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Blasse Welt
Herr König lugt aus dem Fenster. Die Sonne scheint blass heute; kühl ist es und windig, anders als die vielen Monate zuvor. Das sollte er ausnutzen, denn normalerweise ist es selbst im Schatten der vertrockneten Bäume und Ruinen kaum auszuhalten.
Heute scheint ein besonderer Tag zu werden. Herr König hat das Gefühl, dieser Morgen sei wie eine seit langem herbeigesehnte Verschnaufpause. Es ist auffallend ruhig in der Gegend. Keine Schüsse, kein Geschrei und trotzdem hat er Angst. Etwas hängt in der Luft.
Herr König dreht sich um und schleppt sich zur Wohnzimmertür. Kurz davor bleibt er stehen und schlurft zurück, schließt seufzend seine Vorhänge, die er aus Kartoffelsäcken und aufgetrennten Wollsocken geschneidert hat. Er geht in die Küche.
Herr König greift in den Schrank, holt einen Wasserkessel heraus, stellt ihn in die Spüle. Der Wasserhahn quietscht.
»Ach«, macht Herr König.
Er dreht den Hahn kopfschüttelnd zu. Manchmal fragt er sich, wie lange er sich wohl etwas Unmögliches zu wünschen in der Lage sei, bis er die Sinnlosigkeit des Gedankens einsähe. Gut, dass die Regentonne fast voll ist, denkt Herr König. Er freut sich darüber, nicht schon wieder nach draußen zu müssen. Vor einem Jahr hatte er den Ablauf der Regenrinne durch das Fenster direkt in seine Küche umgeleitet. Er taucht den Kessel ins Wasser und das voluminöse Geräusch der entweichenden Luftblase wird von der Tonne verstärkt, so sehr, dass er zusammenfährt. Herr König findet, er ist zu nervös, aber immer, wenn er das denkt, erinnert er sich daran, dass das ja nicht von ungefähr kam. Er hatte jedes Recht, nervös zu sein. Er stellt den Wasserkessel auf den Herd. Aus dem Kühlschrank holt er ein paar Stücke, die einst sein Ohrensessel waren. Herr König lächelt. Ein Kühlschrank voller Feuerholz.
Das Bänkchen im Garten hält seinen Blick aus dem Fenster fest. Es erinnert Herrn König an die regelmäßigen Pausen nach dem Jogging, aber das liegt auch schon wieder lange zurück. Jogging - das ist etwas aus einem anderen Leben, denkt er und spürt dem Gedanken nach, versucht sich daran zu erinnern, wie es sich anfühlt zu laufen, ohne Angst, ohne verfolgt zu werden, in einer Welt, die es längst nicht mehr gibt.
Zwei magere Eichhörnchen balgen dort auf dem Bänkchen um etwas Fressbares. Langsam, herzig unbeholfen tun sie es. Er muss lächeln und ist traurig dabei. Nach einer Weile lassen sie voneinander ab. Daneben die alte Frau, die dort tagein, tagaus sitzt. Herr König nennt sie Marlene, aber er weiß nicht, wie sie wirklich heißt. Sie hat ihre Haare immer hochgesteckt. Irgend etwas hindert ihn daran, einfach mal hinzugehen. Tagelang suchte er nach einem Grund für sein Zögern. Dann fiel es ihm ein: Er war sich sicher, das Sprechen verlernt zu haben. Es wäre auch zu peinlich, plötzlich vor Marlene zu stehen und sie nur angrunzen zu können, hatte er gedacht. Über eine Woche brauchte Herr König, bis er endlich versuchsweise mit sich selbst zu sprechen wagte. Natürlich hatte es geklappt und natürlich hatte er es nicht verlernt. Er hatte sich wie ein dummer Junge gefühlt. Angesprochen hat er Marlene trotzdem nicht.
Es gibt noch andere Übriggebliebene in der Gegend, aber die sind ihm nicht geheuer. Marlene, die täte ihm nichts, so alt wie sie ist, aber seine Hand würde er dafür nicht ins Feuer legen. Die anderen meinen, allein auf der Welt zu sein, laufen durch die Straßen und ballern auf alles, was ihnen vor die Flinte kommt. Im Nachhinein wirkt dieser verdammte Film wie eine Anleitung zum Ende der Welt. Fehlen nur noch Zombies. Wenigstens lassen sie Marlene in Ruhe.
Der pfeifende Wasserkessel holt Herrn König aus seinen Gedanken. Der alte Hocker, seine einzige Sitzgelegenheit, knarrt, als er sich erhebt. Herr König öffnet den an die Wand geschraubten Werkzeugkasten und holt seine geblümte Teedose heraus. Sie ist rostig, hat schon zwei Löcher, aber er wirft sie nicht fort, denn für ihn ist sie wie ein Foto aus vergangener Zeit, eine der wenigen verbliebenen Erinnerungen an glücklichere Tage. Das Motiv darauf sieht schmutzig aus, findet er und fährt mit dem Daumen darüber. Der Schmutz aber bleibt. Den Deckel bekommt Herr König nur mithilfe eines Nagels auf. Irgendwann frisst der Rost die arme Dose, denkt er, hält sie sich an die Nase und atmet das Aroma von Pfefferminz. Schön wäre doch jetzt ein Stück von Mutters Zitronenkuchen.
Gerade als Herr König seinen Tee aufgießen will, hallt ein Schuss. Er schüttet vor Schreck ein wenig über seinen Daumen, beißt aber die Zähne zusammen und füllt die Tasse. Erst jetzt betrachtet er den Daumen, der ganz rot geworden ist. Sogar die Haut löst sich ab und, als könnte er keinen Schmerz mehr empfinden, muss er sich selbst daran erinnern, den Daumen in die Regentonne zu stecken. Schießwütiges Pack, denkt er und schüttelt den Kopf.
Herr König steht wie ein Anhalter an der Regentonne und schaut dabei aus dem Fenster. Marlene ist weg. Vielleicht ist es ihr zu langweilig geworden, überlegt Herr König, aber den Gedanken verwirft er gleich wieder. Wie vom Blitz getroffen fährt er herum. Könnte der Schuss ihr gegolten haben?
Kurz entschlossen geht Herr König auf den Flur, greift sich Parka und Hut, öffnet die Haustür und zögert dann doch. Sollte er sich bewaffnen? Sicher ist sicher, findet er. Der Spaten neben der Tür erfüllt den Zweck. Forschen Schrittes bewegt er sich auf das Bänkchen zu. Von Marlene keine Spur.
Ein paar Schritte vor der Bank bleibt er stehen und sieht sich um. Marlene liegt nicht davor, weit und breit kann er niemanden entdecken. Herr König ist erleichtert.
»Marlene?«, ruft Herr König, so leise es geht.
Bis auf einen kaum spürbaren Wind rührt sich nichts und er lockert seinen Griff um den Spaten. Sein Herz klopft. Er ruft noch einmal, doch keiner antwortet.
»Hm«, macht er.
Die Gartentür ächzt beim Öffnen. Herr König möchte hinausgehen und wenigstens einen kurzen Blick die Straße hinunter werfen, doch als er den ersten Schritt über die Schwelle auf den Gehsteig macht, bekommt er weiche Knie. Endlose Sekunden verharrt er, überlegt, versucht sich selbst davon zu überzeugen, dass Marlene bestimmt seine Hilfe braucht. Überall auf seinem Körper spürt er die Blicke der Wahnsinnigen, der Mörder und Unmenschen; normale Menschen wie ihn, findet Herr König, gibt es nicht mehr. Und Marlene, ja, die wäre sicher zu den Vernünftigen zu zählen. Heulen möchte Herr König am liebsten vor Wut über seinen schwachen Willen, Marlene braucht mich, denkt er, doch dann geht er zurück und schiebt die Gartentür wieder ins Schloss. Zu gefährlich.
Unzufrieden mit sich selbst schleicht Herr König auf die Bank zu, hält inne. Die Eichhörnchen sind wieder am Werk. Auf seiner Bank. Sie scheinen sich um eine Eichel zu streiten, scheren sich nicht um ihn. Nach einer Weile setzt sich Herr König wieder in Bewegung und nimmt am anderen Ende der Bank Platz. Er will die Tierchen nicht erschrecken. Sie beäugen ihn und er sie. Er greift in die Tasche seines Parkas und findet ein trockenes Stück Fladenbrot darin. Das dunklere Eichhörnchen macht sich mit der Eichel aus dem Staub. Vielleicht könnte Herr König das Mutigere zähmen, ihm Kunststücke beibringen, oder es mästen und gegen etwas Nützliches eintauschen? Er bricht das Brotstück entzwei, legt eine Hälfte neben sich auf die Bank und wartet.
Mit dem Mut der Verzweiflung tippelt das halb verhungerte Eichhörnchen heran, beschnuppert abwechselnd das Brot und Herrn König. Endlich greift es danach, zieht sich aber sogleich ans andere Ende der Sitzfläche zurück. Seine Kulleraugen sehen glücklich aus, findet Herr König, als es zu fressen beginnt.
»Heribert?«
»Ja?«, sagt Herr König wie ein Automat.
Von seinem anfänglichen Mut verlassen, flitzt das Eichhörnchen davon. Herr König fährt herum, schaut zum Küchenfenster. Natürlich ist dort niemand. Jetzt rede ich schon mit Gespenstern, denkt er, während er seine Handflächen betrachtet. Sie sehen alt aus, verbraucht. Raue Arbeiterhände.
»Heribert, komm doch bitte zum Tee herein!«
Herr König klopft sich Brotkrümel von der Cordhose, denkt, dass sein frisch aufgebrühter Tee inzwischen kalt geworden sein dürfte, seufzt und rafft sich auf. Sein Daumen fühlt sich heiß an. Ein mulmiges Gefühl breitet sich in Herrn König aus. Wenn ich jetzt überschnappe, überlegt er, ist es um mich geschehen. In solchen Zeiten überlebt nur, wer bei klarem Verstand bleibt und sich zu helfen weiß. Hat sich doch überdeutlich gezeigt - wer Gespenster sieht, wird unvorsichtig; weiß Gott, was passiert wäre, hätte mich jemand gesehen. Er stellt den Spaten neben die Tür und geht ins Haus. Sorgfältig schließt Herr König die Tür, sperrt zweimal zu und legt ab. Sein Daumen schmerzt.
Plötzlich verschwimmt sein Sichtfeld für den Bruchteil einer Sekunde. Er hat das Gefühl, aus einem Nebelschleier getreten zu sein. Alles wirkt vertraut und doch fremd auf Herrn König.
»Was ist denn jetzt los?«, murmelt er.
Der Läufer im Flur kommt ihm mit einem Mal so sauber vor. Das rote Muster scheint förmlich aus dem Teppich wachsen zu wollen, so leuchtend sind seine Farben. Die Oberfläche der Schuhkommode glänzt wie frisch gewienert, obwohl er schon seit Monaten nicht ordentlich geputzt hatte. Ungläubig geht er den Flur entlang, wirft einen Blick ins Schlafzimmer: Gemachte Betten, nichts liegt herum. Herr König weiß nicht mehr, ob er nach dem Aufstehen aufgeräumt hatte oder nicht.
»Ach, Heribert, ich habe die Milch ganz vergessen«, ruft eine Stimme aus dem Wohnzimmer, »kannst Du sie noch schnell aus der Küche holen?«
Wie ferngesteuert wendet sich Herr König der Küche zu.
»Ja«, sagt er.
Die Küche duftet nach frisch gebackene Keksen. Sie ist blitzsauber. Auf dem Tisch eine zierliche Vase, in der eine gelbe Rose steht.
Auf der Anrichte neben dem Kühlschrank steht eine geblümte Dose – seine geblümte Dose, aber sie hat keine Rostflecken. Herr König öffnet den Kühlschrank, aus dem ihm der Geruch von altem Holz entgegenschlägt. Ein Kühlschrank voller Feuerholz.
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