blick auf Kaffeebäume, in den Himmel reichende Palmen und kleine Tümpel durchquert die Gruppe das Areal des Kakao-Foschungszentrums.
„Ich will noch einen Keks“, unterbricht laut schmatzend das kleine dicke Mädchen die andachtsvolle Stille der Erwachsenen beim Anblick dieser Naturschönheiten.
„Es heisst: ich möchte bitte noch einen Keks haben!“, belehrt sie ihre Mutter, „aber du hast schon eine ganze Schachtel gehabt, und die zweite muss den Nachmittag reichen.“
„Genau“, mischt sich ihr schwergewichtiger Bruder ein, „ich hab überhaupt noch keinen von der zweiten Packung gehabt.“

Erivaldo biegt auf einen noch Seitenweg ab und beendet dann unvermittelt die Schlagloch-Fahrt mit einem kräftigen Bremser. „Aussteigen bitte“, lächelt er.
Der Schritt aus dem sonnengeschützten Auto heraus lässt den Sonnenbrand bei den Europäern wieder aufschmerzen. Die junge Europäerin gibt ihrem rothäutigen Ehemann wortlos die Sonnenkrem, die er sich auch wieder sofort dick ins Gesicht und in den roten Nacken schmiert.
„What happens?“, erkundigt sich der Ami, während er seine Kamera überprüft.
„Hier begrüßen wir unsere Freunde, die Faultiere!“, erklärt Erivaldo.
„Was hat das mit Kakaoforschung zu tun?“ fragt der brasilianische Vater erstaunt.
„Nichts“, antwortet Erivaldo seelenruhig, „aber von Zeit zu Zeit bringen uns die Polizei und Leute von den benachbarten Farmen ein Faultier, das sich verirrt hat…“
Der kleine Junge läuft mit seiner Schwester zum Freigehege.
„Sind die süss“, ruft die Kleine und steckt ihren angeknabberten, mundfeuchten Keks durch den Maschendraht der kleinen, schwarzen Schnauze an.
„Nicht füttern“, sagt die Wärterin am Gitter scharf.
Die Kleine zieht schmollend ihren Arm zurück und flüchtet an Mutters Rockschoss.
Das Hochzeitspaar amüsiert sich über die kleinen Geschöpfe, die an den Ästen hängen: „Ach, nein! Wie goldig!“ Der Ami verknipst einen halben Film in kürzester Zeit. Schlack! Schlack! Schlack! macht der Hochleistungs-Digitalapparat.
„Die Faultiere sind Vegetarier und fressen nur Blätter ausgesuchter Bäume. Dein Keks würde ihnen Magenschmerzen bereiten“, wendet sich Erivaldo an die Kleine, doch die zieht immer noch eine Schnute und dreht sich weg.

Die Exkursionsgruppe dringt in den stickig heissen Tropenwald ein. Sie wandern durch knackendes Unterholz. Die großen Blätter der alten Bäume geben etwas Schatten. Das honey-moon-Paar entdeckt („Schau mal!“) eine Ameisenstrasse mit Riesenameisen. In den Baumwipfeln ist auch reges Leben. Der Blick des kleinen Mädchens folgt dem Vogelschreien und –gackern in den luftigen Höhen; es stolpert über Äste, die auf dem Weg liegen, und verliert seinen Keks.
"Musste das sein", ruft sofort die besorgte Mutter, wischt den dreckigen Keks ab und zieht das heulende Kind weg.

Dann kommt die Gruppe auf einer kleinen Lichtung an. Sie sind eingekreist von Bäumen, an deren Ästen gelb-braune, wunderbar ovale Früchte baumeln. Erivaldo sucht eine besonders reife Kakao-Frucht, zerschlägt sie mit einem dumpfen Schlag und nimmt den weissen Innenteil heraus. Die Touristen betrachten voll Bewunderung die Haselnuss großen schleimig-weißen Kerne, die Erivaldo jetzt jedem einzelnen gibt.
Die Touristen schnuppern an dem dicken Saft und lecken sich die Finger.
„Der Kakaosaft an der Aussenseite des Kerns ist zuckrig und schmeckt sehr gut. Ihr könnt die Kerne lutschen…“, erklärt Erivaldo.
„Bääh“, schreit der kleine dicke Junge und spuckt die zerbissenen Kernreste aus. „Schmeckt doof!“
„Kleiner Mann, du musst lutschen und nicht reinbeissen“, ermuntert Erivaldo unbeeindruckt den Kleinen und lutscht seelenruhig an seinem eigenen erfrischend fruchtig-süßen Kern.
„Mag nicht“, wehrt der kleine Stadtbürger ab.
Erivaldo lächelt. Er hat schon viel schlimmere Touris erlebt. Die brasilianische Mutter tut es ihm gleich, um ihrem Sohn nicht zuviel Bedeutung zukommen zu lassen. Das blonde Rotgesicht nimmt sich schnell noch seinen dritten und vierten weissen Lutsch-Kern, während die anderen Touris schon losgehen.
Erivaldo setzt sich an die Spitze der Gruppe, um sie zu Fuss an einen anderen Ort zu führen: „Diesen zuckrigen, weissen Saft mussten früher die Plantagenarbeiter von den Kernen trennen. Die Kakaokerne waren in grosse Gärbecken gefüllt, und die Arbeiter mussten auf den Kernen ‚tanzen‘, so konnten die Kerne gleichmässig zwei Wochen lang gären. Und was uns heute so gut schmeckt, dieser zuckrig-fruchtige Geschmack, klebte wie ein Fluch an den Füssen der Plantagenarbeiter. Der weiße Saft ging abends nach der Arbeit von ihren Füssen nicht ab. Hier seht ihr ein solches Gärbecken, in dem früher die Kerne getreten wurden.“
„Und heute?“ fragte die Grossmutter besorgt.
„Auch heute wird das auf kleinen Plantagen ganz manuell gemacht. Die Arbeitsbedingungen der Plantagenarbeiter haben sich aber doch verbessert“, lacht Erivaldo und bleckt seine grossen weisse Zähne.
Die kleine Gruppe kommt an ein mehrere Quadratmeter grosses Blech, das in der Sonne heiss geworden ist.
„Hier ist ein Trockenblech. Die Kakaokerne trocknen in der Sonne, danach sind sie ganz braun.“
Erivaldo nimmt einige Kerne vom Blech.
„Man muss die Schale abmachen, und innen drin ist es 100%iger Kakao.- Schau mal, Kleine, daraus wird Schokolade gemacht.“ sagt Erivaldo zur Kleinen und gibt ihr einen Kern ohne Schale.
Die Kleine leckt daran und meint dann trotzig: „Stimmt gar nicht, das ist eklig, ganz bitter! Schokolade ist anders. Mama, ich will richtige Schokolade!“ und flüchtet sich von neuem an ihren Rockschoss.
Der Mutter ist das peinlich. Doch Erivaldo nickt: „Der Kakao ist schon bitter; aber erst die Portugiesen haben Zucker angefügt, damit er besser schmeckte. Die Ureinwohner nannten den Kakao ‚Trank der Götter’ und tranken den Kakao ohne Zucker. Denn sie wussten, trotz des bitteren Geschmacks verleiht Kakao göttliche Kräfte…“
Die junge Europäerin schaut von ihrem Langenscheidt und nickt. Das mit der Schokoladen-Gutlaune-Wirkung kennt sie.
"OK", hakt der Ami diese Touri-Aktraktion ab.
„Fahren wir jetzt zum Schlangenhaus?“ fragt Erivaldo den kleinen, dicken Jungen.
„Au ja toll!“, erinnert sich der Kleine, dass ihm seine Eltern einen Besuch bei den Schlangen versprochen haben.
Nach einer kurzen Fahrt kommen sie zum Schlangenhaus, vor dem gerade Marcelo, ein Forscher Kakaopflanzen, die schädlingsbefallen sind, untersucht.
„Tudo bem? Alles klar?“, ruft Erivaldo seinem Kollegen Marcelo zu.
Der schaut von seiner Arbeit auf und winkt freundlich.
Die Touris steigen erwartungsvoll ins erste Stockwerk hoch.
An der Tür zum Schlangenraum hält Erivaldo inne: „Bereit?“
Der kleine Junge schaut Erivaldo stumm an.
Die Gruppe betritt den Raum, in dem auf drei Ebenen in Holzkäfigen mit Glasscheiben die Schlangen schlafen. Die Klapperschlangen erwachen und fangen wild ihr Gefauche und Schlagen an: „Chchchchoooo! Chchrappp! Chrappppp!“
Die kleinen Kinder fangen an zu weinen und verlassen mit ihrer Mutter schnell den Raum. Der Ami lacht breit und macht unbeeindruckt Fotos: Schlack! Schlack!
Die junge Europäerin wird bleich und schmiegt sich an ihren Ehemann.
„Chchchoo! Chchchoo!“, machen die Schlangen.
„Will jemand eine Schlange in den Händen halten?“, fragt Erivaldo. Der Ami zögert einen Moment lang, doch schliesslich überwiegt in seinen Überlegungen, dass er dafür seinen Hochleistungsfotoapparat aus den Händen geben müsste, was natürlich nicht möglich ist. Der junge Ehemann hat natürlich auch schon alle Hände voll zu tun. So findet sich kein Freiwilliger.
Die Gruppe verlässt das Schlangenhaus; das kleine Mädchen schluchzt immer noch; der kleine Junge isst einen Keks zur Beruhigung.
Erivaldo muss warten, weil der Amerikaner im Schlangenhaus zurückgeblieben ist; dann kommt aber auch er.

Auf der Holterdipolter-Fahrt zum nächsten Teil des CEPLAC-Forschungszentrums erklärte Erivaldo: „Wir kommen zum vorletzten Besichtigungsabschnitt des Forschungszentrums: ich bitte euch, keine Fotos zu machen. Es handelt sich um geheime Industrieforschung über neue Kreuzungsarten und Schädlingsbekämpfung.“
Alle Erwachsenen nicken verständnisvoll.
"OK", fasst der Ami die Situation zusammen.
Nicht nur die Kinder langweilen sich, als Erivaldo im Treibhaus einige allgemeine Erklärungen über neue Forschungsprojekte gibt.
Der Ami wippt arbeitslos von einem Bein aufs andere.

„Und jetzt zum Herbarium!“ führt der CEPLAC-Mitarbeiter seine Fussgruppe zum letzten zu besichtigenden Gebäude. In der angenehmen Kühle des Kellers des Forschungsinstituts holt er zu seinen letzten Erklärungen aus:
„Dieses Herbarium beherbergt mehrere tausend Pflanzen, darunter die schönsten Holzarten des mato atlantico, des Regenwalds an der Atlantikküste…äh… wo ist denn unser Freund, der Amerikaner?“

Die brasilianische Familie dreht sich achselzuckend um; und das europäische Pärchen hat die Frage nicht verstanden.
„Mist!“, denkt Erivaldo.
Zum ersten Mal diesen Nachmittag wird er unruhig.
„Ich bitte, mich zu entschuldigen.“
Er läuft nach draussen.
Der Ami hat nicht vor dem Gebäude gewartet.
Ist er noch im Treibhaus?
Nein.
Verlassen steht es da.
Aber was ist das?

Da, wo der Kleinbus noch vor fünf Minuten parkte, keine Spur... Da, wo Erivaldo im Treibhaus noch vor fünf Minuten die Forschungsarbeiten über neueste wissenschaftliche Erkenntnisse bei Kreuzungsprojekten erklärt hat, fehlen Pflanzen. Mehrere junge Kakaopflanzen sind aus dem Nährboden herausgerupft worden; schwarze Erde liegt auf den Zementplatten verstreut…
„Hurensohn!“, schreit Erivaldo. Das kann doch nicht wahr sein!
In seinem Kopf spielt sich schon der Film ab, die Liste der Sicherheitsbestimmungen, die er nicht beachtet hat, … die eigentlich keiner im Forschungszentrum jemals beachtet: das genaue Ausfüllen der Teilnehmerliste, das Achten auf die ausgeschilderten Wege, das Verbot des Zutritts zu Forschungsbereichen…

Erivaldo läuft, läuft immer schneller.
Hin zum Hauptausgang.
Rennt um seinen Job.
Und weiss doch, dass er zu spät kommen wird. Da hört er in der Ferne den Motor seines geliebten Kleinbusses.
„Verdammter Hurensohn!“
Der Schweiss rinnt ihm über die schwarze Stirn. Und spurtet.
„Mist, Mist, Mist!!!!“
Wie ärgert er über sich selbst!
Er fühlt sich mit einem Male leer, leer. Was soll das alles? Warum der Stress? Es ist zu spät.

Da kommt Marcelo vom Schlangenhaus aus dem Seitenweg.
„Die Schlangen!“, ruft Marcelo.
„Was ist, Marcelo?“ fragt Erivaldo, hält atemlos an und ahnt schon die Antwort.
„Sabotage! Jemand hat die Schlangen losgelassen. Die giftigen Kobras sind entkommen!!!“, schreit sein Kollege.
„Scheisse, scheisse, und alles mein Fehler.“, entfährt es Erivaldo, den Kopf rot vor Ärger und Erschöpfung. Er will zum Eingangstor, vielleicht erreicht er den Hundesohn noch.
„Was?“, fragt Marcelo und hält seinen Kollegen am Arm zurück.
„Der Gringo meiner Touri-Gruppe, er war‘s! Er hat die neuen Kreuzungen der Forschungspflanzen herausgerissen und meinen Kleinbus geklaut!“
„Oh nein! Aber warum hat er die Schlangen herausgelassen?“
„Weiss nicht. Vielleicht ein Ablenkungsmanöver? Lass mich! Ich muss zum Haupteingang!“
„Vergebliche Lebensmühe, Erivaldo, der ist weg!“, kommentiert Marcelo pessimistisch.
Erivaldo schluckt.
Ami weg, Job weg.
Trotzdem läuft er los.
Er erreicht das Tor kaum eine Minute später.
Kein Kleinbus zu sehen.
Erivaldo schnauft. Auf der Landstrasse fahren Lastwagen, Busse, Taxis von und nach Ilhéus. Auf dem nächsten Hügel... ist das ein Kleinbus? Erivaldo kann es im gleissenden Sonnenlicht nicht mehr erkennen.
Geschlagen dreht er sich um, kehrt ins Innere des CEPLAC zurück.

Von weitem sieht er Marcelo, der in der Hocke sitzt und etwas auf dem Boden betrachtet.
„Schau mal!“ ruft Marcelo und winkt Erivaldo in den Seitenweg zu einer Forschungsanbaufläche.
„Was? Ich habe jetzt andere Sorgen!“, ereifert sich Erivaldo und will sich losreissen.
Doch zieht Marcelo ihn mit sich mit starrem Blick auf die Kakaopflanzen, die von der „Vassoura de bruxa“ befallen sind.
Die Pflanzen, auf die Marcelo zeigt, besitzen die typischen Erkennungszeichen des Schädlingsbefalls: die braunen Löcher in den herabhängenden Blättern und die viel zu vielen, viel zu kleinen, frühreifen Kakaoblüten, die niemals Kakaofrüchte tragen werden…
„Hier sind die rausgelassenen Schlangen durchgekommen. Siehst du es denn nicht?“
„Nein!“
„An den Bäumen…“
Erivaldo lässt sich einen hellgrünen Farbfleck zeigen, den Marcelo schon an mehreren Stellen der Rinde und der Blätter einer alten, verfaulten Kakaopflanze entdeckt hat.
„Siehst, das ist grün! Grün!“
„OK“, räumt Erivaldo ein, „hier hat sich eine Schlange vorbeigeschlängelt, vielleicht hat sie noch ihr Serum verspritzt, hat irgendwas am Leib gestreift oder so oder trug irgendwas an ihrer Haut…“
„Schmeck mal“, befiehlt Marcelo, bricht ein grünes Blatt ab und hält das etwas frisch riechende Stück Erivaldo unter die Nase.
„Nein danke“, sagt Erivaldo genervt, „na gut, diese Farbtönung und der Geschmack zeigen, dass die Schlange den Baum vielleicht berührt hat, und?“
„Die Vassoura de bruxa hat sich diesem Baum schon lange bemächtigt, und wir hatten ihn schon aufgegeben.
Klinisch tot, wenn du willst.
Die Schlangenberührung zeigt, dass noch Leben in ihm steckt.
Der Baum ist nicht ganz tot, vielleicht hat das Schlangenserum damit etwas zu tun…“
Marcelo hält atemlos inne. „Vielleicht haben wir da etwas gefunden…“ Marcelo blinzelt Erivaldo an.
Erivaldo will sich losreißen.
Der Ami-Spion… sein Job, den er verlieren wird… alles Blödsinn.
Doch dann muss er lächeln: „Und wenn du recht hättest…“

 

Hallo Urach,

die Fülle der Details aus Brasilien, dem Forschungszentrum, dem Kakao fand ich sehr interessant und ich bin mir fast sicher, dass du irgendeinen persönlichen Bezug zu der Sache hast. Dennoch ist genau diese Detailfülle mein Kritikpunkt an der Geschichte: sie war mir an vielen Stellen zu berichtend, zu überfrachtet mit den einzelnen Informationen, besonders im Vergleich zur Handlung. Ein kleines Beispiel:

Die brasilianische Filmindustrie produziert verschiedenste Fernsehserien, sogenannte Telenovelas, die ohne Probleme den Vergleich zu anderen „Qualitäts“-Serien aus Nordamerika („Bay watch“) standhalten können.
Solche reinen Info-Sätze würde ich streichen, die Erklärung ist an dieser Stelle auch gar nicht nötig.
Ich habe mir manchmal gewünscht, nur einen Bruchteil der Geschichte erzählt zu bekommen, dafür aber ausführlicher, tiefer gehender und intensiver, vielleicht mit noch mehr Wahrnehmungen.
Als der Amerikaner verschwindet, kommt richtig Fahrt in die Geschichte, das hat mir gefallen. Das Ende allerdings fand ich dann etwas zu plötzlich. Die Suche nach dem Verschwundenen als die "Suche", die Bedingung für den Challenge war, kam mir persönlich als Motiv etwas spät.

Damit das alles jetzt nicht so negativ klingt: ich hab die Geschichte gerne gelesen und fand sie interessant. Ein paar Fehler hab ich noch:

Er starrt quer durch die Empfangshalle auf die in luftiger Höhe angebrachten Glotze.
angebrachte
Die Exkursionsgäste haben sich schon auf dem schmalen Bürgersteig vor dem Hotel Aufstellung genommen, als Erivaldo heranbraust.
das "sich" kann weg
Bevor man den Motorenlärm des Kleinbusses vernimmt, dröhnt das dumpf-dröhnendes Axé-Percussion-Hämmern der „Dança da lata“ (der Blechtanz) den Wartenden entgegen.
dumpf-dröhnende, den Klammer-Einschub würde ich streichen
Das CEPLAC ist das brasilianische staatliche Forschungszentrum
Die Informationen, die jetzt folgen - magst du sie nicht in wörtliche Rede packen? Das würde anschaulicher wirken.
„Ich will noch einen Keks“, unterbricht laut schmatzend das kleine dicke Mädchen die andachtsvolle Stille der Erwachsenen beim Anblick dieser Naturschönheiten.

Und jetzt widme ich mich mal wieder meiner Challenge-Geschichte, die in den letzten Zügen liegt...

Liebe Grüße
Juschi

 

Hallo Juschi,

klar Deine technischen Kommentare und Verbesserungsvorschläge waren alle richtig; ich hab sie eins zu eins übernommen.

Zu Deiner grundsätzlichen Kritik - zuviel Infos, zuviele Details, die nicht zur Geschichte gehören - kann ich Dir erst mal nicht widersprechen, weil ich meine Erzählidee wohl schlecht rübergebracht habe.

Nur in einem Satz, was ich eigentlich ausdrücken wollte:
"Mit allen Sinnen" alleine konsumieren, mich befriedigen? Nein, das reicht nicht.
Mit denen um mich herum, mit der Umwelt, mit Vergangenheit und Zukunft... Das isses!

Ich bin gespannt auf Deine Challenge-Geschichte.

Gruss
Wolfgang Urach

 

Hi Urach!

Eine interessante Geschichte :D und wenn ich das Ende sehe, eine mutige dazu.
Meinem Vorredner anschließend muss ich sagen, dass so richtig Fahrt aufkam, als der Ami verschwand. Bis dahin war es einfach nur interessant, dann wurde es spannend. Plötzlich wurde ich auch nicht mehr abgelenkt, ich las und las und wollte wissen, was passierte und ...dann war sie zu Ende die Story. Wobei ich mich über dieses Ende nicht geärgert habe, es macht irgendwie Sinn für mich, auch wenn es nicht ganz in die allgemeinen Konventionen passt.Der Ami-Spion :D

Der Stil erinnert mich in seiner Detailfülle an den petdays, er ist anstrengend zu lesen, er entschädigt aber dafür mit Intensität. Wie ich sehe, hast du den Text schon überarbeitet auf Juschis Anregung hin, die Telenovelas brauchst du gar nicht erklären, denke ich. Im allgemeinen weiß man, was gemeint ist und die in Klammern gesetzte Erklärung sieht arg nach Klugschiss aus. :dozey:

Im ersten Absatz (den würde ich ganz dringend überarbeiten) tummeln sich jedemMenge Worte in zwei- oder sogar dreifacher Ausfertigung: Kakao, Hafen, Multis, Rohstoff. Wenn du dafür Synonyme finden könntest, der erste Abschnitt ist ziemlich wichtig, nicht wahr?

tiefkühlhausmässige Kälte
schlagbelöcherten Seitenweg

zwei Adjektive, die, wie ich finde, Aua machen. Hört sich an wie gewollt und nicht gekonnt. Zumindest die Kälte wäre sehr gut ohne Zusatz ausgekommen. Und bei dem Weg sollte sich doch was einfacheres finden, oder?

dröhnt das dumpf-dröhnende Axé-Percussion-Hämmern

Abgesehen davon, dass das Eigenschaftswort schon wieder 'n büschen seltsam ist, wiederholt es das Verb und hört sich somit doof an. :shy:


"Die tragen Blätter, größer als sie selbst!"

Was bleibt den armen Teufeln übrig?


Da, wo der Kleinbus noch vor fünf Minuten parkte, ist nichts mehr vom Kleinbus zu sehen.

Ich weiß, worauf du hinauswillst, aber kann man das nicht etwas eleganter lösen?


Auch wenn sich mein Kommentar negativ anhört, das gehört zu meiner Natur :cool: Ich hab sie gern gelesen, deine Story und sie hat mir gefallen. Spannung im letzten Viertel.
Bis zum nächsten Mal!

Viele Grüße von hier!

 

Hallo Hanniball,

erst mal was Grundsätzliches: ich mach hier auf der kg.de-Plattform seit 3 Wochen mit... und Hut ab! ich habe wirklich viele tolle Geschichten und Kritiken zum Teil auf sehr gutem Niveau gelesen. Z.B.: Nicht nur Juschis, sondern auch Deine Kritik (die ich nicht als negativ wahrgenommen habe) haben mir weitergeholfen.

Jetzt zu Deinen Punkten:
Klar: Wortwiederholung, umständliche Adjektive, platte Satzformulierungen... ich hab versucht, das abzuändern.

Zum Leserhythmus: klar, die Geschichte war disproportioniert. Ich habe sie etwas umgestaltet und hoffe, dass sie jetzt ausgewogener ist.

LG
WU

 

Hallo Urach,

die Suche kommt mir bei dir ein bisschen zu kurz, obwohl sie auf zwei Ebenen stattfindet. Zum einen die Suche nach dem wirksamen Gegengift, zum anderen die Suche nach dem gestohlenen Kleinbus am Ende.
Bei den Sinnen kommt mir der Tastsinn zu kurz. Auch werden die Sinne eher direkt erwähnt, als angesprochen. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob das bei mir am unbekannen Sujet liegt. Ich war bisher weder in der Gegend noch habe ich je rohen Kakao berührt, gesehen, gerochen oder geschmeckt. Vielleicht wäre das in mir entstanden, wenn ich es kennen würde.

Lieben Gruß, sim

 

Hallo sim,

ja mit einer vordergründigen Suche wollte ich es auch nicht belassen.

Nur in einem Satz, was ich eigentlich ausdrücken wollte:
"Mit allen Sinnen" alleine konsumieren, mich befriedigen? Nein, das reicht nicht.
Mit denen um mich herum, mit der Umwelt, mit Vergangenheit und Zukunft.

Es geht nicht um Kleinbus oder Gift, sondern Suche in der Wahrnehmung. Der Ami knipst nur rum und sucht eben nicht, sondern bereichert sich nur. Die Forscher sehen, entdecken, riechen und finden vielleicht eine Antwort auf die „Vassoura de bruxa“ durch die entflohende Schlange...

LG
WU

 

Halo Urach

Die Gechichte kam nie so recht in Fahrt und schleppte sich von Schauplatz zu Schauplatz. Die vielen Wortwiederholungen und der holpriger Erzählstil liessen bei mir kein grosses Sinneserlebnis aufkommen.

Der Schweiss rinnt ihm über die schwarze Stirn. Und spurtet.
„Mist, Mist, Mist!!!!“
Wie ärgert er über sich selbst!
Er fühlt sich mit einem Male leer, leer. Was soll das alles? Warum der Stress? Es ist zu spät
- Der Schweiss spurtet? Erivaldo spurtet.
- , ärgert er sich.
- ein leer weg.

„Schmeck mal“, befiehlt Marcelo, bricht ein grünes Blatt ab und hält das etwas frisch riechende Stück Erivaldo unter die Nase.
„Nein danke“, sagt Erivaldo genervt, „na gut, diese Farbtönung und der Geschmack zeigen, dass die Schlange den Baum vielleicht berührt hat, und?“
Sinnverdrehung.
-"Riech mal" / diese Farbtönung und der Geruch zeigen,

LG dot/

 

Hallo dotslash,

über Kritik lässt sich immer reden.
Ich hoffe auch über die Kritik an der Kritik.

Mir hat es Spass gemacht, diese kg zu schreiben. Einigen hat sie Lesefreude bereitet. Dir nicht. So ist das eben.

LG
WU

 

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