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Blutkreislauf
Herbes Wetter liegt über dem Gewerbegebiet. Ich sitze auf meinem Rad und lasse frischen Wind in mein Gesicht wehen. Es ist viel zu lange her, dass ich das letzte Mal so richtig draußen war.
Die Schilder mit den Firmenlogos ragen aus dem kargen Betonmeer, farbenfroh, optimistisch, dynamisch, glänzend; wie Bojen, um dem Blick Halt und Orientierung zu geben.
Es sind weniger geworden in den letzten Jahren. Dafür sind einige größer und prächtiger als früher.
Wie ein Wahrzeichen ragt der Kran in der Ferne auf. Selbst von der Innenstadt aus konnte ich ihn immer unermüdlich seine Drehungen vollführen sehen. Im vergangenen Jahr habe ich besonders oft hinübergestarrt. Wenn ich wieder einmal in der Fußgängerzone spazieren ging. Oder wenn ich ziel- und sinnlos vor dem Arbeitsamt umherschlenderte und mich fragte, was mir die Zukunft bringen werde mit diesem Berg von Raten, die noch auf das Haus zu bezahlen sind. Und mit diesem Ballast von 45 Jahren.
Aber jetzt ist Schluss damit. Wenn die Arbeit nicht zu mir kommt, muss ich eben zu ihr. Ich werde mich sofort persönlich vorstellen, ohne den ganzen Papierkram. Das macht Eindruck.
Auf den ersten Blick geht es auf dem Gelände der Transportfirma zu wie in einem summenden Bienenstock. Hektisch laden die Arbeiter alles mögliche Zeugs aus den Lastern und anderes Zeugs wieder rein. Erst auf den zweiten Blick sehe ich, wie perfekt die Bewegungen aufeinander abgestimmt sind. So perfekt, dass sie mich plötzlich an einen einzigen großen Blutkreislauf erinnern. Fast traue ich mich nicht zu fragen, aus Angst, die Harmonie dieses Werkes zu stören.
„Entschuldigen Sie, wo finde ich hier das Personalbüro?“
Der Angesprochene, irritiert blinzelnd ob der Unterbrechung, deutet auf ein kleineres Gebäude am anderen Ende eines Platzes, der von geparkten Lastern und dem Lager gesäumt wird. „Gleich hinter dem Eingang rechts entlang.“ Bevor ich mich bedanken kann, ist er schon wieder bei der Arbeit und würdigt mich keines Blickes mehr. Ich beeile mich, zwischen den Leuten hindurchzuhuschen, um nicht im Weg zu stehen.
Ein wenig gekränkt, aber immer noch beschwingt schreite ich die Reihen der Lastwagen ab. Glänzend, mit frisch poliertem Lack stehen sie bereit, ihre Pflicht zu tun, wenn sie gebraucht werden, denn auch sie sind Teil des Blutkreislaufs.
Weiß und kalt ragt das Verwaltungsgebäude vor mir auf. Ich versuche durch die Fenster der Räume zu blicken, die das Personalbüro sein könnten, aber es ist nichts zu sehen außer ein paar kränklichen Zimmerpflanzen, die so gar nicht ins Bild passen. Ich trete ein.
Angestellte hetzen in den Korridoren hin und her. Mit den Bürogeräuschen schwirren gedämpfte Gespräche zu mir heran. Alle klingen seltsam aufgeregt, und einmal flucht jemand laut, und für einen Moment wird es still. Dann gehen die Gespräche weiter, in demselben Ton wie zuvor.
Niemand sieht auf, als ich das Personalbüro betrete. Zwei Männer mittleren Alters sitzen vor den Monitoren, ihre Finger hacken lustlos auf der Tastatur herum.
„Entschuldigen Sie …“ Es scheint mir, als hätte meine Stimme Schwierigkeiten, die Luft zu durchdringen. Es dauert eine Weile, bis die Reaktion kommt.
„Schießen Sie los“, erwidert der Jüngere, ohne aufzublicken. In seiner Stimme liegt eine Bedrücktheit, die mich verwirrt.
„Ich habe gehört, dass hier vor kurzem eine Stelle als Fahrer frei geworden ist.“ Warum kosten mich die Worte plötzlich so viel Überwindung?
Der Ältere, ein grauhaariger, korpulenter Mann mit wässrigen Augen und traurig herabhängendem Schnurrbart, dreht sich träge zu mir um. „Und da dachten Sie, ‚Ich komme mal eben vorbei und frag an’?“ Er schüttelt den Kopf. „Wir bauen gerade Personal ab. Deshalb rennen die Jungen auch so durch die Gegend. Da können wir natürlich nicht mithalten.“ Er deutet ein trauriges Lächeln an und schaut zu seinem Kollegen hinüber, der sich nun ebenfalls umgedreht hat und mich aus leeren, müden Augen anstarrt. „Auch einer von uns beiden muss gehen.“ Er lacht humorlos. "Dabei ist die Auftragslage gar nicht mal so schlecht. Die da oben finden nur immer neue Wege, die Arbeit von noch weniger Leuten machen zu lassen." Eine Weile bleibt es still im Raum, und einen Moment geht ein wütendes Zucken durch das Gesicht des Jüngeren.
„Sagen Sie mal“, der Grauhaarige räuspert sich leicht, „es ist doch ein weiter Weg von den Wohnvierteln hierher. Warum haben Sie denn nicht angerufen?“ In seinem Blick liegt keine Neugier, nur Mitgefühl.
Was soll ich ihm sagen? Ich weiß es selbst nicht.
Die Menschen in den Gängen hasten grußlos aneinander vorbei. Immer haben sie einen Stapel Unterlagen an sich gerafft, ihre Gesichter wirken gehetzt, aber ihre Blicke sind seltsam nach innen gewandt.
Draußen steigt gerade ein Fahrer aus der Kabine eines Lasters, den er in die Reihe geparkt hat. Sein Gesicht sieht eingefallen und müde aus.
Mutlos trotte ich an den Reihen der Laster vorbei. Jeder von ihnen wartet auf seinen nächsten Einsatz, und man hat fast den Eindruck, als würden sie um die Wette glänzen, damit man ihnen eine Chance gibt. Einer nach dem anderen werden sie vergeblich warten und mit der Zeit jeden Glanz verlieren. Der Lack wird abblättern, und der Rost wird sie von innen zerfressen. Und dann wird man sie abstoßen.
Die Arbeiter sind immer noch mit Be- und Entladen, Ein- und Auspacken, Sortieren beschäftigt, aber für den Moment gibt es nicht so viel zu tun, und der Kreislauf sieht plötzlich nicht mehr so perfekt aus. Immer mehr stehen auf einem Fleck, und mancher tritt nur von einem Fuß auf den anderen, nestelt nervös an seinen Hosenbeinen und schaut zu den Arbeitenden hinüber, als gäbe es dort etwas Wichtiges zu beobachten. Niemand wagt es, sich eine Zigarette anzuzünden.
Es überrascht mich, wie fest meine Schritte plötzlich sind, und das, obwohl ich doch weniger Hoffnung habe als auf dem Hinweg.
Ich schwinge mich aufs Rad und kehre dem Gewerbegebiet den Rücken zu. Der Kran steht ohnehin seit Wochen still. Er ist nicht mehr Teil des Blutkreislaufs.
Ein eisig scharfer Wind lässt mich frösteln. Zum Glück weht er in Fahrtrichtung.