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Blick in deine Augen
Der Lastzug bog auf den Hof der Rohrfabrik westlich von Modena ein. 15 Tonnen Kunststoffrohre aufnehmen, das dauerte an die zwei Stunden. Für Gerald zwei Stunden Pause. Er stoppte seinen Laster, Zwischengas, Rückwärtsgang einlegen, rangieren. Geschafft. Er drehte den Zündschlüssel um. Nach dem stundenlangen Brummen des Motors umfing ihn die Stille wie in Watte gehüllt. Gerald stieg aus und bereitete die Ladefläche seines Aufliegers vor. Bei der letzten Fuhre im vergangenen Juli hatte ihm die heiße Luft in Modena zu schaffen gemacht. Jetzt, ein halbes Jahr danach, trug er dasselbe T-Shirt und fror. Während Mitarbeiter der Firma den Sattelschlepper beluden, kletterte Gerald in sein geheiztes Führerhaus zurück. Sein Wohnzimmer. Er steckte sich eine Zigarette an und gab seine Adresse im Navigator ein. 928 Kilometer von Italien bis zu seinem eigenen Bett. Nach wenigen Zügen drückte er die Zigarette aus, das Nikotin konnte ihn kaum wach halten. Er schob eine Kassette ins Autoradio, lehnte sich zurück und dachte an Anna, die hinter ihm nackt in der Schlafkoje lag. Ein blondes, junges Mädchen. Vicky Leandros drang aus den Lautsprechern. Gerald lehnte sich zurück und summte mit.
Ich hab die Liebe geseh'n
Beim ersten Blick in deine Augen.
*
„Da vorne, in dem Schuppen liegt eine verletzte Katze. Ich hab sie heut Früh auf dem Weg zur Schule gefunden und dort hingebracht. Damit sie nicht überfahren wird.“ Anna zweifelte an den Worten ihres Schulkameraden. Er ging in die neunte, sie in die sechste Klasse.
„Glaub ich dir nicht.“
„Doch, ehrlich. Die hat sich ein Bein gebrochen. Wir müssen sie zu einem Tierarzt bringen.“
Im Pausenhof hatte er sie einmal angesprochen, doch Anna wandte ihm den Rücken zu. Wie die meisten Mädchen seiner Schule, die den Anblick seiner von Akne geplagten Haut nicht ertragen wollten. Er hatte bemerkt, dass Anna Katzen über alles liebte und wusste, dass sie ihm letztlich folgen würde. Jetzt wollte er etwas mit ihr machen. Irgendwas. „Komm, jetzt lass uns halt nach der Katze schauen. Vielleicht ist sie ja auch schon tot.“
Anna erschrak und folgte ihm. Sie gingen über die Streuobstwiese zur Gerätescheune. Er spürte die zunehmende Schwellung in seiner Hose, je näher sie dem Schuppen kamen. Er öffnete die knarrende Holztür. Es roch nach einer Mischung aus Heu und Motorenöl. Der Traktor hatte platte Reifen, über dem Anhänger daneben hingen verstaubte Spinnweben.
„Da hinten ist sie.“
Anna ging vorsichtig hinein. „Wo?“
Er schlug hinter sich die Tür zu und riss Anna auf den lehmigen Boden. Er war völlig außer Atem vor Erregung. Das Mädchen versuchte zu schreien, doch er drückte ihr seine Hand auf das Gesicht und verschloss Mund und Nase. Er sah Annas entsetzten Blick, fühlte, wie ihr Körper bebte, sich stoßweise gegen ihn erhob im Kampf nach Luft. Sie ruderte mit ihren dünnen Armen, schlug auf ihn ein, er spürte es nicht. Diese Augen! Diese herrlichen Haare! Er presste sich auf Anna, rieb sich an ihr und fühlte, wie sich sein Samen ergoss, während ihr wehrloser Körper unter ihm erschlaffte und die Lider ihre Augen halb verschlossen.
Keuchend stand er auf, setzte sich auf einen Radkasten des Traktors und betrachtete Anna. So sah also ein toter Mensch aus. Er wunderte sich darüber, wie schnell es ging. Und dass es ihm egal war. Anna interessierte ihn nicht. Immerhin durfte sie teilhaben an einem Augenblick, der für ihn unvergesslich sein würde. Sollte sie doch froh darüber sein. Zwischen den Brettern drangen Sonnenstrahlen in den Schuppen, sie bildeten schmale Wände aus Licht und schwebendem Staub. Er nahm ein Seil vom Haken, warf es über einen Dachbalken und band es um den Hals des toten Mädchens. Er zog Anna mit aller Kraft nach oben, bis die Füße knapp über dem Boden baumelten. Dann verschnürte er das Seil am Traktor. Bevor er den Schuppen verließ, warf er noch einen Blick zurück. Annas Kopf war stark zur Seite geneigt, die Arme, die eben noch wirkungslos auf ihn eingeschlagen hatten, hingen an der Seite herab. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie ein sommerlich gelbes Kleid trug. Der Strick drehte sich, noch im Tod wandte sie ihm den Rücken zu. Er schloss die Tür und lief nach Hause.
Anna wurde am nächsten Tag gefunden. Und wiederum einen Tag später war sie eine Randnotiz in der Zeitung. Sie wäre auf den Traktor gestiegen und hätte sich erhängt, vermutlich aus Liebeskummer.
*
Ein schriller Aufschrei ließ ihn hochfahren. Anna? Gerald riss die Augen auf und spürte seinen Puls wie wild im Hals klopfen. „Was ist, verdammte Scheiße?“ Er blickte sich verwirrt um. Draußen stand Alessandro und sah ihn fragend an. Gerald hatte vor sich hin geträumt. Mit der flachen Hand rieb er sich den Schlaf aus dem Gesicht. Er ließ sein Fenster herunter und nahm die Frachtpapiere entgegen. Allessandro warf noch einen letzten kontrollierenden Blick auf den Lastzug und hob den Daumen. Das Zeichen zum Abfahren.
Der mit Rohren beladene Lastzug kurvte durch die engen Straßen Modenas Richtung Autobahn. Er wendete die Kassette im Autoradio und summte zu Vicky Leandros.
Es war ein Zufall, dass wir uns trafen.
Nun sieht mein Leben ganz anders aus.
Bei Campogalliano, kurz vor der Autobahn, lenkte er seinen Lastzug auf einen menschenleeren Parkplatz. Gerald zog den Vorhang hinter sich auf, zerrte Annas von Blutergüssen und Kratzern zerschundenen, nackten Körper aus der Schlafkoje und ließ ihn aus dem Führerhaus fallen. Mit ihren gefesselten Händen kam sie auf der Seite zum Liegen. Gegen 60 Euro Vorkasse war sie in seinen Laster gestiegen. Gerald fischte sein Geld aus ihrer Handtasche und warf sie zusammen mit der Kleidung neben die Leiche. Mit seiner Sofortbildkamera fotografierte er Annas Gesicht.
Ich hab die Liebe geseh'n
Beim ersten Blick in deine Augen.
Während sich auf der grauen Fläche des Kartons die Konturen allmählich abzeichneten, kramte Gerald einen Stapel Fotos aus dem Handschuhfach und sah sie durch: Ines, Melina, all die Anderen, deren Namen er nicht kannte. Und jetzt sein zweites Mädchen, das Anna hieß.