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Bitterer Nachgeschmack

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06.05.2006
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Bitterer Nachgeschmack

Bitterer Nachgeschmack von Patrick Ellen

Zwölf Tage, siebzehn Stunden und vierundzwanzig Minuten waren vergangen, seit seine Frau ihre Sachen gepackt und ihn, mit den gemeinsamen Töchtern verlassen hatte. Dreizehn Jahre lang war er Abteilungsleiter in einem pharmazeutischen Forschungsinstitut gewesen, bis Arbeitsstellen gestrichen wurden. "Zweiundvierzig Jahre ist zu jung um zu sterben, aber zu alt um eine neue Festanstellung zu bekommen," versuchte er sich bei seiner Frau rechtzufertigen. "Das ist doch nur eine Ausrede. Du gibst dir nur nicht genug Mühe!" warf sie ihm darauf vor. Doch das stimmte nicht ganz. Anfangs strotzte er vor Motivation, doch verzweifelte Müdigkeit auf Grund des ausbleibenen Erfolges ließ ihn, von einen Tag auf den anderen, in tiefe Apathie versinken. Er fing an sich und seine Familie zu vernachlässigen. Er trank regelmäßig um seine Niedergeschlagenheit zu ertränken, ohne darüber nachzudenken, dass der Frust am Tag darauf so groß sein könnte, dass er unter der Last fast zusammen brechen würde. Nachdem er vor knapp zwei Wochen mit einer leichten Alkoholvergiftung in die Notaufnahme eingeliefert wurde, nahm seine Frau sich die Zeit die Koffer zu packen. Mit glasigen Augen schaute er aus dem Fenster und sah zu wie seine Gattin mit seinen Kindern in seinen Wagen stieg und weg fuhr. Er hätte sie am Liebsten aufgehalten, doch er fühlte sich im Stich gelassen und so gewann sein gekränkter Stolz die Oberhand. Er versuchte, so gut es ging, souverän zu wirken, doch das Arbeiten seiner Gesichtszüge zeugten von der tiefen Verletzlichkeit, die er spürte.
Nun stand er, eingehüllt von schwarzem Rauch, auf seinem Balkon. Bereit, seiner Gleichgültigkeit den Krieg zu erklären. Auch wenn er, ironischerweise, mit seinem Leben dafür bezahlen müsste.

Sehnsucht, Traurigkeit und der leidenschaftliche Schmerz der Realität waren in den letzten Stunden ihre stetigen Begleiter. Sie hatte nicht geschlafen, nicht gegessen, sie hatte nicht einmal richtig gelebt. Ihre Augenpartien waren aufgequollen. Sie hatte die Nacht über so viel geweint, dass man davon hätte ausgehen können, dass sie nicht genug Tränenflüssigkeit gehabt hätte um ihre Augen anfeuchten zu können, doch kullerten erneut ein paar Tränen über ihre Wangen und ihre Lippen, so dass sie das Salz schmecken konnte. Der einzige Geschmack, den sie war nahm. Der einzige Sinn, der aktiv war. Sie schaute ins Nichts und hörte nicht einmal den Wind, der ihr zärtlich etwas zuflüsterte.
Sie lernte David vor drei Jahren kennen. Groß, muskulös, mit starken maskulinen Armen stand er vor ihr und zwinkerte ihr mit einem attraktiven Lächeln zu. Sie konnte es nicht fassen, dass er sie meinte, es war Zuneigung auf den ersten Blick. Bei der dritten Verabredung schliefen sie das erste mal miteinander, er verhielt sich immer wie ein Gentleman. Sie verlobten sich schon neun Monate nach dem ersten Date und heirateten achtzehn Monate darauf. Sie waren sich sicher für einander bestimmt zu sein und nur der Tod sollte sie scheiden...und das tat er.
Wie in einer romantischen Komödie waren die letzten Worte, die sie von ihm hörte "Ich liebe Dich!", doch die Komödie nahm schlagartig ein tragisches Ende. Denn keine drei Stunden später klingelte das Telefon. Sie nahm den Hörer ab und vernahm die weinerliche Stimme ihrer Schwiegermutter, die auf die Ankunft ihres Sohnes gewartet hatte. "Er fuhr zu schnell und konnte dem entsprechend nicht schnell genug reagieren." schluchzte sie.
Dass sie nun eine frisch gewordene Witwe war realisierte nicht. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, das Atmen fiel ihr schwer, so gerne wäre sie in Ohnmacht gefallen und nicht mehr aufgewacht, doch sie blieb wach. Von einer Minute zur anderen zerplatzte ihr Traum von einem glücklichen Leben, wie ein Spiegelbild im Fluss, das man klar erkennt und das auseinander splittert, so bald der Wind die Oberfläche streift.
Die Tränen mischten sich mit dem Regen der in Strömen von oben kam, als würde der Himmel auch einen großen Verlust zu beklagen haben. Die grauen dichten Wolken ließen die Sonne nicht ihre Finger auf die Erde strecken. Zweiundvierzig Meter unter ihr schrien ein paar Menschen durcheinander.

Vierhundertachtzig Kilometer östlich stand das Wohngebäude, das schon den zweiten Weltkieg stand gehalten hatte, in Flammen. Es dämmerte schon. Regen fiel nicht, was den Feuerwehrmännern einiges erleichtert hätte. Bis zum Dachfirst hatten sich die Flammen schon an der Hauswand hinauf gezüngelt. Frauen und Kinder, die durch den giftigen schwarzen Rauch getrennt wurden, schrien laut durcheinander. Als er das Streichholz zündete wusste er, dass er damit das Leben von unschuldigen Menschen riskierte, doch hatte ihn das bis zu diesem Moment nicht sonderlich berührt. Sein Gewissen war nun zurück gekehrt, auch wenn es jetzt zu spät war. Es hätte niemanden gekümmert, wenn er sich still und heimlich das Leben genommen hätte. Jedes mal, wenn er darüber nachdachte, wie er sich das Leben nehmen sollte lief es ihm erst heiß und dann kalt den Rücken hinunter, er bekam, bei dem Gedanken sich etwas anzutun, schwitzige, jedoch eiskalte Hände. Ohne sie zu berühren, konnte er seine pulsierende Halsschlagader fühlen. Er entschied sich, in seiner Wohnung ein Feuer zu entfachen, prägnant und simpel. Nachdem das Feuer sich von der Couch über die Vorhänge ausbreitete, fing der Teppich an zu brennen. Rasant fraß sich das Flammenmeer zuerst von Zimmer zu Zimmer, dann von Wohnung zu Wohnung.

Sie hatte es noch geschafft, ihre Schwiegermutter zu verabschieden, als ihr dann der Hörer aus der Hand fiel. Ihr heftiger Atem schlug vorerst in Schluchzen, dann in ein Flehen, und letzendlich in ein Schreien um. Sie empfand Wut und Hass und Trauer, sie begann sich selbst zu ohrfeigen und dann sich Haare, büschelweise, auszureißen, bis sie plötzlich in einen lethargischen Zustand versank und das Bild an der Wand über dem Highboard, eine Kopie von Kandinskys "Blaue Reiterperiode", fixierte. Dabei summte sie Phil Collins "you´ll be in my heart". Das war das Lied, zu dem sie mit David das erste mal tanzte und zu dem sie nie wieder tanzen würden. Auf dem Boden sitzend summte sie es immer und immer wieder. Knapp eine Stunde vor Sonnenaufgang schleppte sie sich ins Bad, öffnete den Medizinschrank und holte drei verschiedene Packungen Tabletten heraus. Ohne David wollte sie nicht mehr leben, sie wollte bei ihm sein, in seinen starken Armen liegen. Sie spülte die zweiundfünfzig Pillen, Kapseln und Tabletten mit lauwarmen Wasser aus der Leitung hinunter und erwachte ein paar Stunden später in der Notaufnahme. Man sagte ihr, sie selbst hatte die Nummer des Notrufs gewählt. Als man bei ihr ankam stand die Tür offen. "Da wollten sie wohl einen Rückzieher machen. Gut so, Kindchen!" witzelte die pummlige Krankenschwester. Es war ihr nicht gelungen, sich umzubringen und wusste nicht, ob sie sich darüber freuen oder unglücklich sein sollte. Sie ließ sich, auf eigener Verantwortung, entlassen. Man wünschte ihr alles Gute und gab ihr eine Überweisung für eine Therapie.

Er hatte die letzen Tage damit verbracht im Internet zu recherchieren. Die Weltgesundheitsorganisation spricht von rund einer Millionen erfolgreichen Selbstmorde, allein im Jahr 2005. Zehn bis Zwanzig mal so viele Suizide scheitern schätzungsweise. Die EU-Kommission stellte fest, das jährlich ungefähr 60000 Menschen an Depressionen erkranken, und hierbei handelt es sich nur um Europa. In den letzten zwölf Monaten nahmen sich, allein in Deutschland, 12000 verzweifelte Menschen das Leben und mit 1,3% der Todesfälle in der Bundesrepublik ist die Zahl höher als die der Verkehrstoten. Man sagt diese Leute sind krank, sie hätten eine psychische Störung. Was wiederum bedeuten würde, dass im letzten Jahr fast 20 Millionen labile Menschen mit sich selbst zu kämpfen hatten und es scheint niemanden zu interessieren. Niemand wundert sich, niemand stellt Fragen.
Der Qualm begann seine Lungen zu reizen, so dass er anfing zu husten. Die meisten Bewohner des Hauses waren schon außer Reichweite der brennenden Gefahr. Dreizig Meter unter ihm hatten die Feuerwehrleute ein großes weißes Tuch gespannt. Er konnte nicht hören, was sie ihm zuriefen, aber es war ihm klar, dass er springen sollte. Er sollte springen, damit er überlebte, doch das war nicht sein Ziel. Er war bereit in die Schattenwelt zu desertieren.

Ihr Kleid und ihre Bluse waren vom Regen durchtränkt. Sie zitterte mehr vor Kälte, als vor Angst. Sie wollte nicht sterben, wusste aber, dass sie ohne ihren Mann nicht weiter leben konnte. In ein paar Minuten würde ein Sozialarbeiter auf das Dach des Hauses kommen und auf sie einreden wieder mit hinunterzukommen, da doch alles wieder gut werden würde. Doch Tote kann man nicht wieder lebendig machen. Sie konnte erkennen, dass auch Frauen mit ihren Kindern unten standen. Wie konnte eine Mutter nur riskieren ihr Kind Zeuge bei einem Selbstmord werden zu lassen? ging es ihr durch den Kopf. Wenn so etwas passiert sind die Leute immer voll von Neugier und Mitgefühl, jedoch brüskieren sie obdachlose Menschen, die, um zu überleben, bettelten. Erst wenn man Aufsehen erregt, steigt der Eifer in den Menschen etwas Heroisches tun zu müssen. Welch deprimierende Ideologie. Ihr schienen diese Gedanken lächerlich in solch einer Situation und ihre Geistesschärfe in diesem Moment überraschte sie. Sie rief das Gesicht ihres toten Geliebten vor ihren geistigen Augen und fokussierte es. Der Regen ließ nach.

Mittlerweile übertönten das Knistern und das Krachen der zusammenfallenden Wände und Decken die Rufe der Lebensretter, die unten standen und hofften, ja sogar flehten, dass er springen würde.
Seine Sicht war verschwommen, er war der Ohnmacht nah, er sah schon die wohl bekannten "Sternchen". Weiße Sterne, die um ihn herum flogen. Er konnte nicht klar denken, doch um so deutlich fühlte er die Angst vor dem Tode. Dennoch nahm er sich vor, obwohl es ihm körperlich absolut schlecht ging, stehen zu bleiben bis das Feuer ihn erreicht hatte, und das tat es. Er fühlte wie die Flammen ihn mit ihren Zungen auf die Haut küssten, der Schmerz war unerträglich. Beinah sanft kroch das Feuer über seinen Körper und bedeckte ihn mit der Agonie seiner Empfindungen.

Ihr Kinn zitterte unaufhörlich, sie hatte das Gefühl ihre Augen würden jeden Augenblick aus ihren Höhlen springen. Sie würde es einfach tun, da war sie sich sicher, es sei denn sie bekam das Zeichen einer höheren Macht oder ihres Angetrauten. Doch nichts dergleichen passierte. Also fing sie erneut an zu weinen ohne dabei ihre Contenance zu verlieren...und sprang.
Laut aufschreiend sahen die Leute einen Engel fallen.

Die Flammen waren erloschen, das Feuer hatte resigniert, doch das Haus qualmte noch. "Der arme Kerl!", sagte einer der Feuerwehrmänner mit einer Ausdruckslosigkeit, als wären seine Gesichtszüge eingefroren. "Hätte er doch nur genug Mut gehabt um zu springen!" Seine Stimme schallte durch die halbzerstörten leeren Räume und hinterließen einen bitteren Nachgeschmack.

Der Krankenwagen fuhr nicht mit Blaulicht, da es sowieso nicht viel gebracht hätte. Für jede Rettung war es längst zu spät. "Das Schicksal ist die einzige Stetigkeit", sagte eine ältere Dame zu ihrer Nachbarin, die ihr nickend zu stimmte. "Und obwohl es unberechenbar ist, können wir davon ausgehen, dass es nie auf seinen tragischen Sinn für Humor verzichtet!".

 

Hallo beautifulsmile,

deine Geschichte ist vom Stil her, finde ich, recht ansprechend, auch die häufigen Szenenwechsel gefallen mir gut, das Thema Suizid ist auch eines meiner häufig verwendeten Themen; was ich allerdings vermisse, ist eine klare Pointe oder Schlussaussage. Ist es einfach, dass du das Paradoxe unterstreichen willst, dass die eine Frau springt, um sich ihr Leben zu nehmen, der Mann eben aufs Springen verzichtet, aus dem gleichen Grund? (Das fand ich übrigens wirklich gut!) oder was ist deine genaue Botschaft?
Einmal wirfst du mit einem ganzen Haufen Statistikkram um dich, willst du irgendwie betonen, wie viele Menschen sich umbringen (bzw. versuchen sich umzubringen)? Oder oder oder.... wie gesagt, mir fehlt da noch ein bißchen deine Intension gegen Ende.

Liebe Grüße,
Sebastian

 

Hallo beautifulsmile,

und herzlich willkommen hier.
Schon in deinem ersten Absatz fallen mir leider ein paar Dinge auf, bei denen ich mich frage, ob du dich in die Situation eines Arbeitslosen wirklich hineinversetzt hast.
Zum einen ist der Verlauf für mich nicht plausibel, was daran liegen kann, dass ich (noch?) nichts über die Beziehung und die Menschen vor der Arbeitslosigkeit weiß. Der Prot müsste zum Beispiel schon vorher eine Affinität zum Alkohol gehabt haben, wenn er jetzt darin Trost sucht. Auch in Extremsituationen wird nur höchst selten jemand von Null auf Hundert zum Alkoholiker. Es müssen also ein paar zusätzliche Bedingungen erfüllt sein, damit das Klischee vom Arbeitslosen, der süchtig wird erfüllt werden kann. So bleibt es durch die narrative Erzählweise nur ein unpersönliches Abziehbild.
Wenn er übrigens Abteilungsleiter war, würde das bedeuten, dass die ganze Abteilung geschlossen wurde. Andernfalls wäre er derjenige gewesen, der die schleche Nachricht hätte verbreiten müssen.

Nachdem er vor knapp zwei Wochen mit einer leichten Alkoholvergiftung in die Notaufnahme eingeliefert wurde, nahm seine Frau sich die Zeit die Koffer zu packen
"nahm sich die Zeit" ist ein Euphemismus. Es klingt so, als wäre es eine Laune. Sich für etwas die Zeit nehmen tut man, um lange aufgeschobene Dinge zu erledigen, für seine Hobbys oder für Freunde. Hier aber hat die Frau wohl die Schnauze voll gehabt. Sie wird eher recht überstürzt die Koffer gepackt haben.
Mit glasigen Augen schaute er aus dem Fenster und sah zu wie seine Gattin mit seinen Kindern in seinen Wagen stieg und weg fuhr
Ist er da also nicht mehr in der Notaufnahme? Das wäre doch der beste Fluchtzeitpunkt der Frau gewesen.
doch das Arbeiten seiner Gesichtszüge zeugten von der tiefen Verletzlichkeit, die er spürte.
hier spürte er keine Verletzlichkeit, sondern er war verletzt oder fühlte sich verletzt. Verletzlichkeit ist nur eine Wesenszug, durch den Menschen sich leichter verletzt fühlen als andere.
Der einzige Geschmack, den sie war nahm
wahrnahm
Sie lernte David vor drei Jahren kennen
Wenn du alles in der Vergangenheit erzählst, musst du sie hier vollenden. Sie hatte David vor drei Jahren kennen gelernt. Das gilt für den ganzen weiteren Absatz.
Als er das Streichholz zündete wusste er, dass er damit das Leben von unschuldigen Menschen riskierte
und auch für diesen Satz.
Der Krankenwagen fuhr nicht mit Blaulicht, da es sowieso nicht viel gebracht hätte.
Der Krankenwagen wird niemanden mitnehmen, der schon gestorben ist.

Du möchtest auf Selbstmord (und Depressionen) als gesellschaftliches Phänomen aufmerksam machen und nutzt dazu auch gesellschaftliche Faktoren, wie Arbeitslosigkeit und Trennung.
Mein Problem dabei ist, dass du an der Oberfläche deiner Protagonisten bleibst, auch, wenn die Episoden sich ja hauptsächlich berichtend mit deren Gefühsleben beschäftigen. Leider arbeitest du dabei nicht den Unterschied heraus, warum die einen mit dem Schicksal fertig werden, den anderen nicht. So bleibt es mir leider ein bisschen platt. Manchmal hatte ich das Gefühl, du hattest nicht bis in letzte Konsequenz eine Vorstellung von dem, was du schreibst. Daher kamen einige Ungereimtheiten.

Sorry, sim

 

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