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Blick vom Rathausturm
Jedes Jahr zu Ostern muss ich an ihn denken. Irgendwie habe ich dann immer das Gefühl, dass er in Berlin ist und nach mir sucht. Einmal erwähnte ich seinen Namen in einem Gespräch. Der, der am Tresen neben mir saß, wurde hellhörig. “Den kenne ich. Er ist ein Freund von meinem Kumpel. Vor drei Jahren war er für ein Wochenende mit Frau und Tochter bei mir.” Der Besuch scheint keine große Begeisterung bei ihm ausgelöst zu haben. Der Grund dafür ist, dass mein bester Kumpel Harry und dessen Frau sich in seiner Gegenwart ständig gestritten haben. Sie ist dann auch alleine nach Hause gefahren. Über diese Ehe hatte sich schon einiges bis nach Berlin rumgesprochen. Es war sogar von Prügel die Rede.
Ich staunte. Da war mein ehemals bester Kumpel also in Berlin gewesen und hatte mich gar nicht besucht. Da fällt mir ein, dass ich umgezogen bin, und er meine neue Adresse nicht hat. Die hätte er sich aber bei Freunden von uns besorgen können. Wahrscheinlicher ist, dass er gar nicht versucht hat, mich wiederzusehen. Er hatte wohl mit diesem Kapitel in seinem Leben, in das ich reingehörte, abgeschlossen.
Harry ist ein Mensch, der wichtige Entscheidungen immer ganz spontan trifft. So ist er, der aus einer Kleinstadt in Mecklenburg kommt, auch nach Berlin gelangt. Seine Freundin hatte mit ihm Schluss gemacht. Im Heizungskeller von seinem Betrieb hatte er sich die Pulsadern aufgeschnitten. Zum Glück fand man ihn, und er setzte sich spontan in den Zug nach Berlin, wo er ein paar Leute kannte.
Einmal erwähnte ich vor ihm, dass ich jemanden kennengelernt hatte, der den Spitznamen Gang trug, und ein alter Bekannter von einem Freund von mir war. “Stell dir vor, er hat uns beide gar nicht in die Wohnung gelassen und uns vor der Tür abgefertigt.” Harry erwiderte: “Den kenne ich. Er hat eine Ladenwohnung in Lichtenberg, jedenfalls als ich ihn kennengelernt habe, war das so. Dort habe ich als erstes gewohnt, als ich nach Berlin gekommen bin. Bei ihm ist damals alles aus und ein gegangen, was Rang und Namen hatte in der Szene. Ich darauf: “Na ja, jedenfalls lässt er jetzt keinen mehr über seine Schwelle. Angeblich wegen seiner schwangeren Frau.”
Damals hätte ich mir nicht träumen lassen, dass mein bester Kumpel Harry sich auch mal dahingehend entwickelt. Ist ja fast wie ein Dejavue.
Ich weiß gar nicht, wie lange wir befreundet waren. Waren es zwei oder drei Jahre. Auf alle Fälle waren wir Anfang Zwanzig, als wir uns kennenlernten. Es war auf einem Open Air in der Lausitz. Ich war alleine dahin getrampt, und als es dunkel wurde, hatte ich vor einer Bushaltestelle in der Nähe der Braunkohlegruben übernachtet. Ich hörte die ganze Nacht das Geräusch der Schaufelbagger. “Willst du bei uns im Arbeiterwohnheim übernachten?” hatte mich die Schichtablösung gefragt. “Ne, danke. Ich liege hier ganz bequem”, hatte ich den Arbeitern geantwortet.
Als es endlich Morgen wurde, fand ich das Gelände, wo das Open Air stattfand. Alle schliefen noch. Nur ein Typ mit langen, zerzausten Haaren und einem selbstgestrickten Pullover lief durch die Gegend. “Sie haben mir meinen Schlafsack geklaut. Wo ist mein Schlafsack?”, wiederholte er in einer Tour. Das war Harry, bürgerlich Heinz Georg, und so lernten wir uns kennen. Es stellte sich raus, dass wir beide in Berlin wohnten aber ursprünglich aus Mecklenburg/Vorpommern kamen.
Bei mir war es Freundschaft. Er wollte wohl zu Anfang was von mir, nahm es mir aber zum Glück nicht übel, dass mir das nicht so ging, und wir wurden richtig Kumpels, was zwischen Mann und Frau selten ist. Aber nach einer Weile verliebte er sich auch in jemand anders, seine Gefühle wurden diesmal erwidert, was unser Freundschaft aber keinen Abbruch tat. Seine Freundin ging fremd, worunter er heftig litt, und die Beziehung ging auseinander. Er gab seine Arbeit auf und betrank sich rund um die Uhr, seine Antwort auf Probleme zu reagieren.
“Eigentlich kenne ich ihn gar nicht richtig”, musste ich mir später eingestehen. Wahrscheinlich hat ihm schon immer an nichts mehr gelegen, als daran eine Familie zu gründen, weshalb er ja auch so überreagiert hatte, als die Freundin aus seiner Heimatstadt ihn verließ. Er hatte mal erwähnt, dass seine Eltern geschieden waren, redete aber nie über seinen Vater. Es hatte wohl ein heftiges Familiendrama gegeben, vielleicht mit Prügel und Alkoholismus, wovon er als Kind einiges mitbekommen hatte. Heute mache ich mir Vorwürfe, dass ich mich nicht näher dafür interessiert habe. Vielleicht wären wir dann noch befreundet. Er sehnte sich wohl, wie die meisten von uns, nach heiler Welt.
Es wundert mich nicht, dass er später zum Gleisbau gegangen ist. Wir waren damals ja in den Zügen und auf dem Bahnhof zu Hause. Jedes Wochenende waren wir unterwegs und strandeten meist nachts in der Bahnhofsmitropa, wo wir Ärger mit der Transportpolizei bekamen.
“Eigentlich mag ich den Namen Harry ja nicht. Mir hat mal einer erzählt, dass ein Harry bei einer Fete in den Schornstein geschissen hat”, erzählte er mir.
Er konnte sehr schlecht sehen. Einmal stand er mir auf der Greifswalder Straße an einer Ampel gegenüber und beachtete mich nicht. Als die Ampel auf Grün geschaltet hatte, ging ich auf ihn zu. “Was ist mit dir los?”, fragte ich ihn. Es stellte sich heraus, dass er mich gar nicht gesehen hatte.
Einmal war ich krank, Halsentzündung, aber nicht versichert. Er hatte noch Kapseln mit Penicillin bei sich zu liegen. Sie schlugen auch gleich an. Er brachte mir auch “Einer flog über das Kuckucksnest” vorbei. Dieses Buch, das im Osten schwer zu haben war, hatte seine damalige Freundin irgendwo aufgetrieben. Das Buch in Verbindung mit dem Penicillin brachte mich wieder auf die Beine.
Diese Freundin, die ihn liebte, behandelte er sehr schlecht, worüber ich mich wunderte, da ich ihn ganz anders kannte. Er schien auch eine andere Seite zu haben. Sie tat mir leid. Liebe macht hörig. Das kannte ich auch. Ständig ließ er sie irgendwo stehen, fand sich aber auch plötzlich und unverhofft betrunken nachts oder frühmorgens bei ihr vor der Tür ein.
“Ich habe eine rothaarige Frau kennengelernt. Sie stammt aus meiner Heimatstadt.” sagte er. Das war übrigens beim Teterower Bergringrennen. Mir war zu dem Zeitpunkt gar nicht bewusst, das gerade der Countdown für unsere Freundschaft lief. Sie kam mit nach Berlin, und die beiden wurden ein Paar, was mich für ihn freute. Eine Weile wohnte sie auch bei mir. Bald kündigte sich Nachwuchs an.
Ich hatte angenommen, dass wir beide immer Freunde bleiben würden, doch er wurde immer merkwürdiger. Eines Tages fragte mich jemand: “Hast du schon gehört, das Harry jetzt in Anhalt wohnt. Da hatte er, der sich nie um eine Wohnung in Berlin gekümmert hatte, sondern immer nur bei Freunden wohnte, seine schwangere Freundin an die Hand genommen und war mit ihr vor der Tür eines Kumpels in einer Kleinstadt in Sachsen/Anhalt erschienen, der von seinem Glück nichts wusste und wenig begeistert war.
Genauso spontan, ohne festen Plan, war er ja auch nach Berlin gezogen. So lebten die beiden, die sich eigentlich kaum kannten, eine Weile bei ihm auf dem Dachboden und stritten sich ständig. Sogar von Prügel war die Rede, was ich mir bei Harry gar nicht vorstellen konnte. Es tat mir leid, dass seine Beziehung so schwierig war. Nach einer Weile suchte er sich eine Wohnung, bekam Arbeit bei Gleisbau, und seine Tochter wurde geboren.
Die erhoffte Kleinstadtglückseligkeit mit Familienanschluss wurde es wohl nicht. Sein Kumpel aus dem Ort, mit dem er eine Freundschaft aufbauen wollte, arbeitete außerhalb und war wenig zu Hause. Seine Frau und die Frau von Harry mochten sich nicht. “Du hast doch bestimmt neue Kumpels gefunden”, sagte ich. “Ich habe gar keine Kumpels, erwiderte er. “Du musst mal sehen, mit wem ich dort in der Kneipe sitze, die größten Säufer.”
“Er gilt da bestimmt als stadtbekannter Trinker”, meinte ein anderer Kumpel von mir.
“Früher, als ich noch in Berlin gewohnt habe, bin ich gerne mit dem Zug zu Open Airs nach außerhalb gefahren. Ich bin auch immer gerne wieder hierher zurück gekommen”, erzählte er mir. “Warum bist du dann nicht in Berlin geblieben?”, fragte ich ihn. Darauf erwiderte er nichts. Ich glaube Harry liebte Berlin, hielt es aber für ein Sündenpfuhl, da ist er nicht der einzige und wollte sein Heil in der Provinz suchen.
Ich habe mir mal youtube Videos von dieser Stadt aufgerufen, in der Harry ein paar Jahre gelebt hat und in die er mich nie eingeladen hat. Ein Video hatte die Überschrift “Blick vom Rathausturm”. Durch diese Gassen ist Harry also jahrelang gelaufen. Ob er sich wohl den handgeschnitzten Altar von Vierzehnhundert angekuckt hat, von dem der Sprecher schwärmt. Ich glaube eher nicht. Ist Harry eigentlich mal auf den Rathausturm geklettert? Von dort oben sieht man ja auf eine Menge Wasser. Da hätte sich Kanufahren und Angeln angeboten.
Ich sah ihn nach seinem plötzlichen Aufbruch aus Berlin nur noch genau zwei Mal.
Das erste Mal erzählte er: “Als unser Fernseher in Arsch gegangen ist, habe ich sofort über Leasing einen neuen gekauft. Ansonsten wäre meine Ehe in Gefahr gewesen. Wir kommen eigentlich nur im Bett gut klar. Wenn wir aus dem Bett raus sind, fangen wir an zu streiten.” “Das ist doch schon mal was”, sage ich. “Hast du ein Bild von deiner Tochter?”, fragte ich ihn. “Ich hab leider keins bei”, erwiderte er. “Ich bin nicht glücklich aber auch nicht unglücklich. Und ja, ich bin ein Spießer geworden.”
Er ist der Intellektuelle, der den Arbeiter spielt, besoffen aus der Kneipe nach Hause kommt und seine Frau verprügelt.
Bei einem Konzert im Kesselhaus im Prenzlauer Berg treffe ich den Kumpel von Harry wieder. Er ist Fan der Band und extra deswegen aus seiner Kleinstadt in Sachsen/Anhalt nach Berlin gekommen. “Was macht Harry?” frage ich ihn. “Der lebt schon lange nicht mehr bei uns. Er wohnt jetzt in Bayern und ist immer noch beim Gleisbau. Einmal im Jahr kommt er noch zu Besuch.”
Er klingt traurig. “Vielleicht hätte ich ihm damals mehr helfen müssen”, sagt sein Kumpel. Ich glaube, die meisten nehmen Gefühle wie Freundschaft und Liebe, wenn die ihnen so einfach entgegengebracht werden, für zu selbstverständlich. Er erzählt mir: “Seine Tochter sieht aus wie seine Frau, aber sie ist wie Harry.” “Und was macht seine Ehe?”, frage ich. “Das Schlagen hat aufgehört, dafür hat seine Frau jetzt die Überhand gewonnen, und das ist noch beschissener. Du würdest ihn gar nicht mehr wiedererkennen, so dick ist er geworden.
Aber das schlimmste ist, dass er einfach nicht mehr derselbe ist. Daran hat bloß seine Frau schuld”, sagt er, der sich nicht eingestehen will, dass sein Kumpel sich von selber vollkommen geändert hat. “Spielt er denn noch Gitarre?” Ich hatte durch Zufall mitbekommen, dass Harry ein sehr guter Bluesgitarrist ist, das war übrigens beim Teterower Bergringrennen, wovon ich vorher nichts geahnt hatte. Sein Kumpel erwiderte: “Seine Gitarre hat er bestimmt schon jahrelang nicht mehr angefasst.”
Da hatte Harry wieder das gleiche gemacht und spontan freundschaftliche Beziehungen gekappt, um mal wieder an einem unbekannten Ort ein neues Leben angefangen. Wahrscheinlich lebt er auch dort heute schon lange nicht mehr, sondern hat jetzt in Peru eine Krokodilfarm aufgemacht. Jedenfalls war das das letzte Mal, das ich was von ihm gehört habe.
Das zweite Mal, wo ich ihn nach seinem Wegzug sah, klopfte es nachts. Er hatte sich wohl meine Adresse bei gemeinsamen Bekannten besorgt. Er legte sich einfach in mein Bett rein. “Harry, du bist verheiratet und hast ein Kind”, sagte ich. “Ich will ja gar nicht, mit dir schlafen.” Wir kuschelten uns aneinander, wie wir es früher oft getan hatten, wenn wir unterwegs waren. Es war wohl eine andere Form von Liebe. Ich brachte ihn danach noch zum Zug. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.
Ich musste aber wieder an ihn denken, als es auf einer Bahnstrecke mal einen großen Unfall gab. Fünf Gleisbauarbeiter wurden überrollt. In Prag, im U fleku, einer berühmten Schwarzbierkneipe, früher ein Treff für die Blueser aus dem Osten Deutschlands, hatte ich mal jemand kennengelernt, der mir erzählte, dass seine Arbeit ausschließlich darin bestand, seine Kollegen beim Gleisbau vor den herannahenden Zügen zu warnen. “Vielleicht haben sie seinen Job ja nach der Wende eingespart”, ging es mir durch den Kopf.
Einmal hatte ich einen Traum. Ich bin in einer fremden Stadt. Auf dem Marktplatz treffe ich Harry. Er nimmt mich mit nach Hause. Aber ich darf nur im Hausflur schlafen, weil seine Frau nicht will, dass ich in die Wohnung komme.