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Blind date
(Die Geschichte erschien 1999 im Buch Daniel Krieg, Der Gorilla im Erker, Middelhauve München)
Blind date
© Daniel Krieg
Der Intercity rollte eben im Düsseldorfer Bahnhof aus, als mir klar wurde, dass ich mich im Datum geirrt hatte: Es war Dienstag, nicht Mittwoch. Und folglich hatte ich mich mit dem Kommunalreferenten für morgen Mittag zum Interview verabredet, nicht für heute - eine weitere Glanzleistung auf dem Gebiet meiner wachsenden Zerstreutheit. Ich nahm es gelassen. Womöglich hatte ich gar keinen Tag verloren, sondern unversehens einen gewonnen: ein leeres Blatt in meinem Terminkalender.
Ich stieg aus und ließ mich im Strom der Reisenden Richtung Ausgang treiben, ohne genaue Vorstellung, was ich mit den geschenkten drei Stunden bis zur Rückfahrt anfangen sollte. Müßig registrierte ich die Reklametafeln, den säuerlich-staubigen Geruch und die Leichtigkeit, mit der mir entgegenkommende Passanten auswichen, ohne auch nur aufzusehen. Und stoppte im nächsten Augenblick vor einem jungen Mädchen mit kupferroten Haaren, das ich zweimal vergebens zu umschiffen versuchte, um dann höflich inne zu halten und ihr die Initiative zu überlassen. Doch sie wollte gar nicht vorbei.
„Konrad?“ fragte sie stattdessen mit bebender Stimme. „Konrad Vukodin?“
Ich schrak, für einen Moment verwirrt, zurück, während sie ihre Hände rang. Aber keinerlei Miene machte, beiseite zu treten oder sich einer anderen Person, möglicherweise unmittelbar hinter mir, zuzuwenden. Auf der Bahnhofsuhr über dem Ausgang waren erst drei meiner hundertachtzig freien Minuten verstrichen. Welcher Teufel mich ritt, weiß ich nicht. Aber ich setzte, ohne weiter nachzudenken, ein neutrales Lächeln auf und nickte.
„Ja“, brachte das Mädchen atemlos hervor. „Ich bin also Sonja. Ich habe dich gleich an den Schuhen erkannt, wie du gesagt hast.“
Ich fasste, nur entfernt irritiert durch die Vertraulichkeit ihrer Anrede, meine Treter ins Auge: schwarze Segeltuchschuhe mit weißen Schnürbändern und einer weiß abgesetzten, glatten Sohle, wie man sie auf Jachten trägt. Eine kleine, eitle Extravaganz, die ich mir gelegentlich sogar auf Dienstreisen leiste.
„Und nun?“ fragte ich, während das Mädchen ihre Finger unablässig verknotete und entknotete.
„Mein Mini steht im Parkhaus“, brachte Sonja schließlich hervor. „Wir könnten los.“
„Sehr schön“, sagte ich. Ihr Blick irrte ziellos an mir vorbei. Aber dann stieß sie etwas wie einen unhörbarer Seufzer aus, drehte sich um und schritt auf den Ausgang zu. Ich folgte ihr und ihrem lächerlich kleinen Lederrucksack amüsiert, bis ich sie eingeholt hatte. Es war höchste Zeit, sie über meinen Betrug ins Bild zu setzen. Und ein paar altväterliche Warnungen vor ihrem offenbar blinden Zutrauen in die Mitmenschen loszuwerden.
Ich versuchte, an ihre linke Seite zu gelangen, aber sie ließ das nicht zu. Sie schien darauf zu bestehen, keine Frauenrolle einzunehmen. Während ich rechts neben ihr herging, musterte ich sie vorsichtig von der Seite. Sonja mochte Anfang zwanzig sein, kaum mehr. Sie hielt den Kopf gesenkt. So dass ihr kupferrotes Haar über die Wange, vorbei an einer offenkundig zitternden Unterlippe, auf ein schwarzes Sweatshirt fiel, das mir viel zu groß vorkam. Nachträglich glaube ich, dass ihre bebende Unterlippe den Ausschlag gab. Plötzlich spürte ich etwas wie Mitgefühl mit dieser Fremden. Ich brachte es einfach nicht fertig, sie in diesem Moment über ihren Irrtum aufzuklären.
Schweigend stiegen wir in den Lift des Parkhauses, und Sonja hatte erkennbar Probleme, sich für die richtige Etage zu entscheiden. Mir schien, als habe sie das Treffen mit mir - oder vielmehr diesem vermeintlichen Konrad Vukodin - dermaßen aus der Balance gebracht, dass sie nur noch mit ihrer Fassung kämpfte und alles andere vergaß. So sehr mich das rührte, so wenig begriff ich die Ursache. Ich sehe ziemlich durchschnittlich aus. Ich konnte mir keinen Grund vorstellen, warum diese Person so von mir beeindruckt war, dass sie Mühe hatte, ihr eigenes Fahrzeug, nachdem sie endlich ein Parkdeck gewählt hatte, zu finden.
Schließlich entdeckten wir es: einen feuerroten Mini, der so frisch gewaschen und poliert aussah, als sei er vor einer Stunde gekauft worden. Ich quetschte mich kommentarlos in den engen Beifahrersitz. Vor der Schranke der Parkhausausfahrt stieß Sonja wieder einen dieser lautlosen Seufzer aus, der sich nur durch die heftige Bewegung ihrer Brust verriet, schluckte und fragte dann stockend:
„Du weißt, wie ich jetzt fahren muss, um zum ‘Victoria’ zu kommen?“
Ich hatte keine Ahnung, wie sollte ich auch. Ich war erst einmal zuvor in Düsseldorf gewesen und konnte mich kaum mehr erinnern, aus welchem Grund. „Victoria“ klang nach einem kriegerischen Monument. Obwohl es sich, schloss man aus dem seltsamen Verhalten meiner Begleiterin, ebenso gut um den Namen eines Schafotts handeln konnte. Doch bevor ich eine Ausrede erfinden musste, hatte Sonja einen Zettel aus dem Handschuhfach hervorgekramt und reichte ihn mir herüber.
„Ich habe deine Mail ausgedruckt“, sagte sie, ohne mich anzusehen. „Du hast es ja genau beschrieben.“
Ich studierte das Papier, während Sonja ruckend den Gang einlegte: eine lakonische Routenbeschreibung, die mit „Na dann, K.“ unterschrieben war. Der Kerl schien mir ein ziemlicher Pedant zu sein. Seine Navigation bestand aus einer Folge von Rechts/Links-Anweisungen sowie der Angabe, nach wie vielen Metern die Kurskorrektur zu erfolgen hatte. Von einem dieser dämlichen Computerprogramme erstellt, vermutete ich.
Nachdem ich zehn Minuten lang die Befehle eines Fremden heruntergebetet hatte wie der Beifahrer eines Rallyepiloten, fanden wir einen Parkplatz unter einem klassizistischen Gebäude in der Innenstadt, in dessen erstem Stock sich unser Ziel befand: das Restaurant „Victoria“. Von einem Unbekannten aus unbekannten Gründen für Sonja und mich, seinen zufälligen Doppelgänger, ausgesucht.
Sonja hatte offensichtliche Mühe, mit ihrem langen, schlauchförmigen Rock den Mini zu verlassen. Aber eine plötzliche Scheu hielt mich davon ab, ihr meinen Arm zur Hilfe anzubieten. Überhaupt fühlte ich mich längst nicht mehr so zynisch belustigt vom aberwitzigen Spiel des Schicksals, während wir die Treppe emporstiegen und einen passablen Tisch, in einer Nische vor dem Fenster, zugewiesen bekamen.
Wir setzten uns, und ich bestellte, ohne groß zu überlegen, zwei Gläser Champagner. Der Raum war nur mäßig gefüllt. Geschäftsleute im Wesentlichen, wie mir schien. Jetzt, wo Sonjas Hände nicht mehr mit Schalten und Lenken beschäftigt waren, begannen sie wieder, sich ineinander zu verknoten, bis ich ihr, mit einem behutsamen Lächeln, die Speisenkarte reichte. Sonja seufzte erneut, streifte meinen Blick für den Bruchteil einer Sekunde und senkte die Augen, um sich einem rührenden Stirnrunzeln scheinbar in das Menü zu vertiefen. Immer wieder flatterten ihre Wimpern auf und nieder. Als sei ich ein Scharfrichter, dessen Zuschlagen jeden Augenblick zu gewärtigen sei.
„Nun?“ fragte ich. „Irgendwas gefunden?“
Sie schluckte.
„Schwierig für mich“, wisperte sie. „Siehst du ja selber.“
Ich nahm meine eigene Karte kritisch in Augenschein, konnte aber, von den Preisen einmal abgesehen, keinen gemeinsamen anstößigen Nenner auf ihr erkennen. Ein ambitionierter Laden, ohne Frage: Gänsestopfleber, Hummerschwänze, Wachtelbrüste und Trüffelscheiben schienen an jeder noch so kleinen Kreation zu kleben.
„Ja“, log ich ins Blaue hinein. „Was wünscht du dir denn?“
Wieder der flatternde Blick. Der allmählich anfing, mir das Herz zu zerreißen.
„Können die etwas ohne Tiere machen?“ fragte Sonja.
Vegetarierin, das wurde mir in diesem Moment klar. Und eine von der unerbittlichen Sorte. Das passte dermaßen schlüssig zu ihrem bisherigen Verhalten, dass ich mich fragte, warum ich nicht gleich darauf gekommen war.
„Vielleicht eine Omelette mit Pfifferlingen?“ schlug ich vor.
Sie zuckte zusammen, als hätte ich ihr ins Gesicht gespuckt.
„Eier“, flüsterte sie.
„Eier sind keine Tiere“, erklärte ich herablassend und bereute es sofort. Jetzt schien sie tatsächlich mit den Tränen zu kämpfen.
„Lass uns nicht wieder darüber streiten, ja?“ flüsterte sie.
Ich zögerte mit einer Antwort, weil mir ihre Bitte die ganze Unwirklichkeit unserer Situation auf den Punkt zu bringen schien: zwei Menschen, die einander intim genug kannten, um sich über den beseelten Status eines Eis auseinander gesetzt zu haben, aber bis zu diesem Tag noch nicht einmal wussten, wie der andere aussah.
„Entspann dich“, sagte ich schließlich. „Wär ja gelacht, wenn wir keine Lösung finden.“
Sie nickte, zuckte mit den Achseln, streifte mich mit einem wimpernschlagkurzen Blick, schüttelte den Kopf: eine Folge von Handlungen, mit denen sie eine Antwort mimte, die ihr nicht zur Verfügung stand. Dann betrachtete sie demonstrativ, was sich jenseits des Fensters, drunten auf der Straße abspielte. Ihr Profil vor dem Gegenlicht kam mir zart und beinahe transparent vor, wie ein Scherenschnitt aus Seidenpapier.
Der Maitre tauchte mit einem diskreten Räuspern auf, um die Champagnerkelche auf den Tisch zu stellen und unsere Bestellung zu notieren. Es erwies sich nach kurzer Verhandlung als kein Problem, allen feinschmeckerischen Schnickschnack zugunsten der puren Kräutlein und Gemüse zu eliminieren, solange ich nur den ursprünglichen Preis zu zahlen bereit war. Sonja enthielt sich jeden Kommentars zu den vorgeschlagenen vegetarischen Variationen. Tatsächlich schien sie vollauf damit ausgelastet, Richtung Fenster ins Nirgendwo zu starren, die Hände zu ringen und zu tun, als gäbe es sie überhaupt nicht.
Ich betrachtete sie verstohlen, wie sie auf der Unterlippe kaute: ein undeutbares Gesicht unter kupferrotem Haar, mit diesen unglaublichen Augen, die ständig unter den niedergeschlagenen Wimpern verschwanden. Ihre Verstörung, deren Ursache ich nicht begriff, betörte mich plötzlich stärker als irgendetwas, das ich den letzten Jahren erlebt hatte.
„Bereust du jetzt, dass wir einander plötzlich gegenübersitzen?“ fragte ich vorsichtig. Sonja atmete ruckartig ein. Als überstiege es schier ihre Kräfte, sich dem Fenster ab und mir wieder zuzuwenden.
„Wie sollte ich“, murmelte sie. „Wenn alle Worte verbraucht sind, dann bleibt nur noch die Wirklichkeit.“
„Na dann“, sagte ich, viel zu rasch und laut und unüberlegt, während ich mein Glas mit einer gewissen Feierlichkeit erhob. „Lass uns auf das Ende aller Worte trinken, das uns hierher geführt hat.“
Die Replik war an gedankenloser Plattheit kaum zu übertreffen. Das wurde mir erst bewusst, als Sonja ebenfalls ihr Glas erhob. Die Hand - eine erstaunlich schmale, um nicht zu sagen: kindliche - Hand zitterte so stark, dass einige Schlucke Champagner auf das Tischtuch schwappten. Sie stellte ihr Glas, ohne zu trinken, beinahe heftig an seinen Platz zurück und sprang auf. Ich sah, wie sie den Kampf gegen ihre plötzlichen Tränen zu verlieren drohte. Sie griff sich ihren lächerlich kleinen Rucksack und stürzte Richtung Toilette, während die Tränen hemmungslos ihre Nasenflügel entlang rannen.
Ich nippte an meinem Champagner und fühlte Ratlosigkeit, begleitet von einem entfernten Schuldgefühl wegen meines Betrugs. Die Banalität der Gesprächsfetzen und das Klappern der Bestecke um mich her machten die Situation geradezu unwirklich. Als sei ich auf einem fremden Planeten in den Körper einer fremden Rasse versetzt worden.
Die ausgedruckte Email Konrads mit den Navigationsanweisungen deutete auf eine Online-Beziehung hin, das fast dramatische Verhalten Sonjas auf deren romantische Natur. Derlei Beziehungen musste es Tausende geben, nach allem, was ich von meinen Kollegen aus der Wissenschaftsredaktion und aus dem Gesellschaftsressort gehört hatte. Allerdings war mir noch nie zu Ohren gekommen, dass diese merkwürdige Variante zwischenmenschlicher Nähe jemals gutgegangen wäre. Personen, die einander lange genug über Tastatur und Datenleitung ihr Herz und ihre Seele - oder zumindest die erträumten Varianten all dessen - entblößt hatten, schienen zu vergessen, dass eine physische Konfrontation mit Geruch und Körper doch etwas ganz anderes ist. Und dass es wenig hilft, wenn man sich wochenlang auf dem Monitor die Farbe und Marke der eigenen Unterwäsche beschrieben hat. Sobald es darum geht, einander wirklich in die Augen zu sehen.
Doch ich konnte auch vollkommen falsch liegen mit dieser Vermutung. Überdies kehrte in diesem Augenblick Sonja, deutlich gefasster, an unseren Tisch zurück.
„Entschuldige“, stammelte sie, während sie sich setzte. „Das wird schon. Gib mir ein bisschen Zeit, ja?“
„Kein Problem“, sagte ich. Zwei Kellner traten an unseren Tisch und enthüllten, mit lachhaft synchronen Bewegungen, unsere Vorgerichte: für Sonja eine kalte Kartoffelsuppe, und für mich den gemischten Salat ohne Gänseleber und Wachtelbrust, für den ich mich, um Sonja nicht allzu sehr abzustoßen, schließlich entschieden hatte. Der Wein und das Mineralwasser wurden vom Sommelier präsentiert, als handelte es sich um das Blut Jesu, so dass mir die Rituale des Verkostens und Nickens und Lobens Zeit gaben, meine nächsten Äußerungen zu planen.
Doch dann sagte ich überhaupt nichts, sondern beließ es beim gedämpften Hintergrundgemurmel der übrigen Gäste. Sonja blickte mich, nachdem der Lakai verschwunden war, erneut auf ihre schnelle, seltsame Art an: von unten, halb von der Seite, um zusammenzufahren und die Lider wieder zu senken. Das löste ganz zwiespältige Gefühle in mir aus. Einerseits erfüllte es mich mit Genugtuung: selten hatte ich einen anderen derart beeindrucken können. Andererseits war klar, dass diese Reaktion überhaupt nichts mit meiner tatsächlichen Person zu tun hatte. Allmählich bedauerte ich zutiefst, dass ich uns beide, um eines beiläufigen Scherzes willen, in diese Lage gebracht hatte.
„Beruhige dich, bitte“, sagte ich und hob erneut das Glas. “Du musst keine Angst vor mir haben.“
Sie schoss mir ihren herzzerreißenden Blick zu und murmelte: „Glaub nicht, dass ich immer so bin. Ich weiß nicht, was los ist mit mir.“
„Wird schon werden“, sagte ich. Und widerstand einer fast unbezwingbaren Versuchung, ihre Hand zu nehmen und tröstend zu streicheln. Stattdessen ergriff ich die Gabel und begann, mich über meinen Salat herzumachen.
Sonja rührte in ihrer kalten Kartoffelsuppe herum, als gewärtige sie lebende Embryonen auf dem Tellergrund. Ich sah sie an, während sie nirgendwohin blickte. Und wir teilten ein Schweigen, das allmählich endzeitliche Züge trug.
Was für ein Mensch mochte Konrad Vukodin nur sein? Was für ein Mensch sie selbst, wenn sie sich so von diesem Kerl aus der Fassung bringen ließ? Was, zum Teufel, konnte überhaupt irgendwen dazu bewegen, sich einem anderen derart bedingungslos auszuliefern?
Kaum glaubhaft auch, dass sie tatsächlich mich für diesen Konrad durchgehen ließ. Ich verstand nicht viel von Online-Beziehungen. Ich wusste, dass man miteinander in eine Art Dialog über Computertastaturen treten konnte. Und auch, dass es üblich war, einander digitalisierte Photos oder sogar die eigene Stimme zu schicken. War es vorstellbar, dass die beiden niemals miteinander telefoniert oder sonst irgend etwas unternommen hatten, was sie, wenigstens teilweise, von virtuellen Monaden in wirkliche Menschen hätte verwandeln können?
„Sag mal“, versuchte ich es erneut. „Bist du enttäuscht von mir? Kannst du deshalb nicht reden? Hast du etwas anderes erwartet?“
Sonja schüttelte langsam den Kopf.
„Nein“, sagte sie. „Im Gegenteil. Du siehst jünger aus, und du hörst dich auch jünger an.“
Jetzt war es an mir, in Schweigen zu verfallen. Nach meiner Einschätzung musste Sonja wenigstens zwanzig Jahre jünger sein als ich. Hatte sie vielleicht seelische Probleme, die sie zu älteren Herren neigen ließ? War dieser Vukodin ein pädophiler Mümmelgreis, der seine Opfer, geschützt durch die Anonymität des Netzes, mit geliehenen Worten von Stifter und Rilke beschwatzte? Der guten Grund dafür hatte, keine Photos oder Stimmproben von sich zu schicken? Und dem nun, in Anbetracht einer tatsächlichen Konfrontation, die Sache zu brisant geworden war?
Nein, die Schuhe. Sonja hatte gesagt, sie habe mich an den Schuhen erkannt. Kaum vorstellbar, dass ein Großvater derartige Schuhe trug und damit auch noch angab. Wenn ich ganz ehrlich mit mir war, so schienen sie selbst meiner eigenen Altersklasse schon nicht mehr ganz angemessen.
„Nun iss doch wenigstens ein bisschen, wenn du schon nicht sprechen magst“, sagte ich ins Blaue hinein. „Wir haben uns zum Essen verabredet, und du stocherst nur herum.“
Sonja schrak zusammen und legte den Löffel neben den Teller. Als hätten unsere zwei Kellner nur auf diesen Augenblick gewartet, traten sie an den Tisch und tauschten das Geschirr, wieder vollkommen synchron, gegen den Hauptgang: einen asiatischen Gemüseteller, der eigentlich recht verlockend aussah, und einen Steinbutt auf Tomatencoulis für mich. Nachdem sie Getränke nachgeschenkt hatten, verschwanden sie aus dem unsichtbaren Kokon des Nichtgesprächs, der uns umgab und den Rest des Lokals wie eine verschwommene Kulisse erscheinen ließ.
Sonja schob eine Sojasprosse in den Mund und schluckte daran, als handle es sich um einen lebenden Kakerlaken.
„Deine Blutwerte“, murmelte sie, ohne aufzusehen. „Du hast nichts mehr darüber geschrieben.“
„Stimmt“, sagte ich schnell. Sie streifte mich mit einem fragenden Blick. Ich fühlte, wie mir heiß wurde, und dass ich viel zu lang um Worte rang. Um eine Antwort, die meinen Betrug nicht offenkundig werden ließ. War dieser Vukodin krank? Und um welche Krankheit mochte es sich handeln? Eine vorübergehende? Oder eine lebensbedrohende, wie Aids oder Leukämie? Das letzte Treffen vor dem Exitus? Oder bloß larmoyantes Wichtigtun wegen überhöhten Cholesterins?
„Unverändert“, sagte ich schließlich.
Sonja stieß einen ihrer langen, lautlosen Seufzer aus.
„Schlimm“, murmelte sie dann. „Schrecklich.“
Ich zuckte vage die Schultern und beschäftigte mich demonstrativ mit meinem Fisch. Sonja schien einen verzweifelten Kampf mit sich auszufechten. Sie setzte mehrmals an, bis sie endlich den Kopf hob, tief Atem holte und mich mit ihren bemerkenswert türkisfarbenen Augen, in denen schon wieder Tränen standen, anblickte.
„Ich weiß zu schätzen, dass du trotzdem gekommen bist“, sagte sie. „Wenigstens dieses eine Mal.“
Ich nippte etwas verwirrt an meinem Wein. Mein Blick fiel auf die Armbanduhr, und ich stellte fest, dass mehr Zeit als erwartet vergangen war. Eine knappe Stunde blieb mir noch, nicht mehr. Eine knappe Stunde wozu? Ich wusste es nicht. Wie eine monströse Fehlbesetzung war ich in einen Film geraten, dessen Drehbuch ich nicht kannte, zwischen zwei Protagonisten, deren Schicksal sich mir niemals erschließen konnte.
„Es ist unwirklich“, sagte sie leise. „Ich dachte nicht, dass es dich gibt. Jetzt gibt es dich auf einmal.“
„Aber du wusstest doch, dass es mich gibt“, erwiderte ich. Sie sah mich an, einen Moment nur, und mir kam es vor, als spielte der Anfang eines Lächelns über ihr Gesicht, bevor sie die Augen erneut niederschlug.
„Wir sind Netzgespenster, wie du immer gesagt hast“, wisperte sie. „Wir sitzen hier gar nicht. Und wir können nicht reden ohne Tastatur und Bildschirm. Wir kennen einander, wie eine Galaxis die andere kennt.“
„Und wie ist das?“ fragte ich behutsam.
„Signale“, sagte sie. „Signale, die gesendet werden und empfangen. Dazwischen ist nichts als schwarze Leere ohne Weg.“
Ich verstand sie nicht wirklich. Bloß ein vages Bild geisterte durch meine Vorstellung, das immer mehr Glaubwürdigkeit gewann: Zwei Gesichter in der Nacht, vom Widerschein der Monitore erhellt, das sprachlose Klicken der Tastaturen. Eine unermessliche Entferntheit, die kein Hieb auf die Enter-Taste beseitigen konnte. Die Vorstellung erschreckte mich.
Ich griff, ohne hinzusehen, nach meinem Wasserglas und streifte dabei ungewollt Sonjas Hand. Ihre Finger kamen mir eiskalt vor, einen kurzen Moment, bevor Sonja sie schnell zurück in ihren Schoß zog, als hätte sie in kochende Säure gefasst. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, schon wieder, während sie auf die Lippen biß, die Hand noch einmal über den Tisch hob, mich wie probeweise ebenfalls berührte und sie dann endgültig unter dem Tisch barg. Als sei der Versuch, nunmehr, für alle Zeit gescheitert. Sie konnte es nicht, obwohl sie es versucht hatte. Sie war außerstande, mich oder Konrad oder vielleicht irgend einen Menschen auf dieser Erde anzufassen.
Ein anderer Gedanke kam mir in den Sinn. Ich fragte mich, ob ich es nicht mit einem missbrauchten Kind zu tun hatte. Das für jede vorstellbare Variante der Zukunft eingeschlossen war im eigenen Körper, der nicht mehr ihm selbst gehörte. Die Idee war naheliegend, aber nicht plausibler als jede andere Spekulation: Ich wusste es nicht, und ich würde es nie erfahren. Ich suchte vergeblich nach jener rationalen Erklärung, die mich von einer Verantwortung befreien konnte, die ich mir unversehens auf die Schultern geladen hatte.
„Es tut mir leid“, sagte ich. “Aber ich fürchte, allmählich muss ich zahlen. Wenig Zeit, um einander kennen zu lernen.“
Sonja biss sich auf die Unterlippe. Am Nebentisch piepste aufdringlich ein Mobiltelefon, bevor es sein Besitzer ausschaltete.
„Drei Monate und zwölf Tage“, sagte sie. „Es ist nicht kennen. Es ist meine Vorstellung von dir, die ich gekannt habe, nicht dich. Deshalb wollte ich keine Fotos und keine Stimme. Deshalb hatte ich so große Angst, dich wirklich zu sehen.“
„Ist es so schlimm? Soll ich besser gleich gehen und ein Taxi nehmen?“ fragte ich. Sie schob ihr kalt gewordenes Gemüse auf dem Teller hin und her wie Teile eines Puzzlespiels.
„Es ist nicht schlimm“, murmelte sie endlich. „Versteh mich, versuch es bitte. Das Schlimme ist, dass es nicht schlimm ist.“
Ich war völlig ratlos. Also winkte ich dem Kellner und bat um die Rechnung, ohne Sonja zu fragen, ob sie noch ein Dessert oder einen Kaffee wollte. Es erschien mir lächerlich. Von ihrer Mahlzeit hatte sie praktisch nichts angerührt. Der Maitre sah säuerlich drein. Als warte er nur darauf, uns und den Vorwurf der ungeleerten Teller loszuwerden.
„Ich...“, fing Sonja an und brach ab, als schiene es ihr plötzlich unerhört, einen Satz mit diesem Wort zu beginnen. Aber dann tat sie es, im zweiten Anlauf, doch.
„Ich war immer allein und wollte es immer bleiben“, sagte sie. „Es ist anders, jetzt.“
Der Kellner brachte den Teller mit der Rechnung, und ich legte einige Scheine darauf, ohne mich lang in das Zahlenwerk zu vertiefen.
„Du bist nicht mehr allein, jetzt“, sagte ich unbeholfen, obwohl offensichtlich war, dass ich log.
„Du missverstehst“, flüsterte Sonja, während sie gleichzeitig versuchte, aufzustehen, ihren Rucksack unter dem Tisch hervorzuziehen und unsichtbar zu bleiben. „Ich werde weiter allein sein. Aber ich werde es nicht mehr wollen.“
Schweigend stiegen wir die Treppe hinunter zur Straße. Den Versuch, an Sonjas Seite zu gelangen, während sie auf ihren Mini zuging, hatte ich aufgegeben. Es dauerte endlos, bis sie den Autoschlüssel gefunden und sich in den Fahrersitz gezwängt hatte.
„Schnallst du dich an?“ fragte sie, bevor sie den Gang einlegte. Ich musste lächeln. Ihre Aufforderung hatte etwas unerwartet Banales, beinahe Fürsorgliches. Mir kam es so vor, als wären dies die einzig alltäglichen Worte, die wir während der ganzen Zeit gefunden hatten.
„Du weißt, wie du fahren musst?“ erkundigte ich mich. Sonja wandte kein Auge von der Straße. Sie kaute an ihrer Lippe und murmelte dann beinahe unhörbar: „Wirst du wiederkommen?“
„Möchtest du?“ fragte ich zurück. Das knackende Geräusch des Blinkers zerteilte die Zeit, die sie sich ließ, bevor sie eine Antwort zustande brachte.
„Nein“, sagte sie, und dann sehr schnell:
„Ja, natürlich. Aber du siehst ja, dass ich es nicht fertig bringe. Ich werde es vielleicht nicht einmal mehr schaffen, mit dir über das Netz zu reden. Jetzt, nachdem ich weiß, dass es dich gibt.“
Mir fiel keine Antwort ein, für den Rest der Fahrt zum Bahnhof. Ich merkte nur, wie tief mich ihre letzten Worte getroffen hatten - als seien wir seit langem ein Paar, das sich zu trennen beschlossen hatte, gerade eben. Und ich stellte fest, dass ich das um keinen Preis wollte.
Sonja manövrierte den Mini in eine Parkbucht und schaltete den Motor ab, ohne Anstalten zum Aussteigen zu machen.
„Was haben sie nur mit dir angerichtet, Sonja“, sagte ich so sanft wie möglich. Doch sie hielt weiter das lächerlich kleine Lenkrad umklammert und starrte auf ihre Finger mit den viel zu kurz geschnittenen Nägeln, als hätte sie eine unabänderliche Erschöpfung überwältigt.
„Ich habe die Fluchtgeschwindigkeit vor viel zu langer Zeit erreicht“, flüsterte sie. Ich sah sie verständnislos an, doch sie bewegte den gesenkten Kopf keinen Millimeter.
„Das heißt?“ fragte ich schließlich.
„Fluchtgeschwindigkeit“, wisperte sie. „Wenn ein Körper die Fluchtgeschwindigkeit erreicht, entfernt er sich immer weiter und weiter, und nichts kann ihn mehr zurückbringen.“
Und dann gab sie sich einen Ruck und stieg aus. Ich folgte ihr auf den Bahnsteig, ohne irgendwas zu begreifen.
Der ICE stand summend vor uns, abfahrbereit in wenigen Minuten. Ich sah, dass Sonja erneut mechanisch die Hände wand, wie sie es drei Stunden zuvor, bei der ersten Begegnung getan hatte. Und plötzlich konnte ich nicht umhin, dieses trostlose, autistische, schreckliche Händeringen zu stoppen. Ich ergriff ihre rechte Hand und verschloss sie zwischen meinen Fingern.
Erst dann wurde mir klar, welche Panik das in einer Person wie Sonja auslösen musste. Dass sie sich schreiend von mir losreißen, sich umdrehen und davonlaufen musste. Dass ihr gar nichts anderes übrig blieb, als genau das zu tun.
Und sie entzog mir, nach wenigen Sekunden, in denen sich ihre Hand wie ein zitternder, flatternder Vogel anfühlte, tatsächlich ihre Finger. Doch anstatt davon zu laufen, schlang sie die Arme um meinen Nacken und küsste mich.
Ich kann mich nicht erinnern, jemals auf diese Weise geküsst worden zu sein: Es fühlte sich an, als wolle sie mich verschlingen, und es machte mir Angst, weil es so verzweifelt und endgültig war. Ich konnte sie nur regungslos gewähren lassen und in meinen Armen halten und mich dem jähen Gewicht ihres Körpers entgegen stemmen, während ihre Schultern bebten und ihr Mund sich an mir festsaugte.
Als sie mich endlich freigab, rann ihr eine Träne den linken Augenwinkel herab. Der ICE war dabei, die Türen zu schließen. Sie drehte sich wortlos um und eilte, ohne umzusehen, dem Ausgang zu, bevor ich mich aus meiner Versteinerung lösen konnte. Als ich im allerletzten Moment den Zug bestiegen hatte, der bereits anfuhr, und noch bevor ich meinen Platz fand, fiel mir ein, dass ich Sonja niemals wieder sehen würde. Ich kannte nichts außer ihrem Vornamen. Und sie kannte mich überhaupt nicht.
Sie hatte die Lage richtig eingeschätzt, was dies betraf: Galaxien, die sich mit rasender Beiläufigkeit von einander entfernen mussten, eine jede für sich. Und es gab keinen Traum und keine Erinnerung, die ihrem Tun Einhalt gebieten konnte: Gespensterstaub zu Gespensterstaub.