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Blick in den Spiegel
Der Raum war fast völlig dunkel. Die schweren Vorhänge an den Fenstern schirmten das helle Tageslicht ab, die wenigen Lichstrahlen, die durch spärlich verteilte Ritzen im Vorhang fielen, warfen surreale Schatten in den Raum.
Sie selbst stand direkt vor dem manneshohen Spiegel und betrachtete sich selbst. Viele Leute hatten sie oft für ihre beinahe schon aristokratischen Gesichtszüge, das lange, blonde Haar und die schlanke Figur bewundert. Ihre ehemals offenes Wesen hatte dazu beigetragen, dass sie überall gern gesehen war.
Doch schon lange waren diese Zeiten Vergangenheit. Ihr war bewusst, dass sie heute fast nirgendwo mehr gern gesehen war. Viele würden ihre mit offener Verachtung begegnen, andere würden mit vorgehaltener Hand lästern und sie abschätzend von oben bis unten mustern, fast so als wäre sie ein Wesen von einem anderen Planeten, das man genau analysieren und in jede Einzelheit zerlegen musste, damit man nicht Gefahr lief in eine verhängnisvolle Falle zu tappen.
Eigentlich kümmerte sie es nicht, was die Leute redeten. Viel mehr kümmerten sie ihre eigenen Gedanken. Manchmal fragte sie sich, was aus dem offenen und strahlenden Funkeln in ihren Augen geworden war, das sie so oft bei sich beobachtet hatte. Früher jedenfalls. Wenn sie heute in ihre Augen sah war sie gleichzeitig fasziniert und abgeschreckt. Kälte, kam es ihr in den Sinn, das war der beste Begriff für den Ausdruck in ihren Augen.
Sie war sich im klaren darüber, dass in den letzten Jahren einige Veränderungen in ihrer Seele Einzug gehalten hatten. Wenn sie ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass sich eigentlich ihr ganzes Wesen geändert hatte. War sie früher beliebt und offen gewesen, spürte sie heute beinahe schon physisch die Mauer um sich herum, die jedem klar machte, dass man ihr nicht zu nahe kommen sollte. Und eigentlich wollte sie es auch so. Ruhe und alleine sein. Viele verwechselten es mit Einsamkeit oder Arroganz, aber sie war zufrieden, wenn sie Distanz zwischen sich und anderen Menschen waren konnte. Distanz bewahrte einen vor Enttäuschungen...und vor Mitgefühl.
Sie konnte sich nicht vor der Tatsache verschließen, dass sie einer Menge Menschen weh getan hatte. Sie hatte gewütet, geschrien und verschaffte sich Genugtuung für ihre Wunden, die noch nicht einmal angefangen hatten zu vernarben, selbst nach Jahren. Auch viele Menschen, die nicht einmal etwas von ihren Verletzungen wussten, waren von ihr verletzt worden. Manchmal lagen ihre Motive selbst für sie selbst im unklaren, doch eigentlich wusste sie, dass die meisten Taten aus Angst geschahen. Angst ihre Vergangeneit noch einmal durchleben zu müssen oder in eine ähnliche Situation zu kommen. Angst noch einmal zu leiden.
Wenn sie vor zehn Jahren ihr heutiges Ich gesehen hätte, hätte sie sich nicht erkannt. Eigentlich wollte sie nie so werden. Nie gehasst werden und noch dazu zu Recht. Nie wollte sie so emotionslos werden, dass sie nicht einmal mehr der Tod eines nahe stehenden Menschen berührte. Doch mache Veränderungen hatten sich nicht aufschieben lassen und teilweise war sie auch froh darüber. Sie war stärker geworden, härter, ganz nach dem Spruch: Was dich nicht umbringt, macht dich hart. Doch sie hatte viel dabei verloren, auch wenn sie den Verlust nicht bedauern konnte, weil sie nichts und niemandem mehr nachtrauern konnte. Mitgefühl, Nächstenliebe, Offenheit und Skrupel. Irgendwo waren sie in ihrem Leben verloren gegangen, einfach an einer Kreuzung des Lebens zurück geblieben und hatten sie alleine weiterziehen lassen.
Ihr war klar, dass sie sich vor Gewissensbissen schon längst hätte selbst zerfleischen müssen, doch sie spürte nicht einmal den Anflug von Reue. Wenn sie an die vielen leidenden Gesichter zurückdachte, an die vielen Leben, die sie zerstört hatte, empfand sie immer noch eine leise Genugtuung, sie sie seinerzeit in eine wilde Euphorie versetzt hatten.
Nun war sie vielleicht zu weit gegangen. Der heutige Tag würde vielleicht ihr komplettes Leben verändern. Diesmal hatte sie eine Grenze überschritten, die besser nicht überschritten hätte werden sollen. Doch für sie gab es kein Zurück mehr.
Langsam und bedächtig wischte sie sich die Tränen ab, die auf ihre Wangen geströmt und ihre Augen rot gefärbt hatten. Mit einem Ruck riss sie die Vorhänge zur Seite und blinzelte mehrmals, bis sie sich an das helle Tageslicht gewöhnt hatte. Zeit weiterzukämpfen, murmelte ihre innere Stimme, die schon immer ein guter Begleiter gewesen war. Entschlossen öffnete sie die Tür und verließ das Haus. Von ihrem kurzen Moment der Schwäche und der Selbsterkenntnis, war nichts mehr zu erkenne. Sie war wieder stark. Ihr Blick war wieder kühl, selbstbewusst und beherrscht. Sie lief entschlossen die Straße herunter. Selbstsicher, unnahbar und arrogant. Und wie immer allein.