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Blutbadzeremonien
Nein, ich habe nicht vergessen, was der Frühling ist und wie Kinderlachen klingt. Momentan stehen keine Kindergeschichten an, tut mir Leid.
Nein, meine Exfrau hat damit nichts zu tun. Sonstige Bekannte, Polizisten oder das System ebensowenig.
Ob ich zurzeit grössere Probleme hätte? Mit Journalisten manchmal! Und überhaupt, was geht Sie das an?
Ja, natürlich bin ich Satanist. Überdies ernähre ich mich öfters von Kindern. Ist köstlich, kann ich Ihnen empfehlen. An meinen schwarzen Messen gibt’s die Zartesten und Jüngsten.
Hören Sie mal: Ich bin nicht der einzige Horrorautor der Welt. Dass ich früher Kindergeschichten geschrieben habe, ist reiner Zufall. Manchmal ändert sich das Leben, die Ursachen dafür müssen nicht immer aufgedeckt sein, verdammt! Vor allem dann, wenn es keine nennenswerten gibt. Geht das denn nicht in Ihren Kopf?
Nein.
Ich der Brutalste von allen? Wollen Sie das behaupten? Schön für Sie...
Nein, wirklich nicht.
Nein!!!
Wissen Sie was? Schreiben Sie doch in Ihrem Bericht, ich hätte den Verstand verloren, und jetzt lassen Sie mich endlich in Ruhe.
*
Natürlich hab ich nicht vergessen, wie ich vor einem Jahr noch geschrieben habe. Ich habe die Blüten im Frühling beschrieben, den Gesang der Vögel, die Liebe und die Freundschaft.
Die Presse ist schuld, wenn man glaubt, ich hätte irgend etwas Schreckliches erlebt und dadurch Geschmack am Horror gefunden. Journalisten sind allem Anschein nach der Ansicht, es sei für mich eine Art Befriedigung, immer wieder Wörter so zusammenzuwürfeln, dass sie dem Leser die schlimmsten Qualen bereiten.
Wenn ich aber die Wahrheit erzählte, würde man mir kein Wort glauben. Ich muss meine Rolle spielen und hinter dem Schein stehen: Ich bin Autor. Seit einem Jahr schreibe ich Horror.
Kein Wort von den Qualen, die ich leide, damit andere sie nicht erleiden müssen. Ich würde so gerne wieder Kindergeschichten schreiben!
*
Ich hielt mich in meinem Arbeitszimmer auf und grübelte gerade nach, auf welche Weise Andreas‘ Kinderliebe zu seiner Schulkameradin Mirjam in Erfüllung gehen könnte. Ich überlegte, was Kinder für romantische Orte hatten, wenn überhaupt, und wie ich der Handlung noch eine letzte, glückliche Wendung verleihen konnte.
„Der Schulbote“ hätte eine wirklich schöne Geschichte werden sollen. Ich wollte sie Marion, meiner Tochter, widmen; dankbar dafür, dass sie mir selbst nach der Scheidung mit Anna so viel bedeutete. Doch ich habe den Text bisher noch nicht zu einem Ende gebracht. Es fehlten noch etwa drei Abschnitte, als ich mit der Hölle konfrontiert wurde.
Soeben hatte ich diese Sätze in den PC gegeben:
Andreas riss das letzte Blütenblatt von der Margerite und fluchte. So ein Resultat konnte er nicht akzeptieren! Es musste, musste um der Wahrheit Willen verfälscht werden – „Sie liebt mich“, sagte er und grinste plötzlich über das ganze Gesicht.
Da hörte ich hinter meinem Rücken jemanden sagen: „Deine Geschichte ist dämlich!“ Erschrocken reisse ich den Stuhl herum und durchforsche hellwach das Arbeitszimmer – leer. Türe und auch Fenster sind verschlossen. Fahles Mondlicht vermischt sich mit der Nacht. Falter kleben und tanzen an den Scheiben. Wo verbirgt sich der Besucher? Hinter den Bücherregalen? Ich stehe auf und mache drei Schritte auf die Gestelle zu.
„Wer ist da?“ Keine Antwort. Vier, fünf... sechs, sieben Schritte – floh da soeben etwas in den Schatten? Nein – acht. Die Dunkelheit bewegt sich. Neun. Weicht sie meinem Schritt? – oder meinem Blick?
Ich schritt ein Regal nach dem anderen ab. Zwischen den letzten beiden lagen zwei meiner Bücher am Boden, ich stellte sie zurück an ihren Platz und achtete dabei, keinen Lärm zu machen. Zwei oder drei endlose Minuten lang verharrte ich zwischen den zwei Gestellen. Just als ich mich wieder, mehr oder weniger beruhigt, dem Laptop zuwenden wollte, ertönte im Waschbecken ein Geräusch. Ich horchte auf. Es dauerte an. Es war ein grobes, gefühlloses Kratzen – und mit jedem Herzschlag wurde es lauter. Ich versuchte, meinen Körper unter Kontrolle zu halten. Doch schon nach vier oder fünf Sekunden begann ich zu zittern.
Plötzlich brach das Kratzen ab. Stille.
War ich meiner Phantasie zum Opfer gefallen? Der Gedanke vermochte mich nicht zu beruhigen. In meinem Zimmer war jemand. Ich spürte es; spürte ein Prickeln auf dem Handrücken und eine schleichende Kälte im Nacken, die mit jedem Atemzug tiefer den Rücken hinunterkroch.
Plötzlich bewegte sich etwas hinter den Bücherregalen. Die Schatten. Sie weiteten sich aus und stiessen ins Licht vor. Die Glühbirne in der Mitte des Raumes pendelte und büsste mit jedem Hinundher an Strahlung ein. Im Zimmer wurde es dämmerig.
Mein Blick fiel auf den Spiegel über dem Waschbecken. Er sah aus wie ein Fenster, mit dem Unterschied, dass durch die Fenster wenigstens Mondlicht schimmerte.
„Wir mögen die Scheisse nicht, die du schreibst.“ Der Satz kam aus dem Waschbecken. Ich fuhr zusammen. – „Wir können deine Art, die Wahrheit zu verdrehen, nicht ausstehen.“
„Du benimmst dich wie ein verdammter Engel.“
„Du verheimlichst den Mächtigsten in deiner Geschichte.“
„Der Mächtigste?“, fragte ich.
„Der Hirte aller schwarzen Schafe. Die Kraft, die aus dem Leid entstand.“
„Satan, wenn du so willst.“
Was ging hier ab? Und woher kamen diese Stimmen? Menschen? Wie der Klang im Ohr schmerzte! Nein, so etwas war unmöglich human. Aber... was sonst?
„Bevor wir diese Realität verliessen, waren wir auch Menschen“, erklärte eine klägliche Melodie.
„Wenn auch keine gewöhnlichen!“, fiel ein aggressiver Bariton dazwischen.
„Wir sind hier, um Blutbäder zu geniessen“, schlossen drei Stimmen simultan in grässlicher Kakophonie.
„Was... was meint ihr damit?“
Jetzt fühlte ich mich endgültig wie ein Schauspieler in einem Horrorfilm, kurz nachdem der Regisseur entschieden hat, anstatt Fiktion Realität zu drehen, damit die Angst echter wirkt.
„Es gibt nach wie vor zu viele Hugenotten!“, kreischte eine entstellte Frauenstimme. Sie wurde übertönt von einem johlenden „Die Juden, wo sind die Juden?“
Und dann ging’s durcheinander.
„Hat jemand von euch einen Kindergarten gesehen?“
„Es lebe die Guillotine! Alle Macht dem Wohlfahrtsausschuss!“
„Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer!“
„Wie wäre es mit hübschen Jungfrauen? Ich liebe Jungfrauen.“ Das war wieder der Bariton.
Als das Geschrei endlich abbrach, vernahm ich das Kratzgeräusch im Waschbecken.
„Was habt ihr vor?“, hörte ich mich fragen. Das ganze Szenario wirkte grotesk. Als würde ich bei klarem Verstand den Geist eines Wahnsinnigen kosten.
„Der Mächtigste hat uns ein Blutbad versprochen. Er hat uns erlaubt, in deinem Leben ein Massaker anzurichten.“
Meine Augen hatten sich ans abgedämpfte Licht gewöhnt. Ich konnte jetzt Gestalten ausmachen: Vage an Menschen erinnernde Bestien infernalischer Herkunft.
Sie sahen noch hässlicher aus, als ihre Stimmen klangen. Die Anzahl Extremitäten an ihren verstümmelten Rümpfen variierte. Ein Arm, sechs Arme; drei Beine, sieben Beine – ganz nach dem Zufallsprinzip. Ihre Augen wirkten, abgesehen von ihrer asymmetrischen Anordnung, durchaus menschlich. Das Körperhafte bestand aus einem weichen und fleischigen Leib. Eine Haut trugen die Wesen nicht – vielleicht war es dazu in der Hölle zu heiss. Die Köpfe hatten menschliches Format. Aus manchem Schädel, einer Augenhöhle oder einem Mund wuchsen und wucherten seltsame Glieder, die entfernt an Schnäbel, Krallen, Fangarme oder Krebszangen erinnerten.
Ich zitterte am ganzen Leib. „Wollt ihr mich töten?“
„Wir sind hierher gekommen, um ein richtiges Blutbad zu erleben. Wie in guten alten Zeiten.“
„Doch wir haben schon ein gewisses Alter und ziehen die Tribüne der Bühne vor“ Die Worte klangen, als wären sie ohne Zunge entstanden.
„Du sollst entscheiden: Willst du lieber massakrieren, statt massakriert zu werden?“, fragte ein dumpfer Bass.
Ich brachte kein Wort über die Lippen.
„Und? Nichts? Dann fassen wir dein Schweigen als Ja auf.“
„Nein, Swiarha, das reicht nicht!“, brüllte sogleich der Bariton, „wir brauchen sein Wort.“ Dann richtete er sich wieder an mich: „Versprich uns klar und deutlich, dass du uns unterhalten wirst!“
„Versprochen.“ Ich hoffte, dass die Dämonen nun endlich verschwinden würden.
„Laut und deutlich!“
„Versprochen!“
Ich schlug die Hände vor meine Augen und wiederholte abermals „Versprochen!“ In Sekunden musste der Spuk vorbei sein.
Irrtum. Sie stürmten von allen Seiten auf mich los. Ich fiel um. Zwei von ihnen setzten sich auf mich, während andere meine Hände und Füsse auf den Boden pressten.
Eines der Wesen steckte mir seinen glitschigen Kopfanhang in den Mund. Ich würgte und versuchte vergeblich, ihn wieder auszuspucken. Aus dem Organ begann Luft in meine Lungen zu strömen. Der Tentakel hatte den Geschmack fauler Eier und vergammelter Milch. Ich hatte alle Mühe, gegen den Brechreiz zu kämpfen.
Eines der Monster schnitt mir das T-Shirt vom Leib. Eine skalpellscharfe Kralle schnitzte mir die Haut über der Brust auf, trennte Muskelfasern und drang bis an meine Rippen. Der Schmerz betäubte alle Empfindung. Ich sah und hörte nichts mehr.
*
Nach Stunden erwachte ich aus einer Ohnmacht. Ich lag auf dem Boden neben den Bücherregalen. Der Lexikonband 16 mit den Buchstaben Ro-Ta lag auf meiner Brust. Ich hob ihn weg und riss dabei etwas Blut mit, das daran klebte. Eine Seite war herausgerissen und quer eingelegt: scha – sche – schi – scho – schu – schy.
Mit Mühe stand ich auf. Ich torkelte zum Waschbecken, hob den Blick. Was genau hatten die Ungeheuer mit meiner Brust gemacht?
So grässlich das Mal war, es schien ein Muster, ein Bild zu haben. Ich wusch das noch feuchte Blut mit meiner linken Hand ab. Zwei Wörter, im Spiegel verkehrt, traten hervor. Auf meiner Brust stand „Schwarzes Schaf“ geschrieben.
*
Die folgenden Tage verbrachte ich in qualvoller Angst. Meine Gedanken kreisten immerfort um dasselbe Grauen. Wie waren die Dämonen zu mir gekommen? Brauchten sie ein Einfallstor, eine Ritze, einen Siphon, ein Schlüsselloch?
Was konnten sie künftig gegen mich ausrichten, wenn ich mich weigerte, ihr schwarzes Schaf zu sein?
Die Wunde auf meiner Brust wurde schnell zur trockenen Narbe. Meine Haut heilte ungewöhnlich schnell. Nur beim Niesen oder Husten schmerzte die Verletzung noch.
*
Zwei Wochen lang verliess ich mein Haus nicht. Die Dämonen erschienen von Zeit zu Zeit in meinen Träumen und verlangten eine blutige Vorstellung. Ich antwortete immer auf dieselbe Weise: „Das Blutbad ist in Vorbereitung, gebt mir noch etwas Zeit!“ Während jeweils diese Worte verklangen, wachte ich auf, schweissgebadet.
Natürlich war ich entschlossen, nie jemanden umzubringen, wie sie es von mir verlangten. Aber mir fehlte eine Alternative. Wenn sie nach wie vor bereit waren, mich zu massakrieren, war dies keine Lösung. Mein Leben an sich wäre kein allzu grosses Opfer gewesen. Doch mit meinem Leben wären wohl auch all die Leute verloren gewesen, die ich liebte: Freunde, Anna, Autoren, Verleger – und Marion.
Sie war fünf Jahre alt, ein wundervolles Mädchen. Sie hatte die guten Teile von Anna wie von mir geerbt, davon war ich überzeugt. Kein Wunder, dass sie im Einklang mit sich selbst und ihrer Umgebung lebte, während die Ehe ihrer Eltern nachträglich gesehen gar nicht mehr als Ehe betrachtet werden konnte.
In diesen Tagen dachte ich oft an sie. Im Traum hatten die schwarzen Schafe ein Massaker gefordert; vielleicht taten sie es auch bald wieder in der Realität. Konnte ich Marion aus dem Spiel lassen? Kannten die Dämonen meine Tochter?
Nach knapp zwei Wochen sah ich einen Ausweg. Ich erinnerte mich an den „Schulboten“, die Geschichte, die ich meiner Tochter hatte widmen wollen. Diese Wesen, die aus einer anderen Realität stammten, wollten Blutbäder miterleben. Sie wollten in Logen sitzen und den Anblick abgerissener Gliedmassen, ausgestreuter Eingeweide geniessen.
Diese Wesen verlangten, dass ich Menschen massakrierte, aber sie hatten nicht gesagt wie und wo.
Ich entschied mich, es in einer anderen Realität zu tun – in der Fiktion.
*
Ein Jahr lang lebte ich zwei Leben.
Ein Jahr lang hatte ich zwei Sorten Publikum. Das menschliche in der Welt draussen und das dämonische im eigenen Haus.
Die Dämonen liessen mich in friedlichem Schrecken. Ich sah sie nie, aber ich wusste, dass sie da waren. Manchmal kratzten sie im Waschbecken, verstopften die Zuleitung, machten den Spiegel blind oder rissen eines meiner Kinderbücher in Fetzen. Manchmal spürte ich sie bloss; fühlte ihren kalten Atem und ihren Blick im Nacken. Manchmal liess für einige Minuten das Licht der Glühbirne nach und es wurde dämmerig wie in der Überfallsnacht.
Ein Jahr lang sprachen sie nicht zu mir. Das einzige Wort zwischen uns stand auf meiner Brust geschrieben. Ich hütete mich, die Markierung zu zeigen. Ich hielt mich von Schwimmbädern und Stränden fern, verzichtete auf nahen Kontakt zu Frauen; ja, verzichtete allgemein auf die grosse Öffentlichkeit.
Von Tag zu Tag schrieb ich brutaler, von einer inneren Angst getrieben, die eine Hälfte des Publikums nicht zufrieden zu stellen.
Fünf Gefährten teilten Marlons Hobby, fünf andere liebten seinen Sport. Um zu spielen, brauchten sie einen Keller und Kinder. Es war einfacher als Würfeln, wirkte in seinen Varianten dennoch höchst interessant.
Heute spielten sie nicht im Keller, sondern im Wald. Der Aspekt des Versteckens gewann dem Ganzen einen zusätzlichen Reiz ab. Im Freien glaubten die Opfer, entkommen zu können, während sie wie Wild in die Enge getrieben wurden.
Die Kritik in der Menschenwelt nahm zu. Aber die konnte ich mir leisten. Meine Fangemeinde wuchs dennoch.
Marlon nannte das Stück Fleisch in seiner Hand „Mxan“. „Mxan“ war ein Bruchteil des Namens „Maximilian“, genauso wie das Stück Fleisch Bruchteil Maximilians war. Er fragte seine Gefährten, ob sie Fussball spielen wollten; tat auch so, als würde er Maximilian fragen, ob „Mxan“ der Ball sein wolle.
„Dein Schweigen ist uns ein Ja, Maximilian!“
Manche Kritiker wiederum lobten meine Gabe, äusserste Brutalität, die bei so vielen Autoren unfreiwillig komisch wirke, beängstigend realistisch darzustellen.
*
Das Spiel neigt sich dem Ende zu. Zwölf Monate habe ich darauf gewartet, von meiner furchtbaren Pflicht befreit zu werden. Vergeblich. Muss ich mein Leben lang ein schwarzes Schaf bleiben?
Die letzten drei Kurzgeschichten konnte ich meinem Verleger nicht geben. Sie wären selbst für hartgesottene Leser des Horrorgenres zuviel des Guten gewesen.
Wenn ich sie veröffentlicht hätte, würde man mich jetzt wohl für nicht mehr zurechnungsfähig halten. Alleine schon meiner Tochter wegen will ich nicht, dass die Öffentlichkeit mich für einen frei herumlaufenden Irren hält.
Ich habe die Geschichten in einem Zustand der Panik niedergeschrieben. Die Kratzgeräusche im Ohr, der kalte Atem im Nacken und das immer wieder schwindende Licht haben mich beinahe um den Verstand gebracht.
Wenn das Schreiben von Horrorgeschichten anfangs lediglich unangenehm war, so ist es jetzt anders: es macht mir Angst. Setze ich mich auf den Stuhl, beginnen meine Finger zu zittern, bevor sie auch nur in die Nähe der Tastatur kommen. Will ich tippen, verfehle ich die gewünschten Tasten. Lasse ich dann aber vom Schreiben ab, wird die Angst zur Panik; schreiend renne ich aus dem Zimmer, der kalte Atem dicht hinter mir. Plötzlich habe ich das Gefühl, als versuche er in mich zu dringen, als wolle er meinen Verstand benebeln. Manchmal gelingt ihm dies: manchmal bricht mein Widerstandswille zusammen, ich lasse mich zurück an den Arbeitstisch führen und schreibe Grausamkeiten.
Ist das mein Gesicht im Spiegel? Es sieht älter aus. So viele Schmerzen in jedem einzelnen Zug! Welche Qualen haben mich solchermassen verunstaltet?
Der Spiegel trübt sich und weicht zunehmend einem Loch. Es reicht sehr tief und erstickt das Licht.
Mein Auge gewöhnt sich ans Dunkel. Ich sehe die grässlichen Mutationen am Kopf meines Gegenübers. Ein schwarzes Schaf.
„Du hast uns ein Jahr lang betrogen“, zischt es.
Ich weiche einen Schritt zurück. Das Ungeheuer spricht weiter:
„Wir haben deine Geschichten satt. Wann kommt die richtige Vorstellung?“
Das tiefe Loch entblösst weitere Dämonen mit zornigen Fratzen. Sie kommen näher, versuchen sich an ihrem Frontmann vorbeizudrängen.
„Du kannst uns nicht entkommen.“
Krallen fuchteln aus dem Loch, versuchen mich zu fassen. Ich renne los, auf die Türe zu und mit voller Wucht in sie hinein.
Nun liege ich am Boden. Mein Arm ist unter der schmerzenden Brust eingeklemmt, meine Lippen küssen das staubige Parkett. Ein Bein am Bettrand eingehakt. Decke lichtschirmend über meinem Kopf. Noch kann ich die Stimme aus dem Traum hören: „Du kannst trotzdem nicht entkommen.“
Dann bin ich hellwach.
*
Die Flucht ist mir gelungen. Ich habe alles zu Hause gelassen, sämtliche Türen verschlossen und nur Geld mitgenommen, sonst nichts. Die Bücher, die ich im Jahr des Schreckens geschrieben habe, sind verbrannt.
Den Spiegel habe ich zertrümmert, die Glühbirne aus der Fassung gedreht und den Ausguss, so gut es ging, verstopft. Sie haben keinen Versuch unternommen, mich an all dem zu hindern, aber in meinem Kopf hörte ich sie brüllen und glaube sie auch jetzt noch zu hören.
Ob die Kruzifixe, die ich im Arbeitszimmer aufgehängt habe, etwas bewirken, bezweifle ich.
Jetzt muss ich weg; weit, weit weg.
*
„Papa?!“
Marion ist erstaunt, dass ich sie besuche. Anna auch, aber im Gegensatz zu Marion freut sie sich nicht. „Mein Gott, was ist aus dir geworden?“, fragt sie. Sie will keine Antwort, sie glaubt, sie weiss alles, wenn sie mich ansieht. Ich kann es ihr nicht verübeln.
„Ich wollte nur wieder einmal meine Tochter besuchen. Darf ich herein?“
Anna scheint etwas gegen das „meine“ vor Tochter zu haben, sagt aber nichts. „Ja, komm halt.“
Marion stellt viele Fragen, die ich allesamt vernünftig beantworte, ohne auch nur den geringsten Eindruck zu erwecken, es ginge mir nicht prächtig. Marion soll sich keine Sorgen machen. Ich freue mich, wenn sie sich freut. Irgendwann ist es an mir, Fragen zu stellen. Ich erkundige mich nach ihrem ersten Schuljahr, lasse sie ein paar Wörter lesen und frage, ob sie auch schon schreiben kann. Sorgfältig zeichnet sie ihren Namen auf ein Blatt und reicht ihn mir mit einem breiten Lächeln. Schliesslich drückt sie mir ein Buch in die Hände und verlangt, dass ich ihr vorlese. Am Schluss ergänze ich noch eine Kindergeschichte aus meinem eigenen Repertoire. Erst nach der Erzählung überreiche ich ihr die Puppen, die ich auf dem Weg gekauft habe. Sie nimmt das Geschenk wie meinen Besuch entgegen: mit viel Freude und etwas Erstaunen.
„Geht es dir gut?“, fragt Anna, nachdem Marion zu Bett gegangen ist.
„Eigentlich schon. Ich brauche allerdings eine Arbeitspause. Hatte eine schwierige Zeit mit vielen Schreibblockaden. Vielleicht gelingt mir irgendwann mal wieder ein Kinderbuch.“ Ich bezweifle es, aber sagen kann ich es trotzdem.
„Das wäre schön. Dann kann ich Marion mal wieder etwas vorlesen.“
„Oder ich selbst.“
Anna nickt. „Fährst du ins Ferienhaus?“, will sie wissen.
Das Ferienhaus ist eine halbe Fahrstunde von Annas Haus entfernt. Genau dort will ich hingehen und bleiben, falls ich mich sicher fühle.
„Ja, hab ich vor. Ich fahr noch heute Abend weiter.“
„Ist ja nicht so weit“, meint sie.
„Und wie geht’s dir?“
„Gut“, beginnt sie, erzählt Unwesentliches vom Alltag und deutet etwas von einem Freund an, den sie hat. Wird sie demnächst heiraten? Ich habe fast das Gefühl, als täte es ihr Leid, davon gesprochen zu haben.
„Freut mich für dich. Solange der neue Mann nett zu Marion ist, habe ich nichts gegen ihn.“
„Wieso sollte er etwas gegen Marion haben? Sie hat den besten Teil von mir und einen guten von dir geerbt.“ Schön, dass wir bei aller Distanz doch wenigstens in einem Punkte gleicher Meinung sind.
Zum Abschied gibt mir Anna die Hand.
*
Das Ferienhaus ist genau das, was ich brauche. Frische, kühle Luft, die Berge, das kleine Dorf in der Nähe – Rauschen des Baches und Vogelzwitschern. Es könnte ein Traum sein. Seit zwei Wochen lebe ich wieder frei. Noch nie habe ich die Einsamkeit so gut ertragen.
Die Narbe ist noch immer da und juckt von Zeit zu Zeit. Das bereitet mir keine Sorgen.
Zur Sicherheit habe ich im Badezimmer den Spiegel entfernt.
*
Die Tage hier oben haben mich geheilt. Die Luft, die Ruhe und der Boden haben ihre eigene Qualität. Ich könnte ewig wandern. Die Brust brennt, aber ich habe mich damit abgefunden; was soll denn eine Narbe anderes tun, als gelegentlich zu jucken?
Heute haben mich die Pfade durch einen Wald geführt, der gegen die Höhe ankämpft, über mehrere kleine Bäche getragen und schliesslich hierher, an einen kleinen, kahlen See gebracht. Eingebettet zwischen drei Gipfeln, lässt er sich kaum von Winden stören.
Sein Wasser ist klar und ruhig. Ich kann mein Spiegelbild sehen.
Nicht nur meines. Es sind noch andere da.
Gott, sie sind alle da!
Ich schreie. Ein Dämon mit eineinhalb Köpfen deutet in meine Richtung. „Da ist er!“ Übers Wasser klingt seine Stimme eigenartig dumpf.
Ich will aufstehen, kann aber keinen Muskel rühren. Ich glotze mein Gesicht an, es mutiert zu einer grässlichen Fratze.
„Er ist hier!“, brüllt die Fratze.
„Ist hier!“, antwortet eine Stimme in der Tiefe.
„Hiiieeer!“ Schrilles Gekreische, ganz nah.
Nun kommen sie auf mich zu. Gleich steigen sie aus dem Wasser – ich muss sie davon abhalten.
„Ihr verwechselt mich!“, krächze ich. Schon bereue ich diese Ausflucht.
„Hast du nicht unser Zeichen auf der Brust?“
Die Ungeheuer tauchen auf. Es sieht aus, als würden sie über dem Wasserspiegel schweben. Ich gerate in den Bann ihres Wesens. Die von Zehen bis zur Kopfhaut falsche Konstruktion ihres Körpers, die Kopfanhänge und ihr asymmetrischer Blick haben etwas Anziehendes und Abstossendes zugleich.
„Komm mit uns!“
Das Nein stirbt auf meiner Zunge. Ich kann meine Lippen nicht bewegen.
„Was willst du denn sonst tun?“, fragt der Eineinhalbköpfige.
„Du entkommst uns nie“, erklärt mir ein Geschöpf, dem ein aaliges Organ aus dem Mund hängt. Das Organ zappelt wie ein nach Freiheit ringender Fisch.
Ein Pochen im Hinterkopf. Der See dreht sich, kreist um mich herum. Imitiert von den Bergen. Ich will aufstehen, versuche mich zu orientieren. Drehsinn und Schweresinn versagen – ich stürze. Der See nimmt mich mit kalten Armen.
Wo sind die Dämonen?
Ich reisse den Kopf aus dem kalten Wasser, stehe auf und stolpere drei Schritte zurück.
Der See ist wieder so, wie ich ihn am Nachmittag angetroffen habe; eine durchsichtige Riesenpfütze. Mit meinem Sturz habe ich seinen Spiegel zerbrochen.
*
Nachts suchen sie mich in meinen Träumen heim und tagsüber rauben sie mir die Ruhe. Sie haben mich gefunden, sie demonstrieren ihre Anwesenheit.
Es gibt keine Hoffnung mehr. Ich bin sicher, dass meine Narbe den Dämonen immer zeigen wird, wo ich mich befinde.
Jede Flucht ist sinnlos, jedes Versteck schutzlos.
Ist es vielleicht noch eine Frage von Stunden, bis das Publikum auf die Bühne steigt und den Schauspieler lyncht, der nicht nach seinem Willen spielt?
*
Ich habe das Ferienhaus verlassen. Nun habe ich nur noch etwas zu tun: Marion besuchen. Danach fliehe ich ein letztes Mal – vor ihnen und vor dem Leben.
Ich schalte das Autoradio an, vielleicht erfrischt es meine Gedanken.
Irgendwo ein Geisterfahrer. Tante Soundso wird achtzig und wünscht sich daher ein Lied von den Beatles. Fünf Minuten Ablenkung.
Gleich nach den Beatles eine wichtige Mitteilung: Ein Irrer hat eine selbstgemachte Bombe in den Zoo geschmuggelt und nebst einem Pavian ein kleines Kind und dessen Mutter umgebracht. Anschliessend Selbstmordversuch des Täters: er klettert über das Gehege zu den Raubkatzen; kostet ihn linke Schulter und Oberarm, nicht aber das Leben. Scheusslich!
Ich wechsle den Sender.
Rammstein erklärt, dass wir alle in Amerika leben. Schön für Amerika.
In zehn Minuten werde ich bei Marion sein. Da will ich glücklich aussehen – auch wenn ich so gut wie tot bin.
Ich blicke in den Rückspiegel. Die Strasse hinter mir ist frei. Im oberen Winkel des Spiegels aber bewegt sich etwas.
Um Himmels Willen, nein!!!
Strasse und Landschaft verschwinden aus dem Spiegel. Schwärze nimmt Überhand. Ich bremse, reisse den Spiegel von der Windschutzscheibe und will ihn aus dem Fahrzeug werfen. Ein fürchterlicher Schmerz an meiner Hand hindert mich daran. Ich lasse ihn zu Boden fallen. Nun muss ich ihn mit dem Fuss zerstampfen.
Zu spät. Die Dämonen sind da, strömen zu Dutzenden aus der Schwärze ins Auto.
Sind diese kleinen Biester meine Bedränger? Wirklich bedrohlich sehen sie nicht aus. Weshalb erklimmen sie mich nun?
„Dass wir heute anders sind, als normalerweise, hat natürlich seinen Grund.“
„Die Grösse des Spiegels spielt nur eine kleine Rolle.“
„Wenn wir so klein sind, können wir dich besser kontrollieren.“
„Mach keinen Fehler!“, befiehlt der Bariton. Ein halbes Dutzend kriecht unter mein T-Shirt. „Sonst wirst du gehäutet und kastriert.“
Eines der Ungeheuer hält sich tatsächlich neben meinem Glied auf. Aus seiner rechten Augenhöhle ragt eine Zange.
„Was habt ihr vor?“
„Reden.“
„Worüber?“
„Über dein Versprechen.“
Schon sind vier an meiner Brust. Sie quälen die alte Narbe, bis sie wie eine frische Wunde blutet. Sie erneuern die Schrift, ritzen Buchstaben für Buchstaben nach. Ich zucke vor Schmerzen.
Ich schlage meinen Kopf gegen die Fensterscheibe. Nochmals. Abermals. Das Tageslicht verglimmt vor meinen Augen. Alles entzieht sich meinem Blick: der Wagen, das Lenkrad, der Türgriff.
Mein Körper.
*
Dröhnende Kopfschmerzen. Leise Musik. Ich bewege mich – einen Finger, die ganze Hand, den Arm; den Kopf.
Sieben Uhr. Wie lange war ich bewusstlos? Eine Stunde, zwei? Es wird allmählich Nacht, ich schalte die Scheinwerfer ein. Wenn ich jetzt weiterfahre, werde ich in gut einer Viertelstunde bei Marion sein und dann kann ich mich endgültig von ihr verabschieden.
*
Wieso fahre ich eigentlich so nervös? Aus Angst nicht mehr rechtzeitig bei meiner Tochter anzukommen? Wann geht sie zu Bett?
Wieder Nachrichten. Aber ich verstehe beinah nichts. Die Stimmen reden durcheinander. Höre ich zwei Sender gleichzeitig? Nachrichten – im Hintergrund ein Gespräch... dumpfe, scheussliche Stimmen!
Wie soll er es machen? – Er soll ihr mit einer Schere den Hals aufschneiden. – Und wenn keine da ist? – Langsam erwürgen. – Aber zuerst soll er ihr die Augen ausstechen! – Gut. – Das Genick könnte er ihr brechen! – Langweilig! Er soll ihr doch einen Arm ausreissen. – Sehr gut! – Wenn er sich weigert? – Zwingen wir ihn.
Wollen sie mich Marion umbringen lassen? Umkehren. Auf keinen Fall darf ich – Mein Körper gehorcht nicht. Ich muss weiterfahren. Meine Hände zucken, wenn ich ihnen Befehle erteile. Ich kann den Fuss nicht vom Pedal lösen.
Bei diesem Tempo sind’s keine fünf Minuten bis zu Marion.
Gib die Hoffnung auf, es hat keinen Sinn. Wir haben dich ganz unter Kontrolle.
Das kann nicht wahr sein!
Sieh: Reiss dir die Wimpern aus!
Ich gehorche, führe meine Hand an mein linkes Auge und reisse an den Wimpern und weine dabei.
Nun bleibt mir nur noch eine Möglichkeit: Das Auto in einen Baum am Strassenrand steuern. Bei dieser Geschwindigkeit wird es mir das Leben kosten. Ich drehe abrupt nach rechts und reisse die Hände vom Lenkrad. Ich führe einen schmerzvollen Kampf gegen den fremden Willen, der meine Hände zurück ans Lenkrad bringen und die Kollision verhindern will. Und gewinne.
*
Mein Körper ist in den Trümmern zurückgeblieben. Ich bin am Ende. Ich habe mich lösen können.
Am Ende der Dunkelheit Licht. In der Ferne höre ich Stimmen der Harmonie, ich möchte mich zu ihnen begeben, eine von ihnen sein.
Doch ich darf noch nicht hin. Ich habe eine letzte Aufgabe zu erfüllen. Meine Tochter beschützen.
Ohne Gewicht ist mein Körper wie Wind. Ich bin Licht, Schatten und Gedanken. Schnell und leise.
Die lange Gefangenschaft hat meiner Seele Kraft gegeben.
*
„Ich habe dich lieb, Marion.“ Sie hört mich nicht, strählt sorgfältig eine ihrer Puppen und singt dazu ein Lied, das ich ihr einst beigebracht habe. Ich lege ihr die Hand auf die Schulter. Sie kann mich nicht fühlen, doch sie lächelt. Vielleicht denkt sie nun an mich.
Ich wünschte, sie müsste meinen Tod nie erfahren.
„Wir mögen es nicht, wie du deine Puppen behandelst.“ Die Stimme des Baritons wie ein Schwert, das Marions Ruhe durchtrennt. Das Lächeln erlischt in ihrem Gesicht. Sie steht auf, gafft in die Luft. Die Puppe entgleitet ihrer Hand und fällt auf den Boden.
„Du bist mit Spielzeug viel zu lieb!“
Die Dämonen umkreisen Marion.
„Puppen kann man wie Menschen köpfen, häuten, in Stücke reissen, ihnen die Augen auskratzen...“
Sie weint.
„...Verbrennen, erwürgen, elektrisieren, mit Säure übergiessen...“
„Wagt es nicht, meine Tochter anzufassen!“
Hätte ich das nur nicht gesagt. Schon schlurfen, kriechen und krabbeln sie auf mich zu. Wie stark bin ich? Wie stark ist meine Liebe zu Marion?
„Du weisst, dass du nur ein Werkzeug bist. Sehr dumm von dir, dich uns auszuliefern.“
Sie stürzen sich auf mich. Einer gräbt seine Krallen in meine Wunde und vergrössert die Buchstaben. Ein anderer zerrt an meiner Haut, dehnt mein Fleisch. Dann steigt der erste durch das W von „Schwarzes“ in meinen Körper. Ein anderer folgt durch das F von „Schaf“, ein weiterer durch ein A.
Ihr Wille ist Parasit in meinem Körper. Ich muss ihm widerstehen.
„Ich liebe meine Tochter!“
Die Worte entfachen ihren Zorn. Gut ein Dutzend Dämonen machen sich über die Wunde her und tauchen in mein fleischloses Fleisch, in meine substanzlosen Organe.
„Ich liebe meine Tochter!“
„Töte, wen du liebst!“ Der feindliche Wille versucht meinen zu verdrängen. Ich ignoriere ihn.
Die übrigen schwarzen Schafe kommen auf mich zu. Ihre Wut macht sie blind. Bemerken sie nicht, wie gerne ich mich ihnen hingebe? Sollen sie alle kommen; ich bin ihr Gefängnis, ihr Sarg.
Nun ist es Zeit, das Tor zu schliessen: Ich tauche meine Finger in die Wunde und arbeite an der Signatur. Ich drehe und verzerre die Buchstaben, bis sie den neuen Sinn ergeben. Aus dem schwarzen wird ein weisses Schaf.
Die Narbe werde ich immer tragen, ihre Bedeutung aber bin ich losgeworden.
*
Mein Körper ist wie ein Wind, der zwischen den Realitäten verkehrt. Der Spiegel in Annas Badezimmer führt mich in eine Dunkelheit. Am Ende dieser Dunkelheit wartet das ersehnte Licht. Diejenigen, die das Licht nicht zum Ziel haben, haben es zum Feind.