Blind Date
Sie zögerte. Sollte sie tatsächlich in die Straßenbahn, die vor ihr hielt, einsteigen? War das eine kluge oder gar weise Entscheidung? Eigentlich schon – zumindest wenn sie einigermaßen pünktlich zu ihrem Date erscheinen wollte. Auf der anderen Seite: Vielleicht wartete da ein völliger Trottel, der sie mit irgendwelchen WG-Geschichten zu beeindrucken versuchen würde oder von seinem Ach-so-ereignisreichen-und-tollen-Job zu berichten wusste und scheinbar auch sonst nicht in seinem Hirn hatte. Warum hatte sie sich auf dieses Spielchen eingelassen? Warum tat sie es immer wieder? Immer mal zwischendurch ein Blind Date. Fast unmerklich schüttelte sie den Kopf und musste unwillkürlich grinsen. Sie stieß Luft aus und seufzte. Spätestens nach dem letzten Internet-Blind-Date hätte ihr doch eindeutig die Lust daran vergehen müssen. Einen größeren Idioten hätte sie wohl kaum finden können. Nicht, dass es genügend männliche Wesen im Internet gäbe, nein, das war es nun ganz und gar nicht. Aber so was? Das war kein männliches Wesen gewesen. Ein Wesen, definitiv. Aber mehr nun garantiert nicht. Er traf eher sich selbst als jemand anderen. Sie war total überflüssig gewesen – nettes Beiwerk, wenn überhaupt.
Sie war extra hergefahren. Da sie etwas zu früh gewesen war, hatte sie beschlossen, noch ein wenig die Geschäfte zu durchstöbern. Die Uhr dabei immer im Auge. Dennoch war sie dann zwei Minuten zu spät in der Kneipe aufgeschlagen, in der sie sich mit dem scheinbar netten Herren verabredet hatte.
„Hallo“, sprach sie einen jungen Mann, der allein an einem der Tische saß, „ähm…“, sie suchte nach den Worten, die sie sich doch vorher schon alle eigentlich im Kopf zurecht gelegt hatte, aber jetzt in den Weiten des Hirn untergetaucht waren. Sie räusperte sich: „Hast du hier ein Date?“ Ja, sehr hübsch. Sehr plump.
„Ja.“
Puh. Glück gehabt. Sie lächelte.
„Mit meiner Freundin. Ist grad zur Toilette.“
Ups, wie peinlich. Ihr Lächeln erstarb.
„Oh… äh… ja… öh… schuldigung“, stammelte sie. Er zeigte ihr sein breitestes Grinsen, während sie den Raum in strahlendem Rot erleuchtete. Bestimmt wurde der Laden bald mit einem Freuden-Etablissement verwechselt. Sie versuchte zu lächeln, verzog ihr Gesicht jedoch eher zu einer Fratze, drehte sich um und sah sich in dem Café um. Vorsichtig tapste sie zum nächsten Tisch, an dem ein jüngerer Mann allein saß.
„Hi, sind wir verabredet?“ fragte sie zaghaft.
„Hi. Vermutlich“, erwiderte er.
Sie setzte sich zu ihm. Er saß am Kopfende, was sie schon irgendwie störte. Es wäre ihr lieber gewesen, hätte er ihr gegenüber gesessen, aber das war leider nicht möglich.
„Bist’n bisschen spät, ne?“
Sie errötete erneut und sah ihn überrascht an. Es konnten höchstens drei Minuten sein. Und das wahrscheinlich auch nur, da sich an den falschen „rangemacht“ hatte. Verstohlen blickte sie zu ihrem ersten Versuch hinüber. An seinem Tisch saß eine dürre Blondine. Typisch. War ja irgendwie klar.
„Ja, öh… sorry“, brabbelte sie.
„Naja, kann ja mal passieren“, patzte er zurück. Bei ihm aber wohl nicht, denn er wies sie immer wieder darauf hin. Doch ihr blieb keine Zeit, etwas zu sagen, denn er redete in einer Tour weiter. Ah, in die eigene Stimme verliebt. Super!
„Ich mach ja total gern Extremsport. Letztes Jahr war ich Bungeejumpen. Blablabla.“
„Ah, ist ja spannend.“
„Blablabla.“
„Ach, echt? Das ist ja Wahnsinn!“ Zuhören tat sie schon seit Längerem nicht mehr. Vermutlich erzählte er gerade von irgendwelchen Verletzungen, die er sich bei seinen ganzen Abenteuerurlauben zugezogen hatte. Sie betrachtete die Bilder an den Wänden oder beobachtete die Servicekräfte, wie sie von Tisch zu Tisch eilten, oder die Leute an den anderen Tischen. Höchst interessant – zumindest im Vergleich zu ihrem nicht-mal-Gegenüber. Sie nickte immer wieder brav und warf einzelne Kommentare in den Raum, ohne dass er überhaupt Notiz davon zu nehmen schien. Seine eigene Stimme schien das Beste für ihn zu sein. Hörte man seine eigene Stimme nicht verzerrt? Also anders, als sie für andere klingt? Sie hatte doch mal ihre Stimme aufgenommen und war ganz überrascht, dass sie so anders, quietschig klang. Obwohl das vielleicht auch an dem Recorder gelegen hatte, der schon etwas älteren Datums war und so ziemlich alles verzerrte – auch die Stimmen von Freddie Mercury oder Kylie Minogue. Letzteres war vielleicht nicht allzu dramatisch.
Sie zuckte zusammen. Es herrschte Stille. Sie blickte ihn an.
„Ich muss los“, sagte er, scheinbar zum zweiten Mal.
„Oh, okay.“ So ein Ar***. Ein geeigneteres Wort gab es wohl nicht. Sie kam extra hierher, um sich mit ihm zu treffen und dann hatte er nicht mal etwas Zeit mitgebracht? Auch wenn sie nicht traurig darum war, dass er keine Zeit mehr hatte, aber es kränkte sie doch.
„Ja, ich order dann mal die Rechnung.“
Eine junge Kellnerin kam an den Tisch. „Geht das zusammen oder getrennt?“ fragte sie anstandshalber und lächelte.
„Getrennt!“ erwiderte er.
Die Kellnerin sah ihn erstaunt an, behielt aber ihr Lächeln im Gesicht. Sie blickte dann zu ihr und warf ihr einen höchst überraschten Blick zu. Sie hob nur die Schultern ganz sachte an und gab der Kellnerin einen ebenso verdutzten Blick zurück. Sie hätte gar nicht gewollt, dass er die Rechnung übernahm, auch wenn sie nur eine Cola getrunken hatte. Aber dass er nicht mal anbot, die Rechnung komplett zu zahlen, verletzte sie erneut. Sie kramte in ihrem Portemonnaie und gab der Kellnerin fünfzig Cent Trinkgeld, nachdem er schon keines gegeben hatte. So ein geiziger Blödmann.
„Schönen Abend dann noch“, wünschte die Kellnerin und verschwand.
Die beiden erhoben sich und verließen das Café.
„Ja, also, ich muss da lang“, sagte sie.
„Hmm. Dann können wir ja noch ein paar Schritte zusammen gehen.“
Ach du liebe Zeit. Darauf hatte sie nun keinen Wert mehr gelegt, aber es gab kein Zurück. „Wie schön“, erwiderte sie höflich. Innerlich schüttelte sich alles.
„Also, so ganz ehrlich, weißt“, begann er wieder loszulegen. Sie sog tief Luft ein und wollte schon abschalten, als er fortfuhr: „Du bist ja so gar nicht mein Typ!“
Sie blieb stehen und sah ihn ausdruckslos an. Sie war zu erstaunt über seine Worte. Doch das war nichts im Vergleich zu dem, was er noch obenauf setzte. Er bemerkte, dass sie stehen geblieben war und drehte sich um. Sein Blick zeugte ebenfalls von Überraschung.
„Was denn?“ fragte er. Und, ohne ihre Antwort abzuwarten, sprach er weiter: „Siehst das Mädel da?“ Er zeigte auf – wie könnte es auch anders sein? – eine kleine, zierliche Blondine, die zwischen irgendwelchen Kleiderständern hin- und herwuselte, auf denen Gewänder in der Größe von Puppenkleidern hingen. So erschien es ihr zumindest. Aus Backe. „DIE ist doch geil und sexy. Hat einen hübsches Gesicht. Nen Knackarsch. Wow! Geile Figur.“
Na komm, sag’s schon. Na los, Du – beherrsch Dich…
„Ist blond.“
Danke, es geht doch. „Hmm. Schön. Dann quatsch sie doch an. Oder kannst du das nicht?“ Öh… Hatte sie das grad wirklich gesagt? Wie war entsetzt, erstaunt über sich selbst.
Ihm schien es nicht sonderlich anders zu gehen. Verblüfft sah er sie an. Sprachlos. Das erste Mal, das ganze Date über, quaselte er nicht. Könnte man das überhaupt „Date“ nennen?
Ihr Entsetzen über ihre eigene Courage sollte jedoch noch weiter übertroffen werden. Sie sah sich auf das Mädchen zugehen, ihr auf die Schulter klopfen, hörte sich mit fester Stimme sagen: „’tschuldige bitte.“
Die Blondine sah sie an: „Ja?“
„Hört sich jetzt etwas bekloppt an: Der Typ da drüben steht auf dich… Er traut sich aber nicht, dich anzuquatschen.“
„Wie? Was? Häh?“
„Kein Spaß.“ Sie grinste breit.
„Aha. Aber“, sie musterte den Kerl von oben bis unten und hob die Stimme, „du bist so ganz und gar nicht mein Fall. Viel zu bullig.“ Sie grinste gehässig, lächelte dann kurz ihr zu und vertiefte sich dann wieder in ihre Klamottenauswahl.
Hui, damit hatte sie ja gar nicht gerechnet, dass so ein Püppchen so nett sein konnte.
Sie ging zurück zu ihrem völlig entgeisterten „Date“, dem alle Farbe aus dem Gesicht gewichen war. Ohne stehenzubleiben, lächelte sie ihm schelmisch an, zuckte die Schultern und sagte im Vorbeigehen: „Tja, so ist das Leben. Mal verliert man, mal gewinnen die anderen.“ Stolz lächelnd und hoch erhobenen Hauptes – bestimmt war sie soeben um drei Zentimeter gewachsen – ging sie durch die Einkaufspassage ihres Weges, ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen. Sie fühlte sich fantastisch wie schon lange nicht mehr.
Allein wegen des Spaßes im Nachhinein stieg sie in die so eben eingetroffene Bahn. Auf zu neuen Dates!