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Blick in deine Augen

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11.04.2005
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Blick in deine Augen

Der Lastzug bog auf den Hof der Rohrfabrik westlich von Modena ein. 15 Tonnen Kunststoffrohre aufnehmen, das dauerte an die zwei Stunden. Für Gerald zwei Stunden Pause. Er stoppte seinen Laster, Zwischengas, Rückwärtsgang einlegen, rangieren. Geschafft. Er drehte den Zündschlüssel um. Nach dem stundenlangen Brummen des Motors umfing ihn die Stille wie in Watte gehüllt. Gerald stieg aus und bereitete die Ladefläche seines Aufliegers vor. Bei der letzten Fuhre im vergangenen Juli hatte ihm die heiße Luft in Modena zu schaffen gemacht. Jetzt, ein halbes Jahr danach, trug er dasselbe T-Shirt und fror. Während Mitarbeiter der Firma den Sattelschlepper beluden, kletterte Gerald in sein geheiztes Führerhaus zurück. Sein Wohnzimmer. Er steckte sich eine Zigarette an und gab seine Adresse im Navigator ein. 928 Kilometer von Italien bis zu seinem eigenen Bett. Nach wenigen Zügen drückte er die Zigarette aus, das Nikotin konnte ihn kaum wach halten. Er schob eine Kassette ins Autoradio, lehnte sich zurück und dachte an Anna, die hinter ihm nackt in der Schlafkoje lag. Ein blondes, junges Mädchen. Vicky Leandros drang aus den Lautsprechern. Gerald lehnte sich zurück und summte mit.
Ich hab die Liebe geseh'n
Beim ersten Blick in deine Augen.

*

„Da vorne, in dem Schuppen liegt eine verletzte Katze. Ich hab sie heut Früh auf dem Weg zur Schule gefunden und dort hingebracht. Damit sie nicht überfahren wird.“ Anna zweifelte an den Worten ihres Schulkameraden. Er ging in die neunte, sie in die sechste Klasse.
„Glaub ich dir nicht.“
„Doch, ehrlich. Die hat sich ein Bein gebrochen. Wir müssen sie zu einem Tierarzt bringen.“
Im Pausenhof hatte er sie einmal angesprochen, doch Anna wandte ihm den Rücken zu. Wie die meisten Mädchen seiner Schule, die den Anblick seiner von Akne geplagten Haut nicht ertragen wollten. Er hatte bemerkt, dass Anna Katzen über alles liebte und wusste, dass sie ihm letztlich folgen würde. Jetzt wollte er etwas mit ihr machen. Irgendwas. „Komm, jetzt lass uns halt nach der Katze schauen. Vielleicht ist sie ja auch schon tot.“
Anna erschrak und folgte ihm. Sie gingen über die Streuobstwiese zur Gerätescheune. Er spürte die zunehmende Schwellung in seiner Hose, je näher sie dem Schuppen kamen. Er öffnete die knarrende Holztür. Es roch nach einer Mischung aus Heu und Motorenöl. Der Traktor hatte platte Reifen, über dem Anhänger daneben hingen verstaubte Spinnweben.
„Da hinten ist sie.“
Anna ging vorsichtig hinein. „Wo?“

Er schlug hinter sich die Tür zu und riss Anna auf den lehmigen Boden. Er war völlig außer Atem vor Erregung. Das Mädchen versuchte zu schreien, doch er drückte ihr seine Hand auf das Gesicht und verschloss Mund und Nase. Er sah Annas entsetzten Blick, fühlte, wie ihr Körper bebte, sich stoßweise gegen ihn erhob im Kampf nach Luft. Sie ruderte mit ihren dünnen Armen, schlug auf ihn ein, er spürte es nicht. Diese Augen! Diese herrlichen Haare! Er presste sich auf Anna, rieb sich an ihr und fühlte, wie sich sein Samen ergoss, während ihr wehrloser Körper unter ihm erschlaffte und die Lider ihre Augen halb verschlossen.
Keuchend stand er auf, setzte sich auf einen Radkasten des Traktors und betrachtete Anna. So sah also ein toter Mensch aus. Er wunderte sich darüber, wie schnell es ging. Und dass es ihm egal war. Anna interessierte ihn nicht. Immerhin durfte sie teilhaben an einem Augenblick, der für ihn unvergesslich sein würde. Sollte sie doch froh darüber sein. Zwischen den Brettern drangen Sonnenstrahlen in den Schuppen, sie bildeten schmale Wände aus Licht und schwebendem Staub. Er nahm ein Seil vom Haken, warf es über einen Dachbalken und band es um den Hals des toten Mädchens. Er zog Anna mit aller Kraft nach oben, bis die Füße knapp über dem Boden baumelten. Dann verschnürte er das Seil am Traktor. Bevor er den Schuppen verließ, warf er noch einen Blick zurück. Annas Kopf war stark zur Seite geneigt, die Arme, die eben noch wirkungslos auf ihn eingeschlagen hatten, hingen an der Seite herab. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie ein sommerlich gelbes Kleid trug. Der Strick drehte sich, noch im Tod wandte sie ihm den Rücken zu. Er schloss die Tür und lief nach Hause.

Anna wurde am nächsten Tag gefunden. Und wiederum einen Tag später war sie eine Randnotiz in der Zeitung. Sie wäre auf den Traktor gestiegen und hätte sich erhängt, vermutlich aus Liebeskummer.

*

Ein schriller Aufschrei ließ ihn hochfahren. Anna? Gerald riss die Augen auf und spürte seinen Puls wie wild im Hals klopfen. „Was ist, verdammte Scheiße?“ Er blickte sich verwirrt um. Draußen stand Alessandro und sah ihn fragend an. Gerald hatte vor sich hin geträumt. Mit der flachen Hand rieb er sich den Schlaf aus dem Gesicht. Er ließ sein Fenster herunter und nahm die Frachtpapiere entgegen. Allessandro warf noch einen letzten kontrollierenden Blick auf den Lastzug und hob den Daumen. Das Zeichen zum Abfahren.
Der mit Rohren beladene Lastzug kurvte durch die engen Straßen Modenas Richtung Autobahn. Er wendete die Kassette im Autoradio und summte zu Vicky Leandros.
Es war ein Zufall, dass wir uns trafen.
Nun sieht mein Leben ganz anders aus.

Bei Campogalliano, kurz vor der Autobahn, lenkte er seinen Lastzug auf einen menschenleeren Parkplatz. Gerald zog den Vorhang hinter sich auf, zerrte Annas von Blutergüssen und Kratzern zerschundenen, nackten Körper aus der Schlafkoje und ließ ihn aus dem Führerhaus fallen. Mit ihren gefesselten Händen kam sie auf der Seite zum Liegen. Gegen 60 Euro Vorkasse war sie in seinen Laster gestiegen. Gerald fischte sein Geld aus ihrer Handtasche und warf sie zusammen mit der Kleidung neben die Leiche. Mit seiner Sofortbildkamera fotografierte er Annas Gesicht.
Ich hab die Liebe geseh'n
Beim ersten Blick in deine Augen.

Während sich auf der grauen Fläche des Kartons die Konturen allmählich abzeichneten, kramte Gerald einen Stapel Fotos aus dem Handschuhfach und sah sie durch: Ines, Melina, all die Anderen, deren Namen er nicht kannte. Und jetzt sein zweites Mädchen, das Anna hieß.

 

Mahlzeit!
Der Kürze der Story angepasst auch die Länge meiner Kritik. Ich hoffe, das ist okay. Positiv hervorzuheben ist die sichere, flüssige Schreibe. Man merkt, dass da kein Anfänger hinter dem Text steckt, sondern ein halbwegs versierter Autor.
Trotzdem kann mich die Story nicht fesseln. Sie ist beliebig, spannungsarm und arg vorhersehbar. Als ich diese Zeile las:

In der Schlafkoje hinter ihm lag Nadja

dachte ich, dass Nadja bereits tot war. Die einzige "Überraschung" der Story besteht darin, dass sie erst am Schluss tot ist. Und das sollte dir als Autor doch ein wenig zu denken geben, oder?
Selbst der eingeschobene Teil mit seinem ersten Mord ist ein Muster an Vorhersehbarkeit: Ja, klar, er lockt sie dorthin, um sie umzubringen. Das Beiwerk der Vergewaltigung spielt keine Rolle: Ob er sich an ihr vergeht, ihr die Augen herausschneidet und sie als Murmeln verwendet oder was auch immer, ist belanglos.

Kurzum: Auf einer schnurgerade Linie grast du alle Klischees ab und ziehst von Punkt A nach B und schließlich C, Ende der Story.

Vielleicht können meine etwas harten Worte dich provozieren und dazu bringen, bei der nächsten Geschichte ein paar echte Überraschungen einzubauen oder einen nicht in jeder zehnten Story verbratenen Plot neu aufzubügeln. Das ist dir bei dieser anderen Geschichte - da ging es auch um Augen ;) - hervorragend gelungen.

Ehrlich: Das ist keine abgrundtief schlechte Story - sie ist kompetent und flüssig geschrieben. Aber das reicht einfach nicht, um mich als Leser für sie zu gewinnen. Ich will überrascht oder gar ausgetrickst werden, nicht alle Erwartungshaltungen bestätigt zu sehen, wie bei einer Heftchenroman-Verfilmung, in der das arme Bauernmädel am Schluss wider Erwarten doch den Prinzensohn heiraten darf, bla.
Oder anders gesagt: Das kannst du besser.

 

Hallo nictita!

Kann mich Rainer nur anschließen. Die Geschichte ist vorhersehbar, geradezu langweilig und einfach gehalten. Sorry für den Verriss. ;)

Der einsame Fernfahrer, der die jungen Nutten umbringt - aus Spaß an der Freude oder so. Oft gelesen (in Geschichten oder der Zeitung), keine neuen Aspekte drin.

Der Einschub zur Vergangenheit des Fahrers finde ich sogar noch schlechter als der Rest. Einmal wegen der 08/15 - Erklärung: schon als Kind war er ... Und zum anderen den Hergang seines ersten Mordes. Die Geschichte mit der Katze und der Achtklässlerin (die eher ein Verhalten einer Viertklässlerin an den Tag legt) ist ziemlich abgegrabbelt.

Nichts für ungut. Ist immer schwierig, was wirklich neues oder überraschendes zu bringen.

Beste Grüße

Nothlia

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo, Ihr beiden

mit den Verrissen habe ich kein Problem. Eure offenen Worte sind ehrlich willkommen.

Eine überraschende Wendung war eigentlich nicht vorgesehen. Es ist eine Geschichte, die sich so oder sehr ähnlich tatsächlich abgespielt hat, auch der erste Mord in jungen Jahren. Hat mich sehr bewegt. Im Grunde habe ich nur die Namen, die Orte und ein paar Details verändert. Die abgrundtiefsten Klischees liefert die Realität selbst. Ich wollte das noch hier drunter setzen, musste aber überstürzt auf einen Termin.

Aber: Bei allem Hang zur Realität habt Ihr beide völlig Recht. Es sollte schon dem Wesen einer Kurzgeschichte entsprechen. Deshalb habe ich das mit Nadja am Anfang stark verändert, damit es etwas für den Schluss hergibt.

Abgesehen davon wäre vielleicht eine andere Rubrik besser geeignet, wobei mir nur "Sonstige" dazu einfällt.

Viele Grüße, nic

 

Hi nicita!

Erstmal: Mir hat die Geschichte gefallen und ich fand sie überhaupt nicht langweilig!

(Wurde der Mörder in der Realität denn gefasst? Ja, oder? Sonst würde man ja nicht wissen, dass es sich so abgespielt hat. Ich hätte es noch interessant (vielleicht am Schluss) gefunden, wenn du erzählt hättest, wie die Polizei ihn gefasst hat, wenn überhaupt)

jedenfalls fand ich den Unterhaltungswert nicht unter fünf auf einer Skala von 1 bis 10, aber auch nicht unter sieben, also, such dir aus, wos nun liegt;)
Ziemlich hoch jedenfalls.
Vielleicht liegts ja auch daran, dass ich noch nicht so viele Geschichten hier gelesen habe, dass ich sie nicht so vorhersehbar fand, aber mir hat sie echt gefallen.

MFG
T2

 

Hallo Torsten,

ich habe die Geschichte auch stark verändert und den Hauptkritikpunkt der Vorhersehbarkeit berücksichtigt. Ist jetzt anders.

Der Täter ist gefasst (wobei er noch nicht verurteilt ist, und deshalb korrekterweise als "Tatverdächtiger" oder "Beschuldigter" zu bezeichnen wäre).

Die Überwachungskamera einer privaten Firma in Spanien hatte festgehalten, wie er eine Leiche (sein letztes Opfer) auf einem Parkplatz abgelegt hatte. Über die Bilder der Kamera konnte der Lastzug identifiziert werden. In seiner Vernehmung hat er gestanden, im Alter von 15 Jahren ein damals 14-jähriges Mädchen getötet zu haben. Er hat es dann aufgehängt, um es wie einen Selbstmord aussehen zu lassen. Das hat auch funktioniert.

Heute ist er 48. Fünf Morde an Prostituierten hat er gestanden, weitere ungeklärte Fälle werden geprüft. Nach seinem eigenem Geständnis lag in einem Fall eine ermordete Frau in seiner Schlafkoje, während er eine Fuhre ausgeladen hatte. Er hat von seinen Opfern Fotos gemacht und auch mal Haare abgeschnitten. In englischen Zeitungen wird er der "EU-Ripper" genannt, weil die ihm zur Last gelegten Morde in Frankreich und Spanien begangen wurden. Möglicherweise kommen noch Opfer aus anderen Ländern dazu.

Beste Grüße, nic

 

Hallo nictita,

ich mußte sofort an die Meldung über diesen Mörder denken, die ich vor kurzem im Radio gehört hatte, als ich Deine Geschichte las. Vielleicht wär eine andere Rubrik wirklich besser - z.B. "Alltag", denn es ist ja auch wirklich passiert (der Alltag ist manchmal nicht so banal, wie er auf den ersten Blick erscheint). Diese Story erfüllt nämlich keine klassischen "Horrormerkmale", auch, wenn das, was da passierte, wirklich horrormäßig ist. Aber für "Horror" hast Du das Ganze zu sachlich geschildert, meiner Meinung nach. Da bist Du einfach zu wenig in die Psyche gegangen (warum tut er das, d.h. was sind die Beweggründe? - hier hättest Du durchaus Deine Phantasie spielen lassen können ;)).

Ansich keine schlechte Geschichte, ich habe sie für meinen Teil gern gelesen. Hab mich nur etwas über die Rubrik gewundert. ;) Und ich hätte die Story besser gefunden, wenn sie mehr in die Psyche gegangen wäre. ;)

Gruß
stephy

 

Hallo Stephy und vielen Dank für Deine Kritik.

Ja, die Rubrik Alltag wäre wahrscheinlich sinnvoller als diese hier. Vielleicht ist MisterSeaman oder Cerberus81, oder wer dazu befugt und ebenfalls davon überzeugt ist, so freundlich und verschiebt die Geschichte dorthin.

Ich wollte absichtlich nicht zu tief in die Psyche vordringen. Ich habe inzwischen schon einige Serienmörder vor Gericht erlebt. Auffallend war ein Wesensmerkmal, das alle mehr oder weniger gemeinsam haben: die völlige Unfähigkeit zum Mitgefühl, auch nach der Tat. Dies habe ich mit der Reaktion nach seinem ersten Mord geschildert.

Ansonsten habe ich die Geschichte noch einmal massiv umgebaut.

Besten Gruß, nic

 

Hallo nictita,

All zu viel konnte ich mit deiner Geschichte leider nicht anfangen. Und das liegt wohl hauptsächlich daran, dass du, wie du bereits sagtest, einen tatsächlichen Fall lediglich als Geschichte verarbeitet hast.
Zwar liest sich der Text sehr flüssig, doch hast du den Zeitungsartikel oder den Nachrichtenbeitrag oder woher auch immer du die Informationen hattest lediglich in die Form einer Geschichte gebracht, ohne ihn tatsächlich in eine zu verwandeln. Alle Ausschmückungen und Beschreibungen beziehen sich auf bloße Äußerlichkeiten, wie zum Beispiel den Schuppen, ein genauerer Einblick in Geralds Psyche und Beweggründe hingegen bleibt dem Leser verwehrt.
Und da du auch bei der eigentlichen Handlung mit künstlerischer Freiheit gegeizt hast, gibt es keine richtige Pointe.

Nach dem stundenlangen Brummen des Motors umfing ihn die Stille wie in Watte gehüllt.

Die Formulierung ist ein wenig schief. Es ist klar was du sagen willst, aber so wie es dasteht, heißt es eigentlich, dass die Stille ihn umfing, wie als wenn er bereits in Watte gehüllt wäre. (Also zu dem Zeitpunkt, als sie ihn umfängt.)
Möglich wäre: [...] fühlte er sich von der Stille umhüllt wie von Watte.


Gruß,
Abdul

 

Gude Sache das

Heyho nictita,

Mir hat deine Geschichte zwar gefallen, der Schreibstil ist für meinen Geschmack allerdings ein wenig zu schlicht, dafür, dass die Geschichte selbst inhaltlich so wenig zu bieten hat.

Damit meine ich, dass du den Eindruck, den die Geschichte erweckt durch ausführlichere Beschreibungen, Einschübe und ergänzende Details wesentlich hättest verstärken können. Das geistige Innenleben der Truckers hättest du aufzeigen und gegen ihn verwenden können.
In gewisser Weise überkommt einen anfangs Mitleid mit dem armen, verpickelten Jungen und diesen Zwiespalt hätte ich gerne schärfer Umrissen gesehen.

Insgesamt spricht mich die Atmosphäre der Story jedoch an und erinnert mich ein wenig an "Eisregen", einer Black-Metal-Band, die diese Art subtiler Gesellschaftskritik so ziemlich auf die Spitze treibt. Für diese Assoziation kriegst du noch nen Sympathiepunkt extra!;)

Gruß
Deschain

 

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