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Blut zu Blut, Fleisch zu Fleisch
„Mann oder Frau?“
„Mann, du Vollidiot!“
„Hübsch oder hässlich?“
„Egal, aber kräftig muss er sein.“
„Ich muss noch mal schauen, warte.“
„Wie sieht’s jetzt aus?“
„Ja, kräftig … einigermaßen. Sieht gut aus. Nicht zu alt.“
„Dann schnapp ihn dir. Beeil dich, bevor es mit mir zu Ende geht.“
Phillip irrte nun schon mehr als zwei Stunden durch diesen beschissenen, dunklen Wald und seine Füße schmerzten in diesen verdreckten, normalerweise weißen Turnschuhen. Die Sonne schien zwar und es war erst kurz vor sechs Uhr abends, aber dieser Irrgarten aus Bäumen war trotzdem ziemlich dunkel und es wurde immer düsterer. Die plötzlichen Vogelgeräusche jagten ihm jedes Mal einen Schrecken ein. Dazu kamen auch noch diese anderen Geräusche, die sich anhörten, als würde jemand trockene Äste zerbrechen, die besonders laut knackten.
Wieso hatte er sich nur auf diese Wandertour mit seinem Kumpel Axel eingelassen? Zwei Stunden und er hatte immer noch keine Zivilisation entdeckt. Axel war nach drei Stunden wandern einfach verschwunden. Vermutlich musste er austreten und Phillip hatte es nicht bemerkt, aber dann hätte Axel doch nach ihm gerufen. Irgendwo piepste etwas. Es klang fast, wie der Klingelton eines Mobiltelefons.
„Haaalloo!“, schrie er plötzlich verzweifelt. Er wollte hier weg, jemanden finden, der ihm den Weg zeigen oder deuten konnte. Plötzlich hatte er das verlangen, aus diesem Wald so schnell wie möglich zu verschwinden. „Hallo!“
Keine Antwort.
„Hast du ihn?“
„Nein.“
„Wieso dauert das so lange?“
„Weil er nie mit dem Rücken zu mir steht. Hör auf anzurufen, er hört das verdammte Handy.“
„Beeil dich, die Zeit wird knapp.“
„Verdammte Scheiße“, murmelte Phillip und ging weiter. Blätter knirschten und Äste zerbrachen unter seinen Füßen. „Du bildest dir schon Handys ein.“ Er lächelte. Seine Lippen und sein Kinn fühlten sich etwas taub an, aber er schwitzte wie ein Schwamm der ausgewrungen wird. „Scheiß Wald, scheiß Vögel … und scheiß Schweiß.“ Er wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn und trocknete die Feuchtigkeit an seiner Haut dann an seinem Hemd ab. „Scheiß Alpen.“
Wieder ein lauter Knall hinter ihm, als hätte jemand einen trockenen Ast zerbrochen. Ruckartig drehte er sich um und sah wieder nichts. Letztes Mal war der Knall allerdings vor ihm gewesen. „Ich lauf im Kreis, scheiße.“
Ja, scheiße. Alles ist scheiße. Kennst du auch ein anderes Wort? Immer scheiße, mach dir lieber Sorgen, was da hinter dir her ist.
„Da ist nichts hinter mir her“, murmelte er und stieg über einen umgefallenen Baum. „Schwachsinn. Scheiße.“ Er grinste.
Oh, doch. Denkst du etwa, ich bin der paranoide Teil deines Verstands? Wenn ja, bist du ziemlich blöd. Ich würde mich eher als den vernünftigen Teil bezeichnen.
„Vernunft, von wegen.“
O, von wegen? Sei doch wenigstens ehrlich zu dir selbst. Denkst du wirklich, Axel ist pissen gegangen und hat dich vergessen oder du ihn? Nein, nein, so einfach ist es nicht. So schnell verliert man sich nicht, er hätte gerufen.
„Sicher.“
Ignoranz ist scheiße.
„Ich weiß.“
Es war anstrengend durch den riesigen Wald zu trotten. Immer wieder musste Phillip über umgestürzte Bäume, Büsche oder Brennnesseln steigen, riesigen Buschbarrikaden ausweichen und versuchen seine Richtung zu halten. Er hatte schon bemerkt, dass er keine gerade Linie verfolgte, aber einigermaßen orientieren konnte er sich wohl. Und der Schweiß floss in Strömen.
Knack, Krrcks. Schritte hinter ihm. Phillip wirbelte herum. Nichts. Niemand stand hinter ihm. Niemand wartete mit einem Jagd- oder Fleischermesser darauf, dass er sich umdrehen würde, um ihm dann die Kehle durchzuschneiden. Ein Vogelschwarm fegte über den Baumkronen dahin. Gezwitscher, Flügelschläge und andere Geräusche hallten durch den Wald und verhallten langsam.
„Verdammt“, flüsterte er ängstlich.
Was, wenn es ein Bär ist?
„Ein Bär?“, fragte er sich selbst ungläubig. „Ein Scheißbär in den Alpen?“
Ja … gibt’s hier welche?
„Was weiß ich, ist mir auch egal, ich will hier weg, okay?“
Ganz deiner Meinung, Phil.
„Vielleicht Holzfäller …“
Nein, nein, bestimmt nicht –
„Doch“, sagte er fest entschlossen. „Das heißt Hilfe.“
Denkst du wirklich, dass Holzfäller so tief im Wald arbeiten?
„Ja, denke ich“, antwortete er.
Er drehte sich um und bevor er etwas erkennen konnte, spürte er einen harten Gegenstand hart gegen seine Schläfe knallen. Schwärze.
Schweiß, Kopfschmerzen und ein Geruch von Pisse umhüllten ihn. Das Pochen in seinem Kopf fühlte sich eklig an, als würde sein Herz nicht in seiner Brust, sondern an Stelle seines Hirns schlagen. Der Geruch wurde schlimmer und er bemerkte die Feuchtigkeit zwischen seinen Beinen.
Er war gefesselt. Seine Hände hinter der Stuhllehne zusammengebunden und seine Fußgelenke an die Stuhlbeine geknotet.
Guck in was für eine Scheiße du geraten bist.
„Danke für den Rat“, murmelte er mit rauchiger Stimme. „Echt hilfreich.“
Erst bog er seinen Kopf nach rechts, dann nach links, um die Verspannung etwas zu lösen. Dann öffnete er die Augen.
„Scheiße!“, schrie er so laut seine Lunge es ihm erlaubte. „Fick dich doch! Scheiße!“
Ihm gegenüber war jemand anderes an einen Stuhl gefesselt, der nicht so lebendig zu sein schien wie er, denn ein riesiges, blutiges Loch befand sich an der Stelle, an der das Gesicht des Mannes hätte sein müssen. Sein Hemd war rot gefärbt, das Blut war schon so gut wie getrocknet. Sein rechtes Bein schien gebrochen zu sein, weil es abartig verdreht war. Phillip drehte den Kopf nach rechts und übergab sich. Sein Mund war nicht zugebunden, er erbrach seine letzte Mahlzeit. Ein halbverdauter, zerkauter Döner gemischt mit Magenflüssigkeit und Cola.
Der Raum in dem er sich befand war nicht groß. Es war heiß darin, das einzige Fenster (nur ein winziger Quader) war geschlossen und der Geruch des Todes versetzte Phillip in Übelkeit und Ekel. Er wusste, wer der tote Mann war: Axel. Er hatte schon zuvor geahnt, dass Axel sich nicht zum Pinkeln abgesetzt hatte, sondern entführt wurde, aber so sah es nicht aus. Kein Mensch kann so brutal und bestialisch sein und einem Mann das Gesicht so entstellen. Phil wollte nicht wissen, ob das mit Axels Bein ein Unfall oder Absicht war. Es war ihm egal, tot ist tot, jetzt musste er an sich denken, nicht an seinen toten Kumpel. Aber er musste immer wieder hinsehen. Die Leiche zog seinen Blick an, wie Scheiße die Schmeißfliegen.
Du bist in Lebensgefahr, denk nach!
„Scheiße, stimmt“, flüsterte er. Sein Hals war trocken, seine Augen schmerzten, sein Hirn pochte. „Denk nach.“ Aber wie? „Keine Ahnung, aber du musst.“
Hinter ihm klimperte etwas, dann klackte und danach knallte es.
Phillip spürte, wie es plötzlich in diesem kleinen Raum kälter wurde, als hätte jemand die Klimaanlage angeschaltet. Er konnte seinen Atem in Form von kleinen Dunstwölkchen sehen, seine Finger fühlten sich taub, abgestorben an und dieses Etwas hinter ihm jagte ihm eine Heidenangst ein, die nicht einmal die Leiche ihm gegenüber erzeugen konnte.
Ein hässliches Geräusch drang an Phillips Ohren, als würde man Metall auf Metall reiben. Schleifen … Ein Messer schleifen.
„Wie heißt du?“, fragte eine raue Stimme.
Phillip schwieg. Antworte! Es ist nicht der richtige Zeitpunkt, den harten Mann zu spielen!
Aber er hörte nicht auf seinen Verstand.
„Wie heißt du?“, wiederholte die Stimme, diesmal aufbrausender als zuvor, fast brüllend.
„Phillip“, stammelte er hastig. Kill Bill, Kill Phil …Scheiße.
„Bist du ein Junkie?“, fragte die Stimme ruhiger als zuvor.
„Nein“, antwortete Phil und hob den Kopf ein wenig. Er schniefte und atmete tief ein. „Nein, bin ich nicht.“
„Warum zitterst du dann?“
Weil du Angst hast …
Sag ihm das bloß nicht!
Warum nicht? Er bringt mich so oder so um. Vielleicht kennt er so etwas wie Mitgefühl oder Schuld –
Nein!
„Kalt“, sagte Phil schließlich. „Mir ist kalt.“
„Ich weiß, dass ich nicht gerade der Schönste bin, dass ich bei Die Schöne und das Biest das Biest spielen würde, aber musst du mir das unbedingt auf die Nase binden!“, schrie die Stimme schrill. Die letzten vier Worte wurden so hoch ausgespuckt, dass Phillip dachte, das Glas des kleinen Fensters würde zerspringen.
„Nein, nein“, stotterte er. „Nein, mir ist kalt.“
„Oh ja! Weiß ich schon!“
„Aber –“
„Aber? Aber du hältst jetzt lieber die Klappe und lässt mich meine Arbeit machen, klar?“
„Klar …“, entgegnete Phil schwach und leise. Er lehnte den Kopf zurück und blickte in ein von Narben gezeichnetes Gesicht. Ein Auge war nur noch eine blassweiße Kugel, die Nase nur noch ein schwer erkennbarer Schemen, der Mund ein zweigeteiltes Etwas, dass wie die Lippen eines Löwen aussah. Scheiße!
Der entstellte Mann ging um den Stuhl herum und stellte sich vor Phil, der sich wieder nach vorne beugte. Am Körper trug der Fremde nur alte, vergilbte Fetzen. Seine Hände waren schmutzig schwarz von Erde, an den Füßen trug er nur noch schwer als Lackschuhe erkennbare Bekleidung und in den Händen hielt er ein langes Tranchiermesser und einen Schleifstein. Die Klinge glänzte trotz der Verschmutzung schwach im Sonnenlicht.
„Was wollen Sie?“, fragte Phil, dem der Schweiß in Strömen die Schläfen und die Stirn hinunter rann. „Was wollen Sie?!“
„Ich will alles“, antwortete der Mann ruhig und lächelte, wenn man das, was er tat, überhaupt als Lächeln bezeichnen konnte.
Hmm, schwer zu sagen. Versuch dich rauszureden, sonst bist du auch immer so gut darin.
„Hören Sie, lassen Sie mich gehen“, stammelte Phil. „Ich bin nur wandern gegangen, Sie verwechseln mich bestimmt.“
„Wieso verwechseln? Wer bist du?“
„Ich bin Phillip Neuk.“
„Neuk sagst du?“
„Ja“, sagte er hoffnungsvoll, denn der Mann mit dem Messer schien nachzudenken.
„Neuk“, wiederholte dieser. „So eine verdammte Scheiße! Du bist Neuk? Ja, Mann! Ich hab dich verwechselt. Stimmt. Ich dachte du wärst Phillip Phil Philler!“ Der Mann mit den Narben lachte laut auf, was sich anhörte, als würde man ununterbrochen Gläser zerbrechen. „Boah, das tut mir aber leid!“
Der große Kerl holte weit mit dem Schleifstein aus und traf Phil hart an die Schläfe. Schwärze. Wieder Ohnmacht. Dunkelheit.
Starke, pochende Kopfschmerzen durchzuckten Phils Kopf in regelmäßigen Abständen. Sein gesamter Körper schien zu pochen, als wäre er ein menschengroßes Herz. Er schlug langsam die müden Augen auf. Die unangenehme Wärme in diesem kleinen, übel riechenden Raum brachte ihn zum schwitzen.
Die stinkende Leiche mit dem Loch, das so groß wie eine CD war, im Gesicht und dem gebrochenen, abartig verdrehten Bein, saß immer noch auf dem Stuhl ihm gegenüber. Das bisschen Sonnenlicht, das durch das kleine Fenster einfiel war schwächer geworden.
Verdammt, dachte Phil und ließ den Kopf hängen.
Er konnte seine Beine nicht spüren. Er konnte sie nicht spüren, weil an der Stelle, an der sie eigentlich hätten sein müssen, nur noch zwei blutende, fleischige Stümpfe waren.
„Hurensohn!“, schrie er impulsiv und wütend. Es schmerzte nicht, aber er wollte schreien und diesen Verrückten umbringen. „Verdammtes Arschloch!“ Er zerrte und riss an den Handgelenk fesseln, konnte sich aber nicht befreien. Vor einigen Stunden war er noch schwitzend durch das Dickicht gewandert und wollte so schnell wie möglich nach Hause und jetzt saß er gefesselt auf einem Stuhl wahrscheinlich in einer Jagdhütte fest und irgend so ein Verrückter hatte ihm die Beine amputiert. Verdammt!
Hinter ihm klimperte und klackte es, dann konnte er schlurfende Schritte und zum Schluss ein lautes Knallen hören.
„Scheiße!“, schrie die gerade eingetroffene Person. „Verdammte Scheiße!“
„Du Hurensohn!“
„Halt’s Maul!“
“Du verfickter Hurensohn hast mir meine Beine abgesägt!“
„Halt’s Maul!“
Die beiden Stimmen überlappten sich:
„Du verdammter Wichser!“ „Fick dich und halt dein Maul!“
„Willst du mich verarschen? Was hab ich dir getan?!“
„Sei endlich still!“
„Nein!“, schrie Phil und sah den Mann, der ihn mit dem Schleifstein K.O. geschlagen hatte, an. „Nein, bin ich nicht ... äh ... ey, komm schon, Mann, lass mich gehen.“ Phil schnaufte. "Bitte ... Ich ... Ich will doch nur weg."
Stillschweigend sah der Mann mit dem vernarbten Gesicht Phillip betroffen an. Anscheinend war er wütend und etwas verwirrt, warum auch immer.
Der Irre hob die zur Faust geballte Hand zu einem Schlag. „Nein!“, schrie Phil, aber es war zwecklos. Wieder traf er ihn hart auf die Schläfe. Dunkelheit. Er musste sich so langsam an die Ohnmacht gewöhnen oder einen Gehirnschaden davontragen.
Wieder erwachte er, aber diesmal war er nicht mehr gefesselt, sondern frei und nicht mehr in diesem stickigen Raum, am liebsten wäre er davongelaufen, aber das konnte er nicht. Inzwischen herrschte Nacht über das Land, Dunkelheit hatte die Schatten verschluckt und zu einem einzigen großen verschmolzen.
„Wo bin ich?“, fragte Phil und sah sich etwas um. Sein Nacken schmerzte. Feuerschein beleuchtete dieses baumfreie Plateau, auf dem sie sich befanden. Mehrere Menschen standen um das Feuer herum. Alle sahen fast so aus wie der Mann, der ihn entführt hatte. Narben, alte, fast verrottete Kleidung, aber dieser, der Phil mehrmals ohnmächtig geschlagen hatte, trug zerfallene Lackschuhe. Er musste einmal in der Zivilisation gelebt haben, aber jetzt war er nur ein Hinterwäldler, der Menschen wie Phillip entführte.
„Was hast du vor?“, fragte Phillip ängstlich und sah ihm in die Augen.
„Ich muss nach so viel Anstrengung erstmal einen Happen essen“, erklärte er und ging hinüber zum Feuer. Ein Mann in einem Rollstuhl kam zu ihm herübergefahren.
„Hey, du Penner!“, rief er. „Wie geht’s? Bist du krank?“
„Ich hab keine Beine!“, sagte Phil in flehentlichem Tonfall.
„Ja, das kenn ich.“
„Was heißt, das kennen Sie?“
„Guck dir das an!“ Der Mann im Rollstuhl hatte eine Strickdecke über seinen Beinen liegen, die er nun abnahm. Er trug Phils weiße Turnschuhe. Aber etwas stimmte nicht mit seinen Füßen. Sie waren verdreht. „Der Penner hat mir dein linkes Bein rechts angenäht und das rechte links, so ein schwachsinniger Vollidiot, oder?“ Seine Stimme hörte sich an, als hätte er eine Luftballonladung Helium eingeatmet. Zwischen seinen Beinen lag ein schwarzes Handy.
„Aber –“
„Keine Zeit zum Reden“, widersprach der Mann im Rollstuhl. „Man soll doch nicht mit dem Schwein reden, das man schlachtet, um es später zu verspeisen, oder?“
Stille.
„Ihr könnt ihn euch schnappen!“, rief der Mann ihm Rollstuhl der Gruppe zu, die um das Feuer herumstanden. „Wir lassen es uns schmecken.“