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Blütenstaub
Mein Vater zog aus, bevor ich ihn wirklich kennenlernen konnte. Zurück blieb nur eine alte Regenjacke und die Erinnerung an einen Mann, der frühmorgens aus dem Haus gegangen und spätabends wieder heimgekommen war. Nachdem er fort war, zog ich von meinem kleinen, stickigen Zimmer in sein altes Büro, von dessen Fenster aus man des Morgens die Sonne auf und des Abends wieder untergehen sah. Als Vater dort noch gewohnt hatte, hatte es nach frischem Papier und Schweiß gerochen, als ich einzog roch es nur nach Alter und Verwesung.
Mein neues Zimmer lag nun genau neben dem meiner Mutter und wenn ich Abends nicht einschlafen konnte, ging ich nach nebenan und kroch zu ihr unter die Decke. Wenn ich dann neben ihr lag und den leichten Geruch nach Rosen und Nelken wahrnahm, zog sie mich an sich und erzählte mir von ihrer Jugend. Wie sie als kleines Kind mit Großvater durch den Dschungel gezogen war, um wilde Bestien zu jagen oder wie sie mit ihren Freundinnen eine Weltreise gemacht hatte. Wenn es um ihre Abenteuer ging, bekam meine Mutter immer ganz leuchtende Augen und unterstrich ihre Erzählungen mit Gestik und Mimik.
Unser Nachbar hatte einen Hund, doch für mich war er eine der Bestien aus Mutters Erzählungen. Eines Tages, als ich allein Zuhause war, sprang er über den Holzlattenzaun in unseren Garten. Genauso wie Mutter auf ihren Reisen, schnappte ich mir eine Waffe, ein Brotmesser aus unserer Küche, und pirschte mich damit an die Bestie heran. Als sie mich bemerkte, rannte sie auf mich zu, doch ich erledigte sie. Mit großen, blauen Augen sah ich dabei zu, wie weinrote Flüssigkeit aus der Bestie sprudelte, die nach nichts roch.
Davon hatte mir meine Mutter nichts erzählt.
Als meine Mutter dann am Abend wieder kam, packte ich sie am Arm und zeigte ihr meine Beute. „Wie du früher, Mama“, erklärte ich ihr, doch meine Mutter antwortete mir nicht. Ihre weiße Kleidung färbte sich rot, als sie meine Beute auf den Arm nahm und in unseren Keller trug. Später bleuhte sie mir ein, ja nichts von meinem Fang weiterzuerzählen. Ich verstand sie nicht.
Am nächsten Morgen kam unsere Nachbarin und fragte, ob wir ihren kleinen Hund gesehen hätten. Ich verneinte, schließlich hatte meine Mutter gesagt, ich dürfte nichts von meiner Beute erzählen. Als meine Mutter am nächsten Tag zur Arbeit ging, schlich ich mich in unseren Keller. Unsere Kellertreppe war aus Eisen, so dass es laute Geräusche gab, wenn man darauf hinunterstieg. Wie dasTicken einer Uhr klang das.
Tick tack, tick tack.
In der Schule hatten wir gelernt, nie alleine in die Dunkelheit zu gehen. Doch ich war nicht alleine. Schließlich wartete meine Beute da unten auf mich.
Langsam setzte ich einen Fuß vor den anderen, erschnupperte den Geruch nach Moos und Nässe. Ich entdeckte meine Beute in einem der hinteren Regale. Diese waren aus Birnbaumholz gefertigt. Das Regal wurde kaum von dem Licht erhellt, welches durch die offene Kellertüre fiel. Die dunklen Augen meiner Beute leuchteten leicht im Lichtschein, wenn ich mich vor das Licht stellte, waren sie stumpf. Jeden Tag lief ich, sobald Mutter aus dem Haus war, hinunter und unterhielt mich mit George. Wenn ich mich hinsetzte und ihm von Mutters Abenteuern erzählte, leuchteten seine Augen und er lächelte mich an.
Mit der Zeit kamen immer mehr Freunde von George, flogen um ihn herum oder setzten sich auf seinen Körper, um Mutters Abenteuern zu lauschen. Eines Tages war George dann weg. Ich suchte ihn im ganzen Haus, doch konnte ich ihn nicht finden. Auch Georges Freunde verschwanden mit George.
Drei Monate später kam dann Richard.
Ich hatte ihn in einem Waldstück in der Nähe unseres Hauses erlegt.
Als Mutter ihn sah, brachte sie ihn nicht in den Keller, sondern vergrub Richard im Wald. Am nächsten Tag grub ich ihn wieder aus, wollte ihm ebenfalls von Mutters Abenteuern berichten. Noch mit der Schaufel in der Hand traf mich meine Mutter an. Sie schrie mich an und versuchte mir die Schaufel zu entreißen. Sie benahm sich wie eine Bestie. Wie schon meine Mutter zuvor, vergrub ich die Bestie im Wald und ging dann nach Hause. Eine Woche später sah ich meinen Vater wieder.
Mein Vater nahm mich mit zu sich und ich bekam ein Zimmer unter dem Dach seines neuen Hauses. Meine neue Mutter hatte noch zwei Töchter, Anna und Meike. Sie waren anders als George und Richard. Anstatt Mutters Abenteuern still und aufmerksam zu lauschen, redeten sie selber. Meist übersahen sie mich dabei. In der ersten Zeit kamen immer wieder Männer in grünen Anzügen und fragten mich nach meiner Mutter. Ich antwortete brav, doch niemals erwähnte ich die Bestien.
Mutter hatte es verboten.
Meine neue Mutter hieß Gabi und stellte mir jeden Tag einen Strauß Blumen in mein Zimmer. Der Wind, der durch das Dachfenster wehte, verstreute den Blütenstaub im ganzen Zimmer. Manchmal erschienen die Bestien in ihm. Dann erzählte ich ihnen wieder von meiner Mutter und ihren Abenteuern.
Ruhig verlasse ich das Waldstück wieder, gehe zurück in die Stadt.
Das Cafe an der Ecke ist vollbesetzt und der Geruch von Spaghetti und Pizza weht zu mir herüber. Die rotgoldenen Schirme schimmern im hellen Sonnenlicht und ich sehe Anna und Meike, die unter einem Schirm sitzen und Eis essen.
Die Kinder einer Bestie. Ob sie auch Bestien sind?
FIN