Blaue Blumen
Sie bewegte sich in einer Weise, wie er es früher schon häufig gesehen hatte und jetzt schmerzlich vermisste. Trotz der weiten Kleidung, rauer rupfenartiger Stoff, konnte er jeden ihrer Muskeln erahnen. Er spürte ihre Anspannung bei jedem Schritt den sie tat. Je näher er kam, desto schneller wurde sie. Stärkere Armbewegungen, beschleunigter Atem. Plötzlich hatte er eine Ahnung von früher Vertrautheit, ein altes Gefühl das er nicht mehr kannte, eine neue Empfindung die gut tat, die er in seinen Gedanken nicht einordnen konnte, die er nicht hätte in Worte fassen können.
Die Schritte hinter ihr wurden immer lauter, kamen näher. Sie hatte sich selten gefürchtet, hatte sich bei Geräuschen umgedreht, nie war da Gefahr gewesen, dachte sie. Jetzt hörte sie den Kies unter den Gummisohlen. Kleine spitze Töne in einer harten Abfolge. Das Tempo passte sich dem ihren an. Sie versuchte nachzusehen wer da sei, sie verfolgte, doch irgendetwas hielt sie davon ab. Immer nur geradeaus; weiter, immer schneller. Sie wusste es wäre besser langsamer zu laufen, nicht die Furcht zu zeigen, die unbegründete Furcht, es war Tag, ihr Ziel war nah und nicht einsam und doch konnte sie nur rennen.
Er sah, wie sie links abbog. In den kleinen Weg der mitten durch den Park führte. Eigentlich sollte er da nicht gehen, tat es doch, nur immer weiter SIE sehen, die IHR so ähnlich war, ihm vertraut, nur noch perfekter. Er musste wissen ob sie echt sei oder nur aus seinem Kopf herausgeschlüpft war, eine Vorstellung, ein Wunsch.
Sie fragte sich warum sie ihren Weg verlassen hatte, weshalb sie in den Park gerannt sei. Nun lief sie automatisch, wie eine Marionette, gleichmäßige Bewegungen. Ihr Atem wurde ruhiger, sie dachte nicht mehr über die Angst nach, achtete nur noch auf ihren eigenen Rhythmus. Ihr Tuch rutsche von der Schulter. Sie hatte es noch nie leiden können, große Blumen auf blauem Grund. Sie hatte es nur an um sich vor der Kälte zu schützen, ein anderes hatte sie in der Eile nicht gefunden. Jetzt war ihr durch das Rennen warm, das Tuch brauchte sie nicht mehr.
Etwas fiel von ihr herab. Kurz bevor es auf dem Boden landete blähte der Wind es auf, ein Muster wurde sichtbar, Blumen, paradiesische Blumen auf meerblauen Grund. Sicher liebte sie das Tuch, es war bestimmt wertvoll, so weich wie es geflogen war. Noch immer drehte sie sich nicht um, lief einfach weiter, kümmerte sich nicht um das Verlorene. Nur wenige Schritte noch bis zum Tuch. Er zögerte. Sollte sie wirklich sein, kein Gedanke sondern ein MENSCH, war auch das Stück Stoff echt und greifbar. Und dann würde sie es vermissen. Zwei Schritte davor lag es immer noch, vom Wind gezaust, eine kleine Ecke in der Pfütze. Ein Schritt, langsam der zweite. Mit einer schnellen Bewegung hob er es auf, rannte los, rief nach ihr.
Eine Kinderstimme. Hell, etwas außer Atem. Dazu dieselben Schritte, Gummisohlen auf knirschenden Kies, ihr Verfolger. Sie blieb stehen, drehte sich jedoch nicht gleich um, zu erstaunlich war die Lösung.
"Warten Sie, sie haben etwas verloren!" Jetzt stand sie, er sah nur den Rücken, Rupfenstoff und der bloßgelegte Hals. Warum dreht sie sich nicht um? ist sie doch nur ein Gespenst, SEIN Gespenst? Langsam geht er weiter, stolpert fast über sein offenes Schuhband als sie ihm ihr Gesicht zuwendet. Sie sieht anders aus. Nicht wie die Mutter, viel jünger als sie, sehniger und härter. Ein Mensch, ein fremder Mensch.
Der Junge muss etwa acht oder neun Jahre alt sein. Er sieht sie an, zuerst ein hoffnungsvolles Flackern in den Augen, dann Leere. Seine Arme hängen am schmächtigen Körper herunter, Schlaff, als ob sie nicht zu ihm gehören würden. Und in der einen Hand hält er das blaue Blumentuch.