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Blick zurück
Das Herbstlaub leuchtete in allen Farben in der schräg stehenden Nachmittagssonne. Gelb herrschte vor, aber dazwischen gabe es orange, rostrot, kräftiges Violett und viel braun, zusammen eine herrliche Mischung erdfarbener Töne, die sich fast dramatisch vor einem taubenblauen Himmel absetzten. Sie gingen über eine kleine Brücke, die sich bogenförmig über einen kleinen, künstlich angelegten, aber sehr natürlich wirkenden Bach spannte. In der Mitte blieben sie immer stehen. Anton mochte die Felsenbirne am rechten Ufer, von dem sie gekommen waren, deren Blätter um diese Jahreszeit einen der schönsten Rottöne hervorbrachte, Gisela bevorzugte die langen gelben Blätter einer Eberesche am linken Ufer. "Wie im Leben, du guckst zurück und ich nach vorn", nahm sie ihn dann manchmal auf den Arm und inzwischen hatte er gelernt, darüber nicht zu grummeln, sondern zu schmunzeln.
Ein langes Leben lag hinter ihnen und ein kurzes noch vor ihnen. Drei Kinder hatten sie groß gezogen, bei jedem einzelnen unzählige Sorgen durchlebt, Höhepunkte durchschritten, Tiefen überstanden, aber immer mit einem großen Erstaunen gefühlt, wie diese drei Menschen im Prinzip seit der Geburt fertig waren, einen eigenen, von den beiden anderen sehr unterschiedlichen Charakter hatten, und die sie eigentlich mehr begleitet als erzogen hatten, bis sie groß genug waren, um auf die Begleitung zu verzichten. Maria, die jüngste, lebte in der Hauptstadt und versuchte, Theaterschauspielerin zu werden, aber die meiste Zeit verdiente sie ihr Geld als Sprecherin für Werbung und ab und zu ein Hörspiel. Jo, Johannes, hatte nach einem Politikstudium in der Landeszentrale einer Partei angefangen und sich vom Praktikant zum etablierten Kampagnenprofi hochgearbeitet. Und Tatjana, die Älteste, hatte sich als IT-Beraterin selbständig gemacht, nachdem sie an der Uni ihrer Heimatstadt viele Jahre zu künstlicher Intelligenz geforscht hatte. An Weihnachten kamen alle mit ihren Familien zu ihnen ins Elternhaus und drei Tage lang tobten Enkelkinder die Treppen hoch und runter und von morgens bis abends duftete es im ganzen Haus nach Kaffee, Braten, Tee, Plätzchen und Grog.
"Wir haben viel gemeinsam erlebt", meinte Anton, während sie nebeneinander ihre übliche Runde durch den Park drehten.
"Jetzt werd nicht sentimental", antwortete Gisela und richtete sich ein wenig auf. "Ich weiß, dass wir viel erreicht haben."
Sie gingen weiter in Richtung Parkmitte.
"Ich weiß", kam es von Anton. Rosenbüsche standen links und rechts des Weges, sie waren vor Jahren von der Stadtverwaltung gepflanzt worden und, da die Stadt arm war wie viele, hatte jeder Busch einen Spender, der auf einem kleinen Messingschildchen vor der Pflanze vermerkt war. Natürlich hatten sie sich beteiligt und die Patenschaft und die Kosten für drei Rosen übernommen, für jedes Kind eine. Und immer, wenn sie an den Büschen vorbeikamen, betrachteten sie sie eingehend und suchten im Wuchs nach Analogien zu ihren Kindern. Die mit den großen, weiten Blüten hatten sie Tatjana zugewiesen, die Kletterrose Jo und die mit den vielen kleinen rosa Blüten und dem intensiven Duft Maria. Wuchsen sie kräftig und blüten stark, dann war es ein gutes Jahr für die Kinder, machten starke Feuchtigkeit oder Läuse ihnen zu schaffen, glaubten sie, dass ihre Kinder es in dem Jahr schwerer gehabt hätten. Kamen die drei Pflanzen unterschiedlich gut mit der Witterung zurecht, nahmen sie es erst recht als ein Beweis für die Analogie.
Am Ende des Weges ging es rechts leicht bergauf noch etwa fünfzig Meter, oder, wie Anton innerlich mitzählte, zwei Minuten und zehn. Als er angefangen hatte zu zählen, waren sie die Strecke noch in eins vierzig gegangen, so waren diese fünfzig Meter sein persönliches Maß für sein Alter geworden. Ab und zu nahm er sich vor, der Natur noch ein Schnippchen zu schlagen und mehr Sport zu treiben, aber erstens fehlte ihm dazu die Disziplin, und zweitens waren sie zu zweit und es machte keinen Spaß, wenn er Gisela hinter sich her zerrte. Am Ende dieses Wegs stand eine Bank, ihre Bank. Dort setzten sie sich immer hin, selbst bei Regen, wenn sie mit Trockentuch und Schirm bewaffnet waren, aber heute war es trocken.
Und so setzten sie sich auf ihre angestammte Bank, schauten hinab in den Park, wo Vögel in den Zweigen sangen und Kinder auf der großen Wiese spielten. Sie saß rechts von ihm, er nahm mit seiner rechten ihre linke Hand, legte sie auf seinem Schoß in seine linke und umschloß sie. So saßen sie dort, bis aufkommende Kälte, Dunkelheit oder Hunger ihnen den Aufbruch empfahl.
Zufrieden lehnte sich Jochen zurück. Er drückte sicherheitshalber nochmal auf den Speichern-Button und überflog die letzten Zeilen, die er heute geschrieben hatte.
Dann ging er in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen. Dort angekommen stellte er fest, dass diese sich in einem üblen Zustand befand. Bereits abgewaschenes Geschirr auf dem Geschirrständer, dreckiges Geschirr daneben, überall flogen Zeitungsreste und Zeitschriften herum, kurz, die Küche war ein Saustall. Er beschloss, sauber zu machen und begann damit, das saubere Geschirr aufzuräumen.
Es hatte eine Kurzgeschichte werden sollen über das Leben an sich. Zuerst hatte er über den Tod schreiben wollen, natürlich. Im letzten Jahr waren seine Eltern gestorben, innerhalb von eineinhalb Wochen war er auch noch Waise geworden. Sein Vater hatte einen Mittagsschlaf gemacht, wie so oft, aber als seine Mutter eine Stunde später nach ihm schaute, weil er immer noch nicht aus seinem Arbeitszimmer gekommen war, war er bereits halb kalt gewesen. Ein schöner Tod für ihn, ein grausamer für seine Mutter. "Herausgerissen aus dem Leben und aus meinem Herzen", hatte sie immer und immer wieder gesagt. Und dann, noch bevor er beerdigt war, ging es ihr immer schlechter, bis sie zehn Tage nach ihm an Herzversagen starb. Und so war aus der Beerdigung von Papa eine Doppelbeerdigung geworden und Jochen aus seiner Depression in ein noch tieferes Loch gefallen.
Aber worüber man nicht lachen kann, darüber muss man weinen. Und worüber man nicht schweigen will, darüber muss man dann eben schreiben. Da er nicht schweigen wollte, hatte er sich also vorgenommen, über das Sterben zu schreiben.
Als er mit dem sauberen Geschirr fertig war, begann er das dreckige Geschirr zusammenzuräumen und Wasser im Spülbecken einzulassen. Während er wartete, schaute er aus dem Fenster auf einen Grünstreifen, hinter dem die nächsten Häuser standen. Der Himmel war gleichmäßig grau, eine milchige Wintersonne versuchte kläglich, die Wolkendecke zu durchdringen.
Das Schreiben über den Tod fiel ihm nicht leicht, weil er keinen Zugang zum Tod seiner Eltern fand.
Vater war tot. Vor zwei Stunden noch hatte er am Esstisch gesessen und wie immer Salz über das Essen gestreut, obwohl seine geliebte Frau perfekt kochen und würzen konnte, und nun saß er in seinem Ohrensessel und wurde langsam kalt.
Er hatte eine amerikanische Serie gesehen über eine krebskranke Frau und ihre letzten Monate. Da war er ganz neidisch geworden, weil sie und ihre Angehörigen sich noch von einander verabschieden konnten, auch wenn diese Monate sehr schmerzhaft gewesen sein mussten. Sein Vater war seiner Mutter aus dem Herzen gerissen worden. Kein Abschied, keine letzten Worte von Versöhnung oder Trost. Statt dessen ein Riss durch ihr Herz, so tief, dass seine Mutter daran verstorben war. Wie sollte man über einen solchen Riss, über so einen schnellen Abgang viele Worte finden?
Als alles Geschirr gespült war, ließ er es abtropfen und begann derweil, aufzuräumen. All die halb oder ganz gelesenen Zeitungen vergangener Tage warf er in den Müll, die Magazine schaute er durch, welche davon noch interessant waren und warf sie danach entweder weg oder legte sie auf einen Stapel auf dem Tisch. Im Obstkorb daneben war viel Platz, nur ein alter Apfel machte vor, wie auch seine Haut in einigen Jahren aussehen würde. Er warf ihn ebenfalls weg, fegte noch den Boden und verließ die Küche, zufrieden mit seinem Werk.
Einige Tage hatte er die Geschichte ruhen lassen. Nun wollte er sie sich noch einmal vornehmen. Stolz über sein Werk begann er zu lesen, doch diesmal kam sie ihm unzulänglich vor. Nicht schlecht irgendwie, aber das war nicht das, was er noch sagen wollte. Seine Versuche über die Traurigkeit hatten ihn eine Weile beschäftigt, aber ohne ein wirklich zufrieden stellendes Ergebnis. Also hatte er sie eingestellt. Das, was er sagen wollte, sollte eher vom Gegenteil handeln, aber war sein Ergebnis nun nicht zu seicht? Gehörte nicht in jede Geschichte ein Drama, an dem die Helden wachsen mussten?
An Weihnachten kamen alle mit ihren Familien zu ihnen ins Elternhaus, drei Tage lang tobten fünf Enkelkinder die Treppen hoch und runter und von morgens bis abends duftete es im ganzen Haus nach Kaffee, Braten, Tee, Plätzchen und Grog. Dann, irgendwann, kam das Weihnachten, das keiner je vergessen würde, das letzte Weihnachten für sie.
Wie jedes Jahr hatten sie den Terrassentisch an den Esstisch gestellt, die beiden einzigen Tischdecken des Hauses aus der Weihnachtskiste geholt und darüber gelegt, sodass die beiden Tische nun eine einzige lange Tafel bildeten, an der links und rechts je sechs Personen sitzen konnten, mit Anton am Kopfende also Platz für die dreizehn Personen, die all die Jahre hier gesessen hatten. Doch diesmal blieb ein Platz frei, rechts von Jo und gegenüber seiner Frau, am Ende der Tafel. Niemand sprach darüber, niemand konnte darüber sprechen, und wenn jemand auf die Leerstelle schaute, verfiel er oder sie in Schweigen. Dann bemühten sich sofort ein oder zwei andere, ein stockendes Gespräch wieder aufzunehmen oder ein anderes zu beginnen. Nie zuvor hatte er eine Leere als so gewaltvoll, so beherrschend und bedrückend wahrgenommen. Ab und zu, wenn er sich unbeobachtet fühlte, griff er mit seiner Hand nach rechts und legte sie auf den freien Stuhl, wie um sich zu vergewissern, dass dort niemand sitzt. Und wirklich, da saß niemand, obwohl in seinen Gedanken immer jemand auf diesem Stuhl saß und vermutlich für immer sitzen würde. Hier hatte Jo ihn gefüttert, hier hatte er mit ihm gelacht, hier hatte er ihm die Welt erklärt, hier hatte alles einen Anfang genommen und war nun zu einem Ende gekommen. Die Ehe mit seiner Frau war nur noch eine leere Hülle, ein Gefäß, aus dem kein Tropfen mehr floß und in das vermutlich auch nie mehr einer hineingelangen würde.
Jochen brach ab. Das war nicht mehr die Geschichte seiner Eltern, die er sich vorgenommen hatte. Und es war weder die Geschichte eines erfüllten Lebens, noch gehörte diese Geschichte hier her. Und es war auch niemand daran gewachsen. Er stand auf, ging aus dem Zimmer, ging aus der Wohnung und lief durch die Stadt, bis es längst dunkel war.
Auf dem Rückweg lief er durch eine belebte Fußgängerzone, als er plötzlich einige Meter vor sich seine Eltern zu sehen glaubte. Für den kleinen Teil eines Augenblicks war er so selbstverständlich überzeugt gewesen, seine Eltern von hinten zu sehen, dass er bereits seinen Schritt beschleunigt hatte, um sie einzuholen, bis der Gedanke an ihren Tod ihn in die Realität zurückholte. Und natürlich, jetzt sah er auch, dass diese beiden älteren Menschen ein Stück vor ihm nicht seine Eltern waren. Als er zuhause ankam, setzte er er sich sofort an den Computer und begann mit der nächsten Überarbeitung der Geschichte seiner Eltern.
Als sie fertig war, schaute Jochen erschöpft und doch erfüllt von etwas ähnlichem wie Gelassenheit auf den Monitor. Er hatte seine Kurzgeschichte zu Ende geschrieben, überarbeitet, neu geschrieben und wieder überarbeitet. Nun war sie abgeschlossen. Und gut. Es war seine Version eines erfüllten Lebens.
Herbstlaub raschelt im Wind. Sie sitzt neben ihm, ihre Hand in der seinen.