Blumen der Erinnerungen
«Ameliaaa»
Da war sie wieder, die lieblich dröhnende Stimme von Miss Chamber, die begleitet durch das andauernde Gepolter an der Tür in mein Zimmer drang.
«Steh auf oder willst du schon wieder das Frühstück verpassen», das klang wie eine Frage, war es aber nicht. Diesen dezenten, aber scharfen Unterton habe ich sehr früh gelernt zu verstehen, aber er entlockte mir noch immer ein leises, hasserfülltes Knurren.
Ich drehe mich wieder um und schliesse meine Augen.
Besser ohne Frühstück als auch nur eine Minute mehr ausserhalb meines Zimmers.
Es gibt Tage, an denen ich einfach im Bett bleibe oder am Boden auf dem rauen, abgenutzten Teppich liege und an die Decke starre, ohne grossen Sinn, ohne über irgendetwas nachzudenken, einfach da liegen, bis es draussen wieder dunkel wird.
Diese Tage sind die besten in diesem trostlosen Drecksloch. Leider überwiegen immer noch diejenigen, an denen mich Bilder heimsuchen. Bilder von meinen Eltern, die sich anschreien nachdem mein Vater wieder mal völlig betrunken nach Hause kam. Mein Bruder, wie er auf dieser Brücke steht, dieser verdammt hohen Brücke. Oder meine Mutter, wie sie mich durch den Rückspielgel ansah und mir sagte, ich soll die Augen schliessen, kurz bevor uns der Laster traf.
All diese Momente, immer wieder tauchen sie vor meinen Augen auf und immer sind sie so grausam wirklich und endgültig. Und immer wieder aufs Neue bringen sie diese tiefe Einsamkeit, die mich langsam, aber sicher zerfrisst.
Langsam öffne ich meine Augen wieder.
Wann bin ich aufgestanden? Hm, auch egal.
Meine Augen schweifen in dem kleinen, dunklen Zimmer umher. Nicht gerade was man eine Luxussuite nennen würde, aber es ist fernab von allen anderen, das reicht.
Schliesslich bleibt mein Blick wieder einmal an dem alten ledergebundenen Buch hängen.
Geistesabwesend streiche ich darüber und schlage die erste Seite auf:
Für Amelia
Auf dass du immer unser heiterer Sonnerschein bleibst
Diese Worte treiben mich immer noch an den Rand der Verzweiflung und ich spüre wie meine Augen anfangen zu brennen und mir damit die Tränen ankündigen, die bald über mein Gesicht laufen.
Damals war alles gut gewesen, keine Schreie, keine dunklen Gedanken, nur meine Eltern, mein Bruder und ich, vereint…glücklich.
Ich zwinge mich umzublättern.
Auf jeder Seite befindet sich eine Blume, die für einen wichtigen Menschen steht. Meine Mutter war ganz versessen auf Blumen und ihre Bedeutungen.
Die Erste ist ein Vergissmeinnicht. Sie ist die Einzige, die seit Beginn an ihrem Platz ist.
Liebe und Treue, ungewöhnlich als ein Geschenk für die eigene Tochter, aber damals sehr passend.
Ich überspringe ein paar Seiten, insgeheim will ich nur eine sehen. Matt leuchten mir die weissen Blätter der Kamille entgegen.
“Lorina” seufze ich.
Sie war die Einzige hier, die mich verstanden und mir geholfen hat und jetzt ist sie weg. Abgeholt. Aus heiterem Himmel.
Viel zu gut erinnere ich mich noch an die Tage mit ihr. Einfach unter dem Baum im Gras liegend, aber nicht alleine, nicht an nichts denkend, sondern mit ihr die mich im Arm hielt und mit mir über unsere Träume, Ängste oder den neusten grässlichen Fummel von Miss Chamber philosophierte.
Was würde ich nur dafür geben, sie wiederzusehen und doch hielt mich eine gewisse Angst seit Wochen davon ab, zu der Adresse zu gehen, die ich heimlich aus dem Büro der alten Schachtel gestohlen habe. Es hat lange gedauert, bis ich endlich wusste wo suchen und jetzt liegt der Zettel in der Schulblade meiner Kommode.
Eine Weile schweifen meine Gedanken noch um das bedeutende Stück Papier, bis ich den Entschluss fasse, dass ich nicht mehr länger hier versauern will. Ich will sie wiederfinden, nein, ich muss sie wiederfinden.
Ich packe die wichtigsten Sachen zusammen, was nicht gerade viel ist.
Etwas Geld, Kleidung und das Buch, mehr gibt es nicht.
Am Abend stehe ich vor meiner Tür.
6 Uhr, die anderen sind am Essen. Dunkel ist es bereits. Das wird mir helfen, unbemerkt zu bleiben.
Leise und vorsichtig schleiche ich die Treppe hinunter und bin auf jeden Schritt bedacht.
Als ich nach einer gefühlten Ewigkeit vor dem Haupttor stehe, atme ich noch einmal tief durch.
Los geht’s.